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Verfreundete Brudernationen

Forum - Verfreundete Brudernationen
Córdoba/Argentinien, 21. Juni 1978: In der 59. Minute des letzten Gruppenspiels zwischen Österreich und Deutschland unterläuft Berti Vogts ein Eigentor zum 1:1. Hans Krankl (66., 88.) besiegelt dann mit seinem Doppelpack die deutsche „Schmach von Córdoba“ © Schnoerrer/Picture-Alliance/dpa

Schon bald reisen wieder Hunderttausende deutscher Touristen nach Österreich. Zu jenen Nachbarn, die ihnen sprachlich wie kulturell am nächsten sind, und doch so fremd und fern.

Rolf Hessbrügge01.12.2021

Der größte Unterschied zwischen Österreichern und Deutschen, heißt es, ist die gemeinsame Sprache. Überall lauern Missverständnisse. Wenn etwa eine Wienerin nach einem stressigen Arbeitstag vom Ausrasten spricht, meint sie vermutlich Ausruhen, nicht Ausflippen wie im Hochdeutschen. Aber was heißt hier Hochdeutsch? Viele Österreicher werten es als Affront, dass ihre Nachbarn die vermeintlich superiore Sprachkultur pflegen. Für sie reden Deutsche eher „nach der Schrift“. Dabei ist Hochdeutsch, wie es einst nur von Düsseldorf südwärts bis zur Steiermark gesprochen wurde, kein Qualitätssiegel, sondern eine alte regionale Abgrenzung zum Niederdeutschen, das in den Niederungen Norddeutschlands erklang. Zugegeben, es ist kompliziert.

Martin Reisigl, Sprachforscher an der Universität Wien, hat jedenfalls festgestellt, dass es „auf deutscher Seite oft ein unbewusstes und unbegründetes sprachliches Überlegenheitsgefühl und auf österreichischer Seite ein sprachliches Unterlegenheitsgefühl gibt“. Wer eine bundesdeutsche Standardvarietät spreche, werde im Job „teilweise für kompetenter gehalten“, verrät Reisigl, „selbst wenn dies fachlich nicht begründet ist“. Österreicher hingegen würden „oft für gemütlicher gehalten“ – eine eher nachrangige Qualifikation.

Piefke, der überhebliche Deutsche

Natürlich sind es nicht allein sprachbedingte Fehlinterpretationen, die das Verhältnis der verfreundeten Brudernationen so herzlich schwierig machen. Kompliziert ist auch die gemeinsame Geschichte, in der es zu heftigen Kämpfen kam. 1866 demütigte Preußen bei Königgrätz die österreichische Armee. Dass die eigentliche Konstellation im Deutschen Krieg viel komplexer war, ist heute weithin vergessen: Österreich, damals Führungskraft im Deutschen Bund, kämpfte Seite an Seite mit Bayern, Sachsen, Hessen und zehn weiteren deutschen Staaten, die alle nur ein Ziel hatten: Preußens Vormachtstreben zu unterminieren, was krachend misslang.

Bei der anschließenden Siegesparade dirigierte der preußische Kapellmeister Johann Gottfried Piefke den von ihm komponierten triumphalen „Königgrätzer Marsch“. So wurde „der Piefke“ donauabwärts zum Synonym für den überheblichen Deutschen. Das blieb er auch während zweier Weltkriege und über 1945 hinaus. Bis heute. Es galt und gilt, sich abzugrenzen, nicht zuletzt wegen der Schuldfrage. „Das Gefühl, auf einer großen Geschichte aufzubauen, ist in meiner Heimat viel ausgeprägter als in Deutschland“, sagt Walter Lendl, Autor des Buches Darum nerven Österreicher. Der Grazer, wohnhaft in Berlin, zeichnet ein skurriles Bild von seinen Landsleuten: „Fast hätten sie es geschafft, die Welt glauben zu machen, Hitler sei Deutscher und Beethoven Österreicher gewesen.“

Rot-Weiß-Rot inszeniert sich gern als Kulturnation: Mozart, die Staatsoper, das Burgtheater. Dabei geht es um Vermarktung, aber auch um die Betonung einer eigenen Identität, losgelöst vom spröden Deutschland. Die meisten Österreicher haben das verinnerlicht, die Wiener Wahlkampfstrategen sowieso: Als der Grüne Alexander Van der Bellen 2016 zur Stichwahl ums Amt des österreichischen Bundespräsidenten gegen Norbert Hofer von der rechtspopulistischen FPÖ antrat, antworteten beide auf die Frage „Was ist Heimat für Sie?“ mit einer Abgrenzung zu Deutschland: Der spätere Sieger Van der Bellen attestierte seinen Landsleuten weniger Ellbogenmentalität als den Nachbarn, Hofer nannte die Österreicher schlicht „gemütlicher“ als Deutsche. Schon der Ex-FPÖ-Vorsitzende Jörg Haider (†), der Österreich 1988 als „Missgeburt“ bezeichnet hatte, schwenkte später um: vom Deutschnationalismus auf Kurs Rot-Weiß-Rot.

Haider hätte es früher erkennen können. 1978 hatte eine weitere erbitterte Schlacht zwischen den Brudernationen getobt, diesmal im argentinischen Córdoba: Österreichs Aus bei der Fußball-WM stand bereits fest, während das DFB-Team noch alle Chancen hatte. Doch der Titelverteidiger unterlag mit 2:3. Hans Krankl, zweifacher Torschütze in Rot-Weiß-Rot, sah den großen Bruder an der eigenen Überheblichkeit scheitern. „Unsere Journalisten trugen uns im Vorfeld ständig zu, was deutsche Spieler in Bild gesagt hatten“, erinnert sich der 68-Jährige: „‚Die Österreicher putzen wir weg!‘ und dergleichen. Das brachte uns erst in Wallung.“ Nach dem Spiel druckte Bild Krankls Telefonnummer. „Ich bekam Hunderte Anrufe aus Deutschland. Die meisten waren sehr nett, manche sagten: ,Gut, dass Sie es dieser arroganten Truppe gezeigt haben.‘“

Wer ist hier humorlos?

