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Das neue Brasilien?

Forum - Das neue Brasilien?
Bei Protesten gegen das Wahlergebnis betet eine Frau für Präsident Bolsonaro. © mateus bonomi/anadolu agency/abacapress/ddp images

Die gegenwärtige Situation in Brasilien muss im Kontext der Ausbreitung der extremen Rechten verstanden werden. Der neue Präsident Lula steht vor großen Aufgaben.

Paula Diehl01.01.2023

Fußball spielt in Deutschland wie in Brasilien eine zentrale Rolle in der sozialen Integration und der politischen Identität. In beiden Ländern wird die Fußballweltmeisterschaft zum hauptsächlichen integrativen Moment der Nation. Dies war der Fall im Jahr 2006, als viele Spieler aus Familien mit Migrationsgeschichte im Vordergrund der deutschen Mannschaft standen. Die Weltmeisterschaft wurde zum Anlass für das Feiern einer modernen und inklusiven deutschen Gesellschaft, die für das erste Mal nach dem Zweiten Weltkrieg Nationalstolz und die deutsche Fahne zeigen konnte, ohne in die Nähe des Rechtsradikalismus zu kommen. Fußball und nationale Identität gehen Hand in Hand. Mannschaft und Land verschmelzen, man bejubelt die Tore der Nationalmannschaft als „unsere“, betrauert zusammen eine Niederlage, und, wenn man Glück hat, feiert man den Pokal, als ob er allen gehören würde.


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Doch dieses Jahr ist in Brasilien alles anders. Nicht weil Brasilien im Viertelfinale ausgeschieden ist, sondern weil das Land eine bisher noch nie da gewesene Spaltung erfährt. Es gab zwar überall Public Viewing und viele trugen die brasilianischen Farben Gelb und Grün oder die Trikots der „Seleção“, aber die scheinbare Einheit täuscht. Man muss zwischen den Zeilen oder die Zeilen selbst lesen. Viele trugen das brasilianische Trikot mit der Aussage: „Es ist nur für die Weltmeisterschaft“, oder sie fügten die Zahl 13 auf der Rückseite des gelben Trikots zu, um auf die Identifikationsnummer von Lula auf den Stimmzetteln bei den letzten Präsidentschaftswahlen hinzuweisen. Man wollte nicht mit Bolsonaros Anhängerinnen und Anhängern verwechselt werden. Diese hatten die nationalen Symbole und die „Camisa da Seleção“ (das Nationaltrikot) schon vor der Weltmeisterschaft für sich beansprucht. Es herrscht ein Krieg der Symbole. In seinem Wahlkampf ist es Bolsonaro gelungen, die nationalen Farben für sich zu reklamieren. Gelb-Grün, die brasilianische Fahne und die nationale Hymne wurden so zu Symbolen einer antidemokratischen Haltung. Diese symbolische Appropriation hatte einen Effekt, den man aus Diktaturzeiten kennt, als die Militärregierung die nationale Symbolik für sich reklamierte.

Jubel über verletzte Spieler

Schon im Flugzeug von Frankfurt nach São Paulo begegnete mir die neue gespaltene Identität Brasiliens. Einer der Passagiere trug ein T-Shirt mit der Aufschrift „mito“, darunter das Konterfei von Bolsonaro, und, damit kein Zweifel besteht, die Bildunterschrift „Bolsonaro“. Bolsonaro wird von seinen Anhängerinnen und Anhängern als Mythos bezeichnet, um seinen Sonderstatus gegenüber allen anderen zu betonen. Die Wegnahme des Artikels ist wichtig, denn sie verweist auf die Unhinterfragbarkeit seiner Stellung. Für seine Unterstützerinnen und Unterstützer ist er nicht nur ein politischer Mythos, sondern der Mythos schlechthin.

Auf der anderen Seite steht Lula, der während seiner Präsidentschaft die höchste Vertrauensquote in der brasilianischen Geschichte erreicht hatte. Doch Lula ist angeschlagen. Aufgrund eines Prozesses wegen Korruption saß er eineinhalb Jahre im Gefängnis. Das Bundesverfassungsgericht erkannte den Prozess ab und setzte Lula frei. Lulas Unterstützung ist zwar immer noch stark, aber sie erreicht keineswegs eine große Mehrheit. Weder im Parlament noch in der Gesellschaft kann der neue Präsident viel bewirken. Politische Analysen prognostizieren eine schwierige Regierung voller Kompromisse und gebrochenen Wahlkampfversprechen. Während der Fußballweltmeisterschaft wurde die Spaltung Brasiliens durch das Bejubeln zweier sehr unterschiedlicher Fußballstars sichtbar: Neymar und Richarlison. Neymar ist ein offener Unterstützer von Bolsonaro, der dem Fußballer beiseite sprang, als dieser in Korruptionsskandale in Spanien und Brasilien verwickelt war. Neymar ist selbst nicht politisch, sondern unterstützte Bolsonaro aus Loyalitätsgründen: „Er war der Erste, der sich für mich aussprach.“ Richarlison ist für sein Engagement für Umweltschutz und Antirassismus bekannt. Auch in Sachen Corona-Impfung hat er sich engagiert. Obwohl er Lula nicht direkt unterstützte, erklärte Richarlison, dass er es wichtig finde, wenn sich bekannte Persönlichkeiten politisch engagieren. Anhängerinnen und Anhänger von Bolsonaro freuten sich über Richarlisons Verletzung zu Beginn des Turniers, Lulas Lager feierte Neymars vorübergehenden Ausfall, ebenfalls wegen einer Verletzung. Die Unterstützung einer Nationalmannschaft sieht anders aus.

Lulas Sieg war knapp, er bekam nur 50,9 Prozent der Wählerstimmen, während Bolsonaro 49,1 Prozent erreichte. Das ist erstaunlich, denn das Land ist vom katastrophalen Umgang mit der Pandemie durch Bolsonaros Regierung und von der gewachsenen Verarmung der Bevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen. Auch die Gewalt ist angewachsen – dazu gehört, dass unter Bolsonaros Regierung die Milizen gestärkt wurden und neue entstanden sind. Anhängerinnen und Anhänger antworten auf Frust und Unsicherheit mit Autoritarismus und dem Versprechen einer vermeintlichen Wiederherstellung der politischen und gesellschaftlichen „Ordnung“. Das ideologische Paket des „Bolsonarismo“ ist dem „Trumpism“ ähnlich. „Law and Order“ mit Lockerung der Waffengesetze, offener Homophobie, teilweise offenem Rassismus, einer AntiAbtreibungs-Politik und starker Fokussierung auf Genderthemen. Bolsonaro hat sogar das Konzept einer „Schule ohne Partei“ erfunden, in der „Ideologien“ keinen Zutritt haben sollen. Unter Ideologien versteht der ehemalige Präsident Sexualaufklärung, Thematisierung von Homound Transsexualität und die historische Bearbeitung von Sklaverei und Diktatur. Das Wort Sklaverei soll durch „Ausbeutung unbezahlter Arbeit“ ersetzt werden, während der Militärputsch von 1964 zur „Revolution“ wird – ein Wort, das die Generäle damals selbst verwendet hatten. Dieses Programm wurde zwar nicht systematisch implementiert, aber in vielen Orten wirkte es einschüchternd auf Lehrende an Schulen, Forschende, Professoren und Professorinnen.

Militärintervention gefordert

Genau diese autoritäre Stimmung drückt sich nach den Wahlen aus. Nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse demonstrierten Männer und Frauen aller Altersgruppen – auch Kinder wurden von ihren Eltern mitgebracht – gegen die „Fake-Ergebnisse“ der Wahlen. Das Narrativ ist identisch mit dem von Trump nach seiner Niederlage. Doch anders als der Sturm auf das Kapitol reagieren die Pro- Bol so na roPro tes tie ren den auf die Wahlergebnisse mit dem offenen Appell zu autoritären Maßnahmen des Militärs. Es gab sogar gewalttätige Aktionen. Gleich nach den Wahlen – die Wahlergebnisse kamen wenige Stunden nach der Schließung der Wahllokale – blockierten sie ohne Widerstand der Polícia Rodoviária Federal (Bundesstraßenpolizei) die zentrale Autobahnachse des Landes zwischen Rio de Janeiro und São Paulo. Dazu kamen Hunderte weitere Blockaden auf Autobahnen und Landesstraßen in ganz Brasilien. Sie forderten neue Wahlen oder eine Mili tär inter ven tion. Die Situation wurde nur entspannt, nachdem Bolsonaro eine Rede gehalten hatte, in der er die Wahlergebnisse nicht infrage stellte. Doch bis heute protestieren seine Unterstützer vor Militärkasernen, -behörden und sogar -museen, ebenso wie vor den Militärkommandos Brasiliens in Rio de Janeiro und São Paulo, und fordern eine Militärintervention. Im Bundesstaat Paraná heiratete sogar ein Paar im Zeichen seiner Unterstützung für Bolsonaro und als Symbol für seine Überzeugung der Notwendigkeit einer Militärintervention.

Brände und Polizeischutz

Am 12. Dezember wurde Lulas Sieg offiziell vom Obersten Wahlgerichtshof (Tribunal Superior Eleitoral) validiert. Unmittelbar danach brachen kleinere Unruhen in der Hauptstadt Brasilia aus. Autos wurden angezündet. Nach Berichten der BBC-Brasilien behinderten die Vandalierenden die Arbeit der Feuerwehr und griffen sie sogar an. Das Hotelgelände, wo sich Lula befand, und ein Umkreis von vier Kilometer um den Regierungssitz in Brasilia standen zwei Tage danach immer noch unter verstärktem Polizeischutz. Hochproblematisch ist, dass die Bundespolizei trotz ihrer Präsenz vor Ort und foto: privat erdrückender Beweislage keinen der Vandalierenden festgenommen hat. Das ist erstaunlich, denn vor einigen Monaten wurden Handyaufnahmen bekannt, in denen die Polizei – diesmal die Stadtpolizei aus Feira de Santana im Bundesstaat Bahia – Dozierende und Professoren an der Universität bei einem friedlichen Protest schlug. Bisher schweigt Bolsonaro, aber seine Anhängerinnen und Anhänger sprechen schon von einem Putsch vor Lulas Amtsübernahme am 1. Januar 2023.

Die Wahrscheinlichkeit einer ernsthaften gewaltsamen Bedrohung der neuen Präsidentschaft ist gering. Zwar hat Bolsonaro viele Unterstützer in der Bundespolizei, was ihre fehlende Reaktion auf die Gewaltausbrüche von Bolsonaros Sympathisanten erklärt, und Teile des Militärs wären auf Bolsonaros Seite, doch für einen Putsch fehlt die Positionierung der Armee und der Beistand der internationalen Mächte, vor allem der USA. Die internationale Reaktion war eindeutig. Joe Biden war einer der ersten Regierungschefs, der Lula zu seinem Sieg gratulierte, nicht nur Scholz und Macron beeilten sich, dem gewählten Präsidenten ihre guten Wünsche zu schicken, auch Putin gratulierte Lula.

Trotzdem zeigt Brasilien nicht nur eine Tendenz zur Polarisierung, die andere lateinamerikanische Länder wie Chile und Peru und sogar den großen Riesen auf dem amerikanischen Kontinent, die USA, erfasst. Vielmehr muss die Situation in Brasilien im Kontext der Ausbreitung der extremen Rechten verstanden werden. Ein Zeichen davon war Lulas Positionierung bei der Abtreibungsfrage. In der Vergangenheit war er immer „pro choice“, doch im letzten TV-Duell behauptete er, immer „für das Leben“ gewesen zu sein. Lula geht Kompromisse ein. Ihm bleibt die schwierige Aufgabe, das Land zu befrieden und die Kluft zwischen beiden Polen zu schließen, ohne seine Wählerschaft zu enttäuschen. Der neue brasilianische Präsident hat in seiner ersten Rede nach den Wahlen zwar, ähnlich wie Joe Biden, an die Einheit des Landes appelliert und versprochen, der Präsident aller Brasilianer zu werden. Lula war in der Tat der einzige Kandidat, der in der Lage war, die Wahlen gegen Bolsonaro zu gewinnen. Doch für das Bolsonaro-Lager ist er eine Hassfigur. In vier Jahren finden eine neue WM und neue Präsidentschaftswahlen statt. Dass dann alle die brasilianischen Trikots als Zeichen der Einheit tragen werden, bleibt zu wünschen. 

Paula Diehl

Paula Diehl ist Professorin für Politische Theorie, Ideengeschichte und Politische Kultur an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ihre Schwerpunkte sind Demokratietheorie, Populismus, Politik und Medien.

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