Reportage
Der Hunger kommt immer zurück
Für somalische Flüchtlinge sammelten Rotarier in Deutschland gut 400.000 Euro. Über den Länderausschuss Ostafrikanische Länder soll das Geld sinnvoll untergebracht werden. Ein Ortstermin in Nairobi.
Sommer 2011. Mehr als 11 Millionen Menschen in Ostafrika erleben die größte Dürrekatastrophe seit 60 Jahren. Die Hungersnot ist lebensbedrohlich. Der langjährige Bürgerkrieg in Somalia hinterlässt große Spuren im Land. Die Menschen fliehen in benachbarte Länder. Sie nehmen wochenlange Fußmärsche auf sich bis sie zum Beispiel ankommen im Flüchtlingslager Dadaab in Kenia. Dort leben etwa 470.000 Menschen. Einst für maximal 90.000 konzipiert, ist es heute das größte Flüchtlingslager der Welt. Mehr als 200.000 bekommen keinen Platz, das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) registriert sie nicht mehr. Sie bleiben trotzdem. Mehr als 200.000 Menschen leben inzwischen in der Gegend um das Camp herum, „weil es dort Arbeit gibt, sagt Michael Adams, Senior Director des Refugee Assistance Programms der Hilfsorganisation Care, „die Märkte sind sehr aktiv. Die Leute können nicht einfach nur herumsitzen.“ Care ist eine von zwei Partnerorganisationen vor Ort, mit denen Rotary eng zusammenarbeitet. Über Care und den Jesuiten Flüchtlingsdienst (JRS) sollen die Spendengelder für die Flüchtlinge in verschiedenen Projekten angelegt werden.
Die Rotarier Joachim Piep und Michael Morath vom Rotary Länderausschuss Ostafrikanische Länder haben einen Termin mit Michael Adams in seinem Care-Länderbüro in Nairobi. „Der Länderausschuss ist die vermittelnde Instanz“, bringt Michael Morath die zentrale Aufgabe auf den Punkt. Eigentlich soll der Ausschuss zwischen den einzelnen Rotary Clubs in Deutschland und Afrika vermitteln. Aber im Fall der Hungerhilfe in Somalia ist es noch nicht gelungen, Clubs für ein gemeinsames Global Grant-Projekt zusammenzuführen. „Im Club Mitglieder zu finden, die die Verpflichtung übernehmen, sich unter Umständen Jahrelang für ein Projekt einzusetzen, das ist der Flaschenhals“, sagt Michael Morath.
Weichen stellen
Solange also keine Clubs gefunden sind, die sich der Aufgabe annehmen, kümmert sich der Länderausschuss um die Verwendung der verbleibenden Spendengelder. Hier spielt der Brückenbau zur jeweiligen Partnerorganisation die entscheidende Rolle. So soll das Gespräch mit dem Care-Vertreter den Kontakt festigen, Aufschluss geben über die aktuelle Lage in den Camps und Weichen stellen für die künftige Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation. „Ohne persönliches Kennenlernen geht gar nichts. Bleibt der Kontakt auf E-Mail-Basis, kommt man aus der Anonymität nicht heraus“, sagt Joachim Piep, Vorsitzender der deutschen Sektion des Länderausschusses. Michael Adams nimmt sich Zeit, das Gespräch dauert mehrere Stunden. Ein Projekt mit Care ist bereits abgeschlossen. Rotary Deutschland Gemeindienst (RDG) überwies Care Deutschland die ersten 81.000 Euro der rotarischen Spendengelder für einen Laster, der heute in Dadaab im Einsatz ist. Der LKW ist primär für die Verbesserung der Wasserversorgung vorgesehen, ist aber multifunktional. „Er transportiert zum Beispiel auch Lunchpakete für Kinder, Kochutensilien oder Kanister“, sagt Michael Adams. Die Mitarbeiter der Hilfsorganisation müssen generell und auch beim Einsatz des Fahrzeugs sehr vorsichtig sein, um möglichst keine Überfälle oder gar Entführungen zu provozieren. Aus Sicherheitsgründen gibt es deshalb keine Routinefahrten für den LKW. Und wenn er auf dem Gelände unterwegs ist, begleitet ihn eine Polizeieskorte – drei Polizisten Minimum. Auch das Rotary-Logo ist noch nicht angebracht, damit der Truck als neutrales Fahrzeug wahrgenommen wird. „Die Flüchtlinge“, sagt Michael Adams, „sprechen alle dieselbe Sprache – Somali mit verschiedenen Dialekten“. 40 Prozent der Care-Mitarbeiter sind deshalb Somalier. Das hilft, Verständigungsprobleme oder kulturelle Spannungen zu vermeiden.
Neben der Versorgung mit Wasser und Lebensmitteln kümmert sich Care auch um das Thema Bildung. In diesem Bereich liegt inzwischen ein Projektkonzept vor, das von den rotarischen Spendengeldern unterstützt werden kann. Dabei geht es um die Verbesserung der schulischen Ausbildung von Kindern in einem der Camps des weiträumigen Flüchtlingslagerkomplexes Dadaab. Die Rotarier könnten zum Beispiel mit einer Summe von etwa 120.000 Euro die Errichtung bzw. Renovierung der Grundschuleinrichtung sicherstellen und für die Bereitstellung von Schulkleidung für jeweils 900 Jungen und Mädchen und die Lieferung von 4000 Sanitärkits für Mädchen sorgen. Außerdem wird Unterstützung in der sonderpädagogischen Betreuung von Kleinkindern inklusive pädagogischer Materialien benötigt. Ein konkreter Projektvorschlag dafür wird zurzeit erarbeitet.
