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Die Leiden des „vielgeprüften Österreich“

Forum - Die Leiden des „vielgeprüften Österreich“
Sebastian Kurz (damals Bundeskanzler) hört bei einem Interview in seinem Büro im Bundeskanzleramt in Wien zu. An der Wand: eine Schwarz-Weiß-Fotografie des Sozialdemokraten Bruno Kreisky, des österreichischen Bundeskanzlers von 1970 bis 1983. © Jacqueline Godany/Anzenberger

Paul Lendvais neues Buch ist einerseits eine Liebeserklärung an Österreich, andererseits eine Abrechnung mit seinen Lenkern.

Viktor Hermann01.11.2022

Die österreichische Politik steht, so wie die Politik in allen europäischen Ländern, vor gewaltigen Herausforderungen. Niemand weiß, wie schwer wir von der nächsten und der übernächsten Welle von Covid-19 getroffen werden; die Auswirkungen der bisherigen Wellen mit streckenweise herausgefordertem Gesundheitssystem und die Wirtschaft würgenden Lockdowns sind noch lange nicht bewältigt. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine fordert die Solidarität auch der Österreicher, die steigenden Energiepreise schockieren uns alle und verleiten so manchen populistischen Politiker zu Zweifeln an der Notwendigkeit der Sanktionen gegen Russland. Ganz zu schweigen von den „Putin-Verstehern“, die der europäischen Politik gern einen völlig anderen Drall gäben.

In der Republik Österreich freilich kommt zu diesen krisenhaften Entwicklungen noch ein ganz anderes Problem hinzu: Die Qualität des aktiven politischen Personals lässt doch sehr viel Luft nach oben. Ein Skandal jagt den nächsten und binnen drei Jahren wird Österreich nunmehr vom vierten Bundeskanzler regiert: Nach dem Sturz der ersten Regierung von Sebastian Kurz kam eine Expertenregierung unter Brigitte Bierlein, danach wieder Kurz, dann Alexander Schallenberg und schließlich Karl Nehammer.

Da verwundert es nicht, dass der österreichische Journalist, Moderator und Buchautor Paul Lendvai sich beim Titel seines jüngsten Buches an eine Zeile der österreichischen Bundeshymne anlehnt: Vielgeprüftes Österreich – Ein kritischer Befund zur Zeitenwende. Lendvai ist seit mehr als 60 Jahren als Publizist tätig und hat die österreichische Innenpolitik in dieser Zeit aus allernächster Nähe beobachtet, ohne sich je mit ihr gemeinzumachen oder ihr zu nahe zu kommen.

Sehr differenzierte Betrachtung

Lendvai spannt den Bogen zwischen dem Erbe der Habsburgermonarchie und der modernen Republik, er leuchtet so manche Schatten aus, die von der unseligen Hitler-Zeit bis in unsere Tage hereinragen. Dank seiner intimen Kenntnis vieler prägender Persönlichkeiten der Zweiten Republik gelingt es dem Autor, Glanzpunkte der Innenpolitik ebenso herauszustellen, wie den manchmal schleichenden, manchmal abrupten Niedergang politischer Moral in Parteien zu schildern. Dabei vermeidet er es, Politiker zu kategorisieren, sie anhand von persönlichen Vorlieben oder Abneigung zu beurteilen.

Obwohl seine Bewunderung für den ersten sozialdemokratischen Kanzler Bruno Kreisky unübersehbar ist, hält Lendvai genug Distanz zum „Sonnenkönig“, um auch Fehlentwicklungen unter Kreisky herauszustellen. So weist der Autor auf Kreiskys schwieriges Verhältnis zu Israel hin, auf die Neigung zu wahltaktisch motivierten faulen Kompromissen und „zur (oft undifferenzierten) Versöhnung und des (oft unverzeihlichen) Vergessens“ im Zusammenhang mit der österreichischen Mitschuld an den Naziverbrechen gegen die Juden.

Wie sehr Lendvai zur Differenzierung fähig ist, zeigt seine Schilderung jenes Politikers, der die Freiheitliche Partei zunächst einmal aus der rechten Schmuddelecke herausgeholt und demokratiefähig gemacht hat: Friedrich Peter. Der Mann, der Bruno Kreiskys Minderheitsregierung stützte und dafür eine Wahlrechtsreform bekam, die kleinere Parteien nicht mehr so schwer benachteiligte, war als ehemaliger SS-Offizier belastet und hat doch, so Lendvai, die Wandlung zum aufrechten und leidenschaftlichen Demokraten geschafft. Hier zeigt der Autor auch die Wechselwirkung, die diese Beziehung zwischen Kreisky und Peter hatte: Ohne die Duldung der SPÖ-Minderheitsregierung hätte es womöglich nicht elf Jahre SPÖ-Alleinregierung gegeben, und umgekehrt wurde Kreisky dadurch zum Steigbügelhalter späterer Erfolge der FPÖ.

Lendvai beschreibt ausführlich die Karrieren der folgenden Kanzler, charakterisiert ihre Stärken und legt auch ihre Schwächen offen. Freilich diagnostiziert der Autor nach Franz Vranitzky einen verheerenden Niedergang der SPÖ und nach Wolfgang Schüssel einen ebensolchen der Volkspartei. Auch das Kapitel Jörg Haider beschreibt Lendvai ausführlich, zeichnet dessen Skrupellosigkeit ebenso wie seine Wandelbarkeit – Haider konnte durchaus auch intelligent und charmant sein, aber ebenso schnell auf populistische Demagogie umschalten.

Schliche und Tricks

Eine leidvolle Erfahrung schildert der Autor in Bezug auf die Reaktionen, die Österreicher erlebten, sobald sie sich im Ausland aufhielten. Österreich stand mehrfach „unter Beobachtung“. Die Wahl Kurt Waldheims zum Bundespräsidenten erregte viele Gemüter in Österreich und rund um den Globus. Waldheims persönliche Geschichte im Zweiten Weltkrieg war Anlass für heftige Kritik vor allem in den USA bis hin zum Einreiseverbot. Wer Ende der 1980er Jahre in die USA reiste, kam in die Verlegenheit, Österreich wegen Waldheim gegen Vorwürfe zu verteidigen, selbst wenn man nicht zu dessen Anhängern zählte. Wegen der Bildung der ÖVP-FPÖ-Regierung unter Schüssel geriet die Republik erneut „unter Beobachtung“, und als Sebastian Kurz mit Heinz-Christian Strache 2017 eine Koalition bildete, geschah das wieder.

Eindrücklich zeichnet Lendvai den Weg der Volkspartei von der schwarz-blauen Regierungsbildung des Wolfgang Schüssel bis zu den Skandalen, an denen die türkis-blaue Regierung des Sebastian Kurz scheiterte unter dem Titel „Vom Original zur misslungenen Kopie“. Von den ÖVPChefs nach Schüssel hat nur Michael Spindelegger nachhaltige Bedeutung – nicht wegen irgendeiner Leistung, sondern weil er das Ausnahmetalent Sebastian Kurz entdeckt und gefördert hat. Lendvai schildert recht ausführlich die Übernahme und Umgestaltung der ÖVP durch Kurz, seine Erfolge und sein Scheitern, zunächst durch die Blamage seines Koalitionspartners aufgrund des berüchtigten IbizaVideos, später durch Bekanntwerden der Schliche und Tricks, mit denen Kurz und sein engster Kreis sich selbst an die Macht gehievt hatten. Das alles erinnert an ein Wort des Schriftstellers Ambrose Bierce. Er nannte Politik „die Führung öffentlicher Angelegenheiten zum privaten Vorteil“.

Lendvai liebt seine Heimat Österreich, das liest man aus jedem Kapitel dieses Buches. Und gerade deshalb kritisiert er das „betrübliche Sittenbild“, das das Land derzeit bietet. Die unwürdigen Streitereien um die Coronamaßnahmen, die Art und Weise, wie einzelne Politiker und Manager Österreich in eine wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland manövriert haben, die unerträglichen Putin-Versteher in den Reihen der österreichischen Politik, die Flirts mit autoritären Nachbarn – all das bedrückt Paul Lendvai und bewegt ihn zu dieser kritischen Bilanz in Buchform.


Buchtipp 

 

 

Paul Lendvai

Vielgeprüftes Österreich – Ein kritischer Befund zur Zeitenwende

Ecowing 2022,

320 Seiten, 26 Euro

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