VfB Stuttgart 21
Wenn es einer schafft, die Stuttgarter emotional über sich hinauswachsen zu lassen, dann dieser Verein: Die Weiß-Roten mit dem markanten Brustring haben eine glorreiche Vergangenheit und bauen an einem großen Zukunftsprojekt.
Hansi Müller (64) hat vieles erlebt mit seinem Klub, "meistens gute Zeiten", wie er betont. Der gebürtige Stuttgarter durchlief den VfB-Nachwuchs, wurde hier zum Profi und zum Idol, später sogar Europa- und Vizeweltmeister. Nach seiner Zeit als Spieler fungierte Müller im Vorstand, war Mediendirektor und saß bis 2015 im Aufsichtsrat. Heute ist er Unternehmer, hält Impulsvorträge und Motivationsreden. Müller versteht sein Geschäft: "Der VfB hat die Power, die Leute zu elektrisieren, in Stuttgart und Umgebung, eigentlich sogar in ganz Württemberg", sagt er und lässt durchblicken, dass er gern nochmal mit dem roten Brustring ins Stadion einlaufen würde: "Wenn nach dem Ende der Corona-Beschränkungen wieder 60.000 Menschen auf den Rängen sind", schwärmt Müller, "dann kommt hier mal so richtig der zwölfte Mann ins Spiel."
Der Manager, der den VfB wieder sexy gemacht hat, sieht aus wie ein Surfer: Sven Mislintat (48), lange Haare, 15-Tage-Bart, kickte einst in der Oberliga Westfalen. "Der Sven", erzählt man sich, habe "mit Auge gespielt". Aber seine Beine waren nicht für eine Profikarriere gemacht. Später, bei Borussia Dortmund, durfte Mislintat die Füße auf den Schreibtisch legen und seinen Kennerblick für sich arbeiten lassen. Zuerst war er Spielanalyst, der die Bewegungen des eigenen Teams und der kommenden Gegner sezierte, dann Scout: Mislintat entdeckte unbekannte Talente wie Robert Lewandowski oder Jadon Sancho.
Im Fußball geht es um Titel, aber auch um Sehnsüchte. Und so träumte mancher Stuttgarter von großen Zeiten, als dieser Mislintat im April 2019 Sportdirektor beim VfB wurde. Dass der Abstieg zu diesem Zeitpunkt nicht mehr vermeidbar war, erwies sich als Segen. Nun konnte das "Diamantenauge" ein völlig neues Team zusammenfügen. Wenn Fußballer Aktien sind, ist Sven Mislintat der André Kostolany der Talentbörse. Im Sommer 2019 ließ er mehr als 20 meist mittelmäßige Profis ziehen, was dem klammen VfB rund 80 Millionen Euro Ablöse bescherte. Im Gegenzug investierte Mislintat 20 Millionen in ein Dutzend "Blue Chips": Allein Sasa Kalajdzic (24), der für 1,8 Millionen von Admira Mödling aus Österreich kam, hat heute einen Marktwert von 30 Millionen. Der Japaner Wataru Endo (28), zuvor in Belgien aktiv, kostete nur 1,7 Millionen. "Mittlerweile", findet Hansi Müller, "ist Endo der wichtigste Mann in der Mannschaft."
In guten Zeiten hat der VfB eine wundersame Wirkung auf seine Fans: Er lässt sie die uralten Tugenden der "schwäbischen Ehrbarkeit" – Sittentreue, Ordnungsliebe, Fleiß und Sparsinn – vergessen, zumindest für 90 Minuten. Welche Schockwellen der Ekstase der Klub im ach so biederen Stuttgart freisetzen kann, zeigte sich bei den Meisterfeiern 1984, 1992 und insbesondere 2007, als 250.000 Menschen den Schloßplatz zum Beben brachten. Auch das "Magische Dreieck" um die VfB-Stars Fredi Bobic, Giovane Elber und Krassimir Balakow ließ die Schwaben Mitte der 90er emotional über sich hinauswachsen. 2003 waren es die "Jungen Wilden" um Kevin Kuranyi, die Manchester United mit 2:1 in die Knie zwangen. Stuttgart war aus dem Häusle!
Für Hansi Müller ist dieser VfB eine Qualitätsmarke, wie Daimler, Bosch oder Die Fantastischen Vier. "Der Klub steht ja für etwas. Er war fünfmal Meister, ist Fünfter in der Ewigen Bundesliga-Tabelle und hat ein riesiges Einzugsgebiet, ganz anders als in Nordrhein-Westfalen, wo du gefühlt alle 30 Minuten an einem Bundesliga-Stadion vorbeifährst." Die Weiß-Roten sind eine Art schwäbisches Nationalteam. Der Brustring stiftet Identität.
Dabei stand der Verein bis Mitte der 1920er-Jahre im Schatten des Lokalrivalen Stuttgarter Kickers. Erst in den 50ern, als der VfB zweimal Meister wurde, war man endgültig die Nummer 1 in der Stadt. Doch auf große Titel folgten meist lange Jahre im Mittelmaß, was auch selbstverschuldet war: Statt zu investieren wie ein Stuttgarter Unternehmen, sparte der Klub oft wie eine schwäbische Hausfrau. "In meiner Zeit im Aufsichtsrat saß der damalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt dem Gremium vor", erzählt Hansi Müller. "Hundt wollte am Jahresende immer die Schwarze Null. Aber manchmal musst du auch ein bisschen ins Risiko gehen." Und noch einen Bremsfaktor hat Müller ausgemacht: "Wenn es läuft, wird der VfB schnell zu einer Art Wohlfühl-Oase. Du hast hier ein schönes Umfeld, ein tolles Stadion, Mercedes als Partner. Da denken manche, es geht von alleine."
Spieler kommen und gehen, das weiß auch Müller, der 1982 vom VfB zu Inter Mailand wechselte. "Aber bei den wichtigsten Ämtern im Klub, da brauchst du Kontinuität", appelliert er, "in der sportlichen Leitung und auf der Trainerposition." