A cappella for Goal

Singen im Fußballstadion ist wohl die größte globale Singbewegung. Begonnen hat sie im Vereinigten Königreich
Im Herbst 1963 stand You’ll Never Walk Alone, ein von der Band Gerry and the Pacemakers adaptierter Musicalsong, vier Wochen auf Platz eins der britischen Charts. Zu jener Zeit war es üblich, dass die Fans in den englischen Fußballstadien vor den Spielen mit Top-Ten-Songs beschallt wurden. Auch in Liverpool, der Heimatstadt von Gerry and the Pacemakers. Deren Sänger Gerry Marsden besuchte regelmäßig die Heimspiele seines Lieblingsklubs Liverpool FC. Als er an einem Oktobertag 1963 etwas verspätet die Stufen zu den Traversen hochstieg, hörte er seinen Song – zu seinem Erstaunen gesungen von den Fans. So etwas hatte es vorher noch nie gegeben. Die Fancrowd hatte sich You’ll Never Walk Alone angeeignet und gab den Song nicht mehr her. Sie sang ihn fortan bei jedem Spiel an der Anfield Road. Dass die Fußballfans aus der Beatles-Stadt hingebungsvoll singen konnten, sah kurz darauf das ganze Königreich. 1964 war ein BBC-Fernsehteam nach Liverpool gekommen, um den eindrucksvollen Stadionchor zu filmen. Eine Aufnahme (auf Youtube zu finden) zeigt, wie Tausende Fußballfans a cappella She Loves You anstimmen. Der Massenchor aus jungen und alten Männern wogt im Rücken des Reporters hin und her. Sensationell!
Britische Fußballfans hatten allerdings schon Jahrzehnte zuvor eindrucksvoll im Stadion gesungen. Besonders am 23. April 1927 in Wembley rund um das Cup-Endspiel zwischen Arsenal London und Cardiff City, das als „Singing Final“ in die Annalen einging. Dahinter verbarg sich ein Phänomen, das in den 1920er Jahren auf der Insel weitverbreitet war: Community Singing. Gemeinschaftliches Singen sollte der Gesellschaft, die nach den Kriegsschrecken und durch die wirtschaftliche Not sozial gespalten war, ein Stück weit Zusammenhalt geben. Gesungen wurden Weltkriegslieder und moderne Volkslieder, die eine Sehnsucht nach „merrie olde England“ ausstrahlten. Das Überschwappen der musikalischen Nostalgiewelle wurde organisiert vom Daily Express. Die Zeitung hatte in der Saison 1926/27 mit viel Tamtam eine Kampagne zum Community Singing in den Fußballstadien gestartet. Zettel mit den Songs lieferte sie gleich mit, auch für das Wembley-Finale 1927. Die Pressebeobachter zeigten sich von den singenden Fans schwer angetan. Sie priesen sie als die eigentlichen Gewinner des sportlich schwachen Finales, das Cardiff 1:0 gewann. Totale Rührung befiel sie, als die von einem Dirigenten auf einem großen Podest angeleiteten 90.000 Zuschauer kurz vor Matchbeginn den Choral Abide with Me anstimmten. Der Massengesang ist sogar auf Schallplatte konserviert. Obwohl kein Football Chant, ist das 1847 von Henry Francis Lyte verfasste Abide with Me untrennbar mit dem englischen Fußball verbunden. Bis heute gehört das Singen des Chorals zum Ritual bei jedem FA-Cup-Finale.
Hilfe erbeten vom Allmächtigen
In gewisser Hinsicht hat das eine Logik, schließlich sind Fangesänge weniger Spielreportagen in Liedform als vielmehr Ausdruck eines Glaubens. Quasi Minichoräle, in denen eine Fangemeinde anbetet, (selbstironisch) klagt oder anklagt. Auch Schmähgesänge auf den Gegner sind letztlich nur eine Negativform der Preisung des eigenen Vereins.
Das Magazin für Fußballkultur 11 Freunde hatte vor Jahren einmal den Berliner Kneipenchor beauftragt, „faire Fangesänge“ zu interpretieren. Das war extrem lustig, aber leider nicht stadiontauglich, weil Vereinsfußball, wie jeder weiß, eine todernste Sache ist. Immerhin gibt es seit geraumer Zeit besinnliche Fangesänge, genannt Weihnachtssingen. Erfunden haben es 89 Fans des 1. FC Union Berlin, die am frühen Abend des 23. Dezember 2003 heimlich in ihr marodes Stadion An der Alten Försterei geklettert waren, um sich auf den leeren Rängen die sportlich deprimierende Lage ihres Klubs ein bisschen schönzusingen – mit Weihnachtsliedern. Aus den 89 Leuten wurden im Laufe der Jahre 30.000 (der Autor war früh dabei). Auf prominente Vorsänger wird in Köpenick traditionell verzichtet. Stattdessen treten auf einer kleinen Bühne im Stadioninnenraum nur ein lokaler Schülerchor auf, der Bläser spielende Stadionsprecher mit seinen mitmusizierenden Eltern und ein Pfarrer, der ein paar Worte spricht. Etliche Vereine haben die Idee inzwischen übernommen, jeder auf seine Art. Mal als edles Adventskonzert mit Kreuzchor und Starsopranistin wie in Dresden, mal als eher poppiges Weihnachtsevent mit Starbands wie in Dortmund oder Köln.
Weihnachtsliedersingen im Fußballstadion ist quasi eine eigene, deutsche Form von Community Singing. Der Köpenicker Beitrag zur Singkultur soll sogar schon außerhalb der Bundesrepublik Nachahmung gefunden haben.
Sweet Caroline
Warum Singen im Fußball so eine große Rolle spielt wie in keiner anderen Sportart, ist natürlich auch Gegenstand der Forschung geworden. Wenig überraschend kam heraus, dass es in Fußballstadien wie im richtigen Leben zugeht. Leute suchen Gemeinschaft, grenzen sich ab, wollen Spaß haben und müssen manchmal auch durch emotionale Täler gehen. Bei alldem hilft fast immer ein Lied auf den Lippen. Oft facht es die Party sogar erst richtig an. Und dann geht es ab, völlig losgelöst. Auch für Sweet Caroline.
Wie essenziell Singsang im Stadion für die Faszination des Fußballs ist, zeigte sich während der Coronapandemie. Die Geisterspiele waren stimmungsmäßig ein Totalausfall, da half auch keine Extra-Tonspur mit Fangesängen, die der Fernsehsender Sky bei seinen Übetragungen anbot. Es taugte lediglich als Beweis, dass Fußball ohne echte, singende Fans auch nur ein Sport ist.
Das hatte sich vor der WM 2022 sogar bis nach Katar herumgesprochen. Allerdings zog man dort sehr spezielle Schlüsse daraus. Die WM-Organisatoren ließen in Nachbarländern eine Art Ultras-Fremdenlegion aufbauen. Die eingekauften, stadionerfahrenen Fußballfans wurden mit Freiflügen, Kost und Logis sowie Eintrittskarten nach Katar gelockt, um das Turnier als vermeintlich einheimische Katarfans mit Choreos und Gesängen zu bereichern. Fake-Katar-Ultras, einen schöneren Treppenwitz hatte es in der Geschichte des Fangesangs nie gegeben. Der Fußball hat es überlebt. Das macht Hoffnung, dass er auch die womöglich drohenden Fangesangs-Innovationen aus der KI-Ecke überstehen wird.
Gunnar Leue
ist Journalist und Autor des Buches „You’ll Never Sing Alone. Wie Musik in den Fußball kam“ (Ventil Verlag). Er sammelt Schallplatten mit Fußballmusik aus aller Welt und schreibt im Stadionheft des 1. FC Union Berlin über den „Sound des Fußballs“.
Foto: Privat
Tipp der Redaktion
1. FC Union Berlin: WEIHNACHTSSINGEN AUF YOUTUBE
https://www.youtube.com/watch?v=BmD6zqb1Cmk
























