Soziales
»Bei uns ist es normal«
Wie werden Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft aufgefangen? Mit gutem Beispiel voran geht Rotarier Günter Oelscher, Direktor des Franz Sales Hauses in Essen. Ein Ortstermin in der Einrichtung für Menschen mit Behinderung.
Es riecht nach Farbe. Gute-Laune-Musik aus dem Radio und der Lärm der Maschinen erfüllen den Raum. Es herrscht geschäftiges Treiben in der Schreinerei der Franz Sales Werkstätten. Auch Christian Trautvetter hat heute Dienst. Der junge Mann ist einer von rund 1800 Menschen mit Behinderung, die an über 20 Standorten des Franz Sales Hauses in Essen leben, lernen, arbeiten und ihre Freizeit verbringen. Christian Trautvetter lebt im Stadtteil Überruhr in einem der hauseigenen Wohnheime, die sich über das gesamte Stadtgbiet verteilen. Jeden Morgen kommt er mit dem öffentlichen Bus zur Arbeit. „Ich bin Selbstfahrer“, sagt er fast schon ein bisschen stolz.
Bevor er nach einem Praktikum im Jahr 2003 in der Schreinerei anfing, absolvierte er Praktika in der Bäckerei und bei den Landschaftsgärtnern. Beide Bereiche lagen ihm eher weniger. In der Schreinerei dagegen fühlt sich der 30-Jährige wohl und hat sich in den letzten Jahren sehr gut entwickelt. „Das heißt, die Schritte, die wir uns vorgestellt haben, ist er mit uns gegangen“, sagt Produktionsleiter Reinhard Wahle.
Sobald ein Beschäftigter in der Einrichtung neu aufgenommen wird, gilt es, seine Stärken herauszufinden. Im Berufsbildungsbereich und in verschiedenen Praktika kristallisiert sich schnell heraus, wo die Talente liegen. Dementsprechend werden die Beschäftigten individuell gefördert. Christian Trautvetter mag besonders die Arbeit mit Holz und das Lackieren. Ob spachteln, schleifen, hobeln oder pinseln, der 30-Jährige ist vielseitig begabt. „Der flexible Einsatz ist wichtig für das Selbstbewusstsein und gegen die Langeweile“, sagt Gruppenleiter Frank Honisch. Anders als in der freien Wirtschaft werden die Arbeitsgänge hier bewusst heruntergebrochen in kleinere Arbeitsschritte. „Nicht einer soll möglichst viel schaffen, sondern möglichst viele sollen an der Arbeit teilhaben“, sagt Reinhard Wahle. Zum Fertigungsrepertoire gehören neben diversen anderen Eigenprodukten und Auftragsarbeiten zum Beispiel auch ein Teil der Rotary-Mathe-Kisten, die ausschließlich in Behinderten-Werkstätten hergestellt werden. 2009 im Distrikt 1810 ins Leben gerufen, sollen Kinder mit dem Lernmaterial aus Holz auf spielerische Weise die Welt der Zahlen entdecken und lernen, Mengen zu erfassen.
In der Kiste befinden sich 15 Würfel, 15 Zifferreiter mit Zahlen, 11 Nummernschilder und 55 Griffkorken. Am Entstehungsprozess des mehrteiligen Kisteninhalts ist auch Christian Trautvetter beteiligt. „Ich habe gepinselt, geschliffen und gebohrt“, sagt er. Die Mathe-Kisten sind ein idealer Auftrag für die Mannschaft in der Schreinerei. „Dadurch, dass viele Arbeitsschritte nötig sind, kann ich viele Beschäftigte sehr vielseitig einsetzen“, sagt Frank Honisch. Bisher wurden in der Schreinerei 400 Mathe-Kisten für die Rotary Clubs in Essen, Bochum und Umgebung angefertigt, die die Clubs anschließend an Kindergärten verteilt haben. Insgesamt wurden seit 2009 schon mehr als 2200 Mathe-Kisten in verschiedenen Distrikten hergestellt.
Individuelle Stärken im Blick
Für das Franz Sales Haus hat Rotarier und Ideengeber Joachim von Schnakenburg (RC Daun-Eifel) inzwischen sein Einverständnis gegeben, die Kisten auch direkt zu vermarkten. Eine Kiste kostet dort für Rotarier 120 Euro brutto. „Das geht nur über den Direktvertrieb“, sagt Reinhard Wahle, der als Produktionsleiter auch dafür zuständig ist, von den Abnehmern „einen fairen Kurs“ für die Arbeit der Beschäftigten zu erreichen. Sie bilden unter dem Dach des Franz Sales Hauses zusammen eine Solidargemeinschaft. Leistungsträger wie beispielsweise Christian Trautvetter verdienen mehr, erbringen aber gleichzeitig auch die Leistung für die Schwächeren mit. Im Förderbereich etwa liegt der Schwerpunkt für die zum großen Teil schwerstmehrfachbehinderten Menschen auf der Tagesstruktur. „Manche arbeiten vielleicht nur eine halbe Stunde oder zehn Minuten am Tag.
Es ist aber immer ein kleiner Teil Arbeit dabei“, sagt Reinhard Wahle. Hier im Förderbereich werden zum Beispiel Kerzen gefertigt. Genau wie in der Schreinerei werden die Arbeitsschritte dabei bewusst kleinteilig gehalten, sodass jeder etwas findet, was er leisten kann – immer die individuellen Stärken und die Persönlichkeit des Einzelnen im Blick.
In den Werkstätten des Franz
Sales Hauses sind insgesamt 552 Menschen beschäftigt, weitere 82 arbeiten in externen Unternehmen. Langfristiges Ziel bei jedem Beschäftigten ist es, ihn auf dem ersten Arbeitsmarkt unterzubringen und die Werkstatt als Brücke dahin zu sehen. Direktor Günter Oelscher (RC Essen-Baldeney) ist die Herausforderung bewusst: „Viele Unternehmen scheuen die engen Verpflichtungen, zum Beispiel die Unkündbarkeit. Dieser Schutz für Schwerbehinderte wirkt kontraproduktiv.“
Auszeichnung vom Papst
Mit dem Tagungs- und Stadthotel „Franz“ geht der 61-Jährige mit gutem Beispiel voran. Sein 2011 gegründetes Integrationsunternehmen „in service GmbH“ betreibt auf dem Gelände das barrierefreie Hotel mit angeschlossenem Veranstaltungszentrum, in dem rund 40 Prozent Mitarbeiter mit Behinderung arbeiten. „Bei uns ist es normal, aber in der Gesellschaft ist es etwas Besonderes“, sagt Günter Oelscher. Damit sich das langfristig ändert, setzt er sich auch außerhalb in diversen überregionalen Gremien und bei Unternehmen für die Integration von Menschen mit Behinderung ein.
Im Dezember 2009 verlieh ihm Papst Benedikt XVI. für sein enormes Engagement für behinderte Menschen gar die Auszeichnung „Ritter des Gregoriusordens“. „Unternehmen, mit denen wir zusammenarbeiten, merken, dass Arbeit mit Behinderten wichtig ist“, sagt Günter Oelscher und erkennt durchaus einen positiven Trend für mehr Offenheit in der Gesellschaft. So wird die Behinderteneinrichtung, die vom Landschaftsverband Rheinland (LVR) finanziert wird, unter anderem großzügig durch Spenden und Stiftungsgelder unterstützt. Dafür pflegt Günter Oelscher ein engmaschiges Netzwerk und sensibilisiert sein Umfeld für das Thema. Das funktioniert auch in den rotarischen Reihen gut. So nutzte unlängst das Rotary-Orchester Deutschland den Veranstaltungssaal mit 500 Plätzen für eines seiner Konzerte, die German Rotary Volunteer Doctors (GRVD) lassen ihre Drucksachen in der hauseigenen Druckerei anfertigen, und sein eigener Club, der RC Essen-Baldeney, lässt zum Beispiel Zauberkisten und Mathe-Kisten für Kindergärten in der Schreinerei herstellen.
Begegnung
Günter Oelscher arbeitet seit 1992 im Franz Sales Haus, erst als Verwaltungsleiter und Mitglied der Geschäftsführung, seit 2002 als Direktor. Und immer noch ist er jeden Tag mit Herz und Leidenschaft dabei. Am wichtigsten, sagt er, sei eine ethisch-humanistische Einstellung und seine besondere Affinität zu Menschen. Auch wenn der Spagat zwischen operativem Geschäft und der Steuerung auf oberster Ebene oft eine Herausforderung ist, nimmt er sich immer wieder Zeit für die Beschäftigten. „Ich werde öfter eingeladen zum Frankfurter Kranz-Essen in eine Wohngruppe. Bei solchen Gelegenheiten bekomme ich am meisten mit“, sagt er. Und wenn er über das Gelände läuft und ihm, so wie erst neulich, jemand hinterherruft: „Herr Oelscher, deine Krawatte sitzt schief“, dann sind es genau diese kleinen Momente mit den Behinderten, die ihm Freude bereiten und Ausgleich schaffen. „Alles, was Begegnung ausmacht, ist entscheidend“, sagt der 61-Jährige. Ihm persönlich hilft es, nah dran zu sein am Geschehen – auch an den Sorgen und Wünschen seiner Beschäftigten. In der Gesellschaft baut Begegnung Vorurteile ab. „Den komplexen Begriff der Inklusion“, sagt Günter Oelscher, „kann es so nicht geben. Es ist vielmehr die Frage, wo ziehe ich die Grenze?“.
Im Stadtgebiet haben seine innovativen Entwicklungen Früchte getragen. Das Franz Sales Haus mit seinem vielfältigen Angebot für Menschen mit und ohne Behinderung ist für die Essener ein Begriff. Und Günter Oelscher kann zufrieden sein mit dem Ertrag seiner Arbeit als Einrichtungsdirektor: „Das Franz Sales Haus betreut seit 1884 benachteiligte Menschen. Die Förderung des Miteinanders von Menschen mit und ohne Behinderung ist eine neue Komponente unserer Arbeit geworden, mit der wir auf breite Akzeptanz bei der Essener Bevölkerung stoßen.“
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