Distriktkonferenz
"Hören Sie nicht auf zu streiten!"
Festredner Ahmad Mansour forderte stetige Diskussion von der rotarischen Familie im Distrikt 1800 auf der ereignisreichen Distriktkonferenz in Halle.
Die Akademie der Wissenschaften in Halle liegt nicht gerade dort, wo Governor Walter Wever (RC Bad Nenndorf) üblicherweise seine rotarischen Freunde trifft. Doch Halle war noch nie Gastgeber einer Distriktkonferenz.
Das sollte sich 2023 ändern, entschieden die Verantwortlichen. Denn die Stadt und ihre rührigen Clubs hatten viel zu bieten…
Zum Beispiel die altehrwürdige Leopoldina. Und die Franckeschen Stiftungen. Beide wurden zum Ziel der diesjährigen Distriktkonferenz in D1800. Rotarier und Rotarierinnen aus dem Distrikt konnten sie mit ihren Familien Ende Juni kennenlernen.
63 Clubs, und damit knapp 80 Prozent aller Clubs, waren mit 225 Teilnehmern in Halle vertreten– am stärksten natürlich der RC Bad Nenndorf, Heimatclub des Governors Walter Wever, mit 18 Mitgliedern. Der – beflügelt von so viel Rückhalt – dankte in seinem Rückblick gerade den Clubs in D1800 und ihren Präsidenten: "Ihr habt die Flamme der Begeisterung trotz aller widrigen Umstände entfacht und mit den Freunden Großartiges vollbracht."
Der als "singender" Governor in die Geschichte eingehende Walter Wever teilte diesmal einige Gedanken zumindest in Reimen. Sein Jahr, das er für alle als prägend und herausfordernd bezeichnete, sei durch die Themen Bildung, Flucht und Vertreibung, Pandemie sowie den russischen Überfall auf die Ukraine gekennzeichnet gewesen. Hierzulande sei es gelungen, die Präsenzen zu steigern und einen weiteren Club, den RC Braunschweig-Oker, zu gründen. Zum positiven Gesamtergebnis zählte er auch zahlreiche Bücherspenden (4L) und Nachhilfe-Projekte zusammen mit Hochschulstudenten. Hocheffizient auch die Arbeit von sechs Länderausschüssen, darunter der LA Deutschland-Türkei, der nach dem Erdbeben seine Aktivitäten massiv verstärkte. Im Distrikt sei zudem ein Zweig der Paul-Harris-Society gegründet worden.
Für den Gemeindienst wünschte er sich, Ideen stärker distriktweit zu verbreiten. Mithilfe von Gemeindienst und Foundation seien indes zahlreiche Distrikt Grants als auch 13 internationale Grants umgesetzt worden. Gerade die Fluthilfe habe hier mit deutschlandweit 10 Mio. Euro zu Buche geschlagen.
Wever verwies auf RI-Präsidentin Jennifer Jones, die sich gewünscht hatte, angesichts all der Herausforderungen dieser Zeit reformwillig zu bleiben, Geschichte und verknüpfen. Ihr Leitmotto: "Imagine Rotary" gebe eine Richtung vor, auch weiterhin.
Tagungsorte mit Bedeutung
Mit virtuosem Anschlag und perfekten Tempi setzte Moto Harada, Pianist und Rotarier im RC Hildesheim, hörbare Highlights in dieser Distriktkonferenz. Ein klangvoller Übergang zum Vortrag von Prof. Dr. Gunnar Berg, der die gastgebende Leopoldina als Leuchtturmprojekt der Naturwissenschaften vorstellte. Die seit 1652 bestehende Institution, seit 1878 in Halle angesiedelt, entwickelte sich zu einer hochangesehenen Akademie mit internationaler Mitgliedschaft, die vom wissenschaftlichen wie vom Kulturaustausch lebt und Gesellschaft wie Politik Beratung zu Fragen der Zeit bietet. Experten des Hauses geben regelmäßig Stellungnahmen zu Themen wie Krankenhausreform, Fracking, Klima, Ozeane und Biodiversität oder der Situation älterer Menschen ab, berichtete Berg.
Auch den Hintergrund der zweiten Location dieser Distriktkonferenz lernten die Teilnehmer kennen: Prof. Dr. Thomas Müller-Bahlke gab eine Einführung in deren gemeindienstliche Initiativen. Wo einst ein Einzelner gesellschaftliche Missstände beheben wollte, Schulen und ein Lehrerseminar gründete, verarmte Kinder von der Straße holte und Reformideen umsetzte, die bis in alle Winkel der Erde getragen wurden, wird auch heute noch eine Brücke zwischen Kultur, Wissenschaft, Sozialem und Bildung geschlagen, erfuhren die Konferenzteilnehmer.
Für den Festvortrag zur Distriktkonferenz hatte sich der Governor Dr. Ahmad Mansour eingeladen, der zu Herausforderungen für die Demokratie in der Zeitenwende sprach. Der arabische Israeli, der schon lange Zeit in Deutschland lebt, machte deutlich, dass Demokratie nicht selbstverständlich ist. Sie müsse jeden Tag erkämpft werden – unter anderem über Debattenkultur und Kommunikation.
Mansour plädierte dafür, Schulen stärker dafür zu nutzen, Kindern die Demokratie verständlich zu machen und zu vermitteln, Grundsatzdebatten dafür weniger moralisierend zu führen. Als wichtige Themen dieser Zeit führte er Flüchtlinge, Klima und Rassismus an. Er warnte vor Vorurteilen – wiewohl jeder dazu neige. Gefährlich sei jedoch, die Vielfalt und unterschiedliche Sichtweisen zu ignorieren.
"Demokratie ist Streitkultur und Kontroverse"
"Und: Sind wir bereits im postfaktischen Zeitalter?", fragte Mansour. Jeder Post in den sozialen Medien werfe die Frage auf: Ist das echt oder ein Fake? Es gelte zudem, Toleranz und Vielfalt zu wahren. Genau dies aber sei eine Herausforderung: "Demokratie ist nicht die Herstellung von Harmonie. Es ist Streitkultur und Kontroverse." Die Unfähigkeit einer Gesellschaft, Themen zu diskutieren, die jemanden kränken könnten, bremse und helfe nicht weiter.
Zudem warnte der Experte vor fehlender Medienkompetenz. Fake News und die Erstellung von Texten per künstlicher Intelligenz müssten zu einer Offensive in den sozialen Medien führen: "Wo sind Demokraten und Pädagogen in den sozialen Medien, wo sich unsere Kinder täglich bis zu sechs Stunden ihre Informationen holen?", fragte er. Auch beim Thema Islam und Corona seien die digitalen Medien eher einseitig besetzt. Bis heute werde die Situation der letzten Monate zu wenig aufgearbeitet, kritisierte er.
Emotionaler werden, nicht digitaler
Den Rotariern empfahl er, in Projekten der fehlenden Empathie bei Jugendlichen entgegenzuwirken. Das sei keine banale Aufgabe, sagte Mansour. Er sehe sogar in der wenig empathischen Verhaltensweise junger Leute das Fundament für extremistische Haltungen. Derzeit werde viel zu wenig gefragt: Wie geht es Dir? "Wir müssen im Umgang emotionaler werden, nicht digitaler", so sein Hinweis auf eine zentrale Aufgabe dieser Zeit – für mehr Demokratie. Sein Schlusswort: "Hören Sie nicht auf zu streiten - um eine Meinung zu finden, aber ebenso für mehr Austausch. Bitte streiten Sie!"
Governor Walter Wever zeichnete zum Abschluss der Konferenz unter anderem auch Thomas König vom RC Hameln als Rotarier des Jahres 2022/23 aus. Dieser habe nicht nur tonnenweise Spielzeug in deutsche Regionen, nach Bulgarien und ein Projekt zur Wundversorgung befördert, sondern auch nach dem Erdbeben in der Türkei die Ärmel hochgekrempelt und Hilfe organisiert. Inzwischen wurden durch seine Aktivitäten ein rotarisches Containerdorf eröffnet, 21 Schulen mit Material, Büchern und Ranzen ausgestattet und zehn Kinder nach schweren Verletzungen mit Arm- oder Beinprothesen ausgestattet, so der Governor. Der wiederum erbat weitere Hilfe aus den Clubs unter: www.rotary-erdbebenhilfe.de. Im Zusammenspiel mit anderen Helfern könne man noch so viel erreichen, so sein Motto.
Zum Abschluss intonierte Musiker Moto Harada (RC Hildesheim) am Piano die Hymne "Freude schöner Götterfunken…", in die die Konferenzteilnehmer einstimmten. Nichts schien passender für die Konferenz an diesem Tag und motivierender für weitere Aktionen.
Fehlte nur noch die Staffelstab-Übergabe. Die hatte der Distrikt in die Franckeschen Stiftungen verlegt. Bei kühlen Getränken und nach einem kulturell geprägten Rundgang durch die historischen Stätten – die Teilnehmer waren durch Prof. Berg ja bereits gut im Thema – präsentierten nicht nur Jazzmusiker ihr Können, die Austauschschüler des Distrikts ihre Flaggen und emotionalen Erlebnisse der vergangenen Monate, sondern auch der Governor den Staffelstab. Der ging unter großem Beifall an Stefan Karnop, RC Jerichower Land, der 2023/24 auf ein Jahr mit weniger Krisen oder Katastrophen hofft und seinen Fokus auf das Zusammenwachsen der Clubs legen will.
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