Editorial
Fremde Nachbarn
Will Russland zu Europa gehören?
Der Fall Nawalny ist zum Wendepunkt in den deutsch-russischen Beziehungen geworden, denn mit ihm wurde aus der politischen Krise eine Vertrauenskrise. Die Frage ist, ob das freundschaftliche Verhältnis, das Kohl und Gorbatschow vor 30 Jahren aufbauten, und das vor dem Hintergrund der gemeinsamen leidvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts gar nicht hoch genug bewertet werden kann, für immer verloren ist. Wie werden sich Deutschland, Europa und Russland nun ausrichten? Diesen und weiteren Fragen sind unsere Autoren in unserer Titelstrecke nachgegangen.
Ob Russland zu Europa gehören kann, liegt zuvorderst daran, ob Russland zu Europa gehören will. Osteuropaexperte Ulrich Schmid schreibt in seinem Beitrag: „Die Brüsseler Zentrale existiert nicht auf der politischen Landkarte der Moskauer Führungsriege. Dafür pflegt Putin opportunistische Partnerschaften mit der Türkei und China.“ Letztlich gelte für Putin das Diktum von Zar Alexander III: Russland hat nur zwei Freunde, die Armee und die Flotte. Katja Gloger, in den 1990er-Jahren Stern-Korrespondentin in Moskau, sieht Russland in eine lange Phase der Einsamkeit driften. Fragil sei die angestrebte Allianz mit China, und wenn durch zunehmende ökonomische und militärische Verflechtung der Mega-Kontinent Eurasien weiter wächst, wäre Russland nur ein Juniorpartner. Sie schreibt, dass China für das ökonomisch bestenfalls stagnierende Russland im Moment zwar eine Alternative zum Westen sei, es aber vielleicht in absehbarer Zeit schon für Russland keine Alternative mehr zu China gebe.
Eine krachende Antwort auf die These von der Isolation Russlands gibt Fjodor Lukjanow. Der Chefredakteur der einflussreichen russischen Zeitschrift Russia in Global Affairs schreibt, dass Russland nach dem Zusammenbruch der liberalen Ordnung nicht mehr internationalen Institutionen vertraut, sondern sich auf seine eigenen Stärken besinnt – allen voran das Militär. In den vergangenen Jahrzehnten hätten wir uns an den Gedanken gewöhnt, institutionelle Zusammenarbeit sei eine natürliche Weise der weltpolitischen Entwicklung. Doch in den internationalen Beziehungen sei dieser Zeitabschnitt sehr kurz und gelte als Ausnahme. Nun kehre die Welt zur historischen Norm zurück.
Der Brückenbau, der auf politischer und diplomatischer Ebene nicht mehr möglich scheint, gelingt noch der Kultur, wie unser Herausgeber Johann Michael Möller an Thomas Schmidts neuem Buch Rilke und Russland zeigt. Dass die Geschichte tatsächlich Anlass zur Hoffnung gibt, zeigt auch der Beitrag von Bestsellerautor Orlando Figes. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts erschien Russland auf der Kulturlandkarte Europas: Im November 1843 gab die Sopranistin Pauline Viardot ihr Debüt in Sankt Petersburg als Rosina in „Der Barbier von Sevilla“. Erst kam die Musik, dann die Kunst und schließlich die Literatur. Als Viardot 1910 starb, lag Russland kulturell nicht mehr am Rande Europas, sondern war zu seinem Herzstück geworden. Und das war just die Zeit, zu der Rilke Russland erlebte.
Da das Fundament für eine neuerliche Annäherung in der Zukunft in der Gegenwart gelegt werden muss, lohnt ein Blick auf die Arbeit der Stiftung Deutsch-Russischer Jugendaustausch, die es Jahr für Jahr Tausenden jungen Menschen ermöglicht, Russland und seine Menschen kennenzulernen. Dass sich nun mit prominenter Unterstützung ein deutsch-russisches Jugendwerk gründen will, könnte ebenfalls Anlass zur Hoffnung geben. Über die Notwendigkeit, gerade in heutigen Zeiten den Jugendaustausch zwischen beiden Ländern zu fördern, sprach unsere Redakteurin Sabine Meinert mit Stiftungsgeschäftsführer Thomas Hoffmann.
Von Moskau nach Taipeh ist es weit, Luftlinie 7357,97 Kilometer, um genau zu sein. Für die Rotarier aus Russland, Deutschland, Österreich und aller Welt kein Hindernis, im Juni gemeinsam die RI Convention in Taiwans Hauptstadt zu erleben – sofern es die Pandemie zulässt. In der pulsierenden Metropole und drum herum gibt es so viel Sehens- und Erlebenswertes: historische Tempel zwischen moderner Architektur, Wanderwege und Wasserfälle in den Bergen direkt hinter der Stadtgrenze, ein Bad in heißen Quellen, das nationale Palastmuseum mit nahezu 700.000 chinesischen Kunstgegenständen, von denen einige auf 5000 v. Chr. datiert werden, Fahrradtouren entlang der Flüsse Tamsui und Keelung und nicht zuletzt die sensationelle Küche des Landes. Lassen Sie sich von unserer Autorin Susie L. Ma auf die „Ilha Formosa“ im Südchinesischen Meer entführen, wie ihre Entdecker, portugiesische Seefahrer, die Insel einst tauften.
Einen guten Start ins neue Jahr und viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Björn Lange
Chefredakteur
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