Im Flüchtlingslager Dollo Ado in Äthiopien leben in fünf Camps etwa 140.000 Menschen. Für sie setzt sich unter anderem der Jesuit Refugee Service (JRS) ein. Für den Bau einer Mehrzweckhalle im Flüchtlingslager hat die Organisation bisher aus den rotarischen Mitteln etwa 80.000 Euro erhalten. Das Community Center, zu dem die Mehrzweckhalle gehört, soll vor allem der Ausbildung von überwiegend jungen somalischen Flüchtlingen dienen. In Nairobi treffen wir Deogratias M. Rwzaura, SJ. Er ist Regionaldirektor von JRS Ostafrika. Er und seine Mitarbeiter im Büro und vor Ort im Lager kümmern sich in verschiedenen Programmen um die Unterstützung vorrangig junger Flüchtlinge. Bildung, psychosoziale Förderung und Jugendaktivitäten sind die Hauptgebiete, für die sich JRS einsetzt. Father Deo, wie er von seinen Mitarbeitern respektvoll genannt wird, berichtet von den verschiedenen Angeboten: Die JRS-Mitarbeiter organisieren unter anderem Theatergruppen oder Sportmöglichkeiten wie Tischtennis oder Fußballspiele. Die zum Beispiel dienen dazu, Spannungen abzubauen zwischen den Flüchtlingen und der lokalen Bevölkerung. Dort in den Camps kommt vieles zusammen, was die Arbeit der Hilfsorganisationen unerlässlich macht: Traumata, Analphabetismus, Hunger, Durst, Probleme unter den Clans, Perspektivlosigkeit. „Es ist wichtig, Orte zu bilden, wo sich die Menschen sammeln können“, sagt Father Deo. Da die Jugendlichen den Jesuiten dabei besonders am Herzen liegen, sind auch für die weitere Verwendung der rotarischen Spendengelder Projektvorschläge in Arbeit, die sich mit der Aus- und Weiterbildung von somalischen jugendlichen Flüchtlingen befassen. „ Bildung“, sagt Father Deo, „ist das einzige, was du ihnen nicht wegnehmen kannst.“
In die Flüchtlingslager Dadaab und Dollo Ado haben wir aus Sicherheitsgründen keinen Zutritt. Am nächsten Tag ermöglichen uns Father Deo und sein Team stattdessen, somalische Flüchtlinge direkt in Nairobi zu treffen. Denn einige von ihnen schaffen es, bis in die Stadt zu gelangen. In einem Urban Emergency Program bieten die Jesuiten ihnen für die ersten vier Monate eine Anlaufstelle, versorgen die Neuankömmlinge mit Nahrung und einigen Basis-Utensilien. Sie zahlen die Gebühr für den Kindergarten und die Secondary School – der Besuch der Primary School ist kostenlos. Außerdem stellt JRS den Flüchtlingen ein Startkapital von 15.000 Kenianischen Schilling (gut 143 Euro) zur Verfügung, die sie innerhalb eines Jahres zurückzahlen können. Die meisten allerdings wissen nicht einmal, wie sie die monatliche Miete für ihre Unterkunft aufbringen sollen. Viele gehen Betteln, schlagen sich mit Gelegenheitsjobs durch. 6000 Schilling (das sind umgerechnet gut 56 Euro) kostet die Miete monatlich, sagt Joseph Wawern. Er ist JRS-Sozialarbeiter und koordiniert das Urban Emergency Program. An der Ausgabestelle der Jesuiten treffen wir fast ausschließlich Frauen. Die meisten sind Witwen oder Frauen, die ihre Männer verlassen haben, um mit ihren Kindern nach Kenia zu flüchten. Sie flüchten vor der Bedrohung der aufständischen Gruppen in Somalia und vor der Dürrekatastrophe. Eine der Frauen ist Nimo Muse. Die 36-Jährige kam mit acht Kindern, das neunte hat sie in Nairobi geboren. Ihr Mann sei mit drei weiteren Kindern in Mogadishu geblieben, erzählt sie. Sie wollte vor der Al-Shabab-Miliz fliehen, er wollte bleiben. Eines Tages siegte die Angst davor, dass die Miliz ihre Kinder entführt. Da machte sie sich zu Fuß allein auf den Weg. Auf den Weg in ein neues Leben. Kenia soll für die meisten nur eine Zwischenstation sein. Nimo Muse und die anderen träumen von einem Neuanfang in Europa oder den USA. Dort wollen sie einen Job finden und ihren Kindern eine gute Zukunft bieten. Mit aller Macht versuchen sie an diesem Morgen in Nairobi, sich bei uns Gehör zu verschaffen. Ein emotionales Sprachengewirr, getrieben von einem unbändigen Überlebenswillen, macht selbst mithilfe von Joseph als Dolmetscher die Kommunikation nahezu unmöglich. Auch er sagt aus seiner Erfahrung als Sozialarbeiter: „Zuhören ist die größte Herausforderung.“ Von allen Seiten bekommen wir Zettel zugesteckt. Dreckig, verknickt, zerfleddert. Diese unscheinbaren Zettel, an denen das Leben der Flüchtlinge schon tiefe Spuren hinterlassen hat, sind Sinnbild für pure Verzweiflung, für ein zerrissenes Leben und für sehr viel Hoffnung, die noch nicht verloren gegangen ist. Auf manchen Zetteln steht in unverblümten Worten ein kurzer Abriss der persönlichen, erschütternden Lebensgeschichte, auf allen steht eine Telefonnummer. Wir – die Europäer – sollen sie wählen und ihnen den Weg weisen. Dorthin, wo sie die Sonnenseite des Lebens vermuten.
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