Weniger höflich fielen deutsche Reaktionen auf Die Piefke-Saga aus. In dem TV-Mehrteiler karikierte der ORF Anfang der 90er Jahre das Herrengebaren deutscher Tirol-Urlauber und die gespielte Freundlichkeit ihrer Gastgeber: die Einheimischen servil bis zur Selbstverleugnung, die Touristen plump, aufgeblasen, humorlos. Letzteres schien bestätigt, als österreichische Gazetten 2018 über einen deutschen Boykott gegen eine Osttiroler Bäckerei berichteten. Inhaber Ernst Joast hatte eine Bühneninszenierung der Piefke-Saga gesponsert. Als die Süddeutsche Zeitung bei ihm nachfragte, relativierte der Bäcker die Boykott-Storys: Eine einzige E-Mail habe er bekommen, von einem deutschen Urlauber-Paar, das fortan woanders einkaufen wollte.

Schriftsteller Walter Lendl rät bei satirischen Sticheleien seiner Landsleute zu germanischer Gelassenheit: „Österreicher schauen ja nicht auf Deutsche herab, sondern zu ihnen auf.“ Das sei wie unter Geschwistern: „Der große Bruder schert sich kaum um den kleinen. Deshalb berichten deutsche Medien allenfalls über Skandale aus Österreich.“ Umgekehrt sei deutlich mehr Interesse vorhanden: „In Österreich kommt kaum ein Bericht und schon gar keine Statistik ohne Deutschland-Vergleich aus. Der kleine Bruder bewundert den großen, er will alles über ihn wissen und sich mit ihm messen.“

Ein deutscher Wirtschaftsprofessor der Uni Wien ermittelte 2016 etwas anderes, nämlich blanke Ressentiments: Laut Thomas Köllen hatten 37 Prozent seiner rund 200.000 in Österreich lebenden Landsleute das Gefühl, dass „hier Deutschsein ein Defizit ist“. Da wundert es kaum, dass etwa die Hälfte der teutonischen Migranten nach spätestens fünf Jahren wieder abwandert – wobei viele ohnehin nur als Saisonkräfte kommen: „In den letzten Jahren heuern immer mehr Kellner aus Sachsen, Berlin oder anderswo in meiner Heimat an“, registriert Walter Lendl. „Für viele Österreicher ist das eine Genugtuung, denn früher kannten sie Deutsche nur als finanzstarke Urlauber oder importierte Führungskräfte.“

Doch selbst ein kellnernder „Piefke“ eckt in Österreich schnell an. Dazu genügt es, das Wort „Kaffee“ auf der ersten Silbe zu betonen oder den einheimischen Gast zu fragen, ob’s „lecker“ war. „,Lecker‘ ist phonetisch sehr zackig“, findet Lendl: „In meiner Heimat, wo die Sprache eher geschmeidig daherkommt, bereitet ,lecker‘ Unbehagen.“ Nur leider fehlt die österreichische Entsprechung. „G’schmackig“ bedeutet eher pikant, „wohlschmeckend“ ist zu sperrig, „gut“ zu allgemein. Also sagen Wiener Youtube-Kids heute „lecker“, wenn sie am Würstelstand eine „Berliner Currywurst“ verspeisen. Älteren Mitbürgern zerreißt es fast das Trommelfell.

„Sprachliche Sozialisation“, erklärt Linguist Martin Reisigl, „ist nicht wertneutral, sondern kulturell und sprachideologisch eingefärbt. Dabei wird die eigene sprachliche Varietät in der Regel besser bewertet.“ Und doch sind österreichische Mundarten in Deutschland wohlgelitten. Viele der knapp 170.000 im Nachbarland lebenden „Ösis“ sind regelrecht genervt von den Sympathiebekundungen, wie Reisigl weiß: „Das deutsch-österreichische Verhältnis mutet auch deshalb so schwierig an, weil sich manche Österreicher von Deutschen nicht wirklich ernst genommen fühlen. Das zeigt sich etwa dort, wo sprachliche Besonderheiten als niedliche dialektale Abweichungen von der eigenen Sprachnorm angesehen werden.“ Etwa, wenn ein Wiener nicht Januar, sondern „Jänner“ sagt – oder „Erdäpfel“ statt Kartoffeln.

Auf Umwegen ans Ziel

Auch gesprächstaktisch verfolgen die Nachbarn grundverschiedene Ansätze, findet Walter Lendl: „Deutsche reden gern Tacheles, in der Erwartung, dass auf ein Treffen ein schnelles Resultat folgt. Das wirkt auf Österreicher sehr zweckorientiert, wenig empathisch. Bei uns plaudert man erst mal, versucht auf persönlicher Ebene gute Stimmung zu verbreiten.“ Das sei keineswegs Zeitverschwendung: „In der deutschen TV-Branche sind Österreicher auffallend erfolgreich, vielleicht auch deshalb, weil sie gut mit Leuten können“, mutmaßt Lendl und insinuiert eine weitere Erkenntnis: Wenn es zwischenmenschlich passt, sind auch sprachideologische Barrieren keine echten Hindernisse.

Rolf Hessbrügge

Rolf Hessbrügge ist ein freier Sport- und Wissenschafts- Autor aus Wien. Zu seinen regelmäßigen Auftraggebern zählen Magazine wie
11 Freunde, Boxsport, Bild der Wissenschaft oder Natur, außerdem Tageszeitungen wie WAZ und Tagesspiegel.