Editorial
Kämpfen und leben
Ukraine-Krieg mit neuen innenpolitischen und innereuropäischen Dimensionen
Die Rezeption des Kriegs gegen die Ukraine hat sich verändert und ist vielschichtiger geworden. Auf das anfängliche Entsetzen folgten die Phasen des Schweigens und der Betroffenheit, auf die Flüchtlingsdebatte folgte die Aufrüstungsdebatte. Dann meldete sich Jürgen Habermas als erster der großen Intellektuellen zu Wort und erhielt für seine defensive Haltung von der einen Seite Beifall, von der anderen Seite heftigen Gegenwind. Die gegenwärtigen Debatten betreffen nicht mehr nur die Ukraine und Russland, sondern haben innenpolitische und innereuropäische Dimensionen erhalten – und damit sind globale Fragen aufgebrochen, vor denen sich die postheroischen westlichen Gesellschaften allzu lang gedrückt haben.
Mit diesen Fragen beschäftigt sich Gerd Koenen zum Auftakt unserer Titelgeschichte. Der Historiker und Osteuropa-Kenner geht der „selbstidiotisierenden Angst“ nach, mit der die deutsche Öffentlichkeit auf die „frivolen Ankündigungen von Atomschlägen“ reagiert, und leitet aus Russlands Drohungen Verpflichtungen für Deutschland und Europa ab. Zustimmung erhält Koenen von Josef Braml: Der USA-Experte schreibt, dass die USA bereits heute nicht mehr in der Lage wären, einen Zweifrontenkrieg gegen Russland und China zu gewinnen. Will Europa als Ganzes nicht die Erfahrung machen, dass die eigenen Interessen „einem Deal größerer Mächte geopfert werden“, müsse es sich schleunigst über eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten Gedanken machen – „im konventionellen wie im nuklearen Bereich“.
Sehr persönlich, hochemotional und darum lesenswert sind die Gedanken von Semjon Glusman, dem bekannten Kiewer Psychiater, Freiheitskämpfer und Dissidenten, der in den 1970er und 80er Jahren wegen „antisowjetischer Agitation und Propaganda“ für zehn Jahre im Gulag verschwunden war. Sein Beitrag befasst sich mit dem Recht, den angreifenden Feind zu töten, und die „dumme Unentschlossenheit westlicher Politiker, die aus einem unbedeutenden, bemitleidenswerten kleinen Mann ein schreckliches Ungeheuer geschaffen haben.
Und während die Europäer diskutieren und die Ukrainer kämpfen, geht nicht nur das Sterben, sondern vor allem das Leben in der Ukraine weiter. Die größte und wichtigste Lebensader des Landes ist der Dnepr, der in Russland entspringt und sich von den Prypjatsümpfen bis zum Schwarzen Meer durch die ganze Ukraine windet. Lange beschrieben Historiker und Intellektuelle den Dnepr als Trennlinie zwischen Ost und West, wo sich zwei völlig unterschiedliche Kulturkreise herausgebildet hätten. Lange mögen sie damit recht gehabt haben. Unser Fotograf Florian Bachmeier war von Anfang bis Mitte Mai an den Ufern des „Schicksalsstroms“ unterwegs, und die Menschen, denen er auf beiden Seiten begegnete, beschrieben den Fluss als nationales Symbol, der das Land nicht trennt, sondern vereint.
Zum Leitbild Rotarys zählen seit jeher Grundwerte wie Solidarität, Toleranz, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit. Was liegt da näher, als sich in Kinder- und Jugendhäusern für die Jüngsten unserer Gesellschaft einzusetzen, ihnen Halt zu geben und Perspektiven zu eröffnen? Da ist zum Beispiel das Kinder- und Jugendhaus im Salzburger Stadtteil Liefering, in dem sich der RC Salzburg-Residenz engagiert. Dort werden Kinder aus sozial benachteiligten Familien bei den Hausaufgaben betreut, sie lernen, wie man aus regionalen Lebensmitteln leckere Gerichte zaubert, erstellen eine Kinderzeitung und produzieren ihre eigene Radiosendung. Von diesem und sechs weiteren nachahmenswerten rotarischen Engagements in Kinder- und Jugendhäusern erzählt unser „Fokus“.
Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Björn Lange
Chefredakteur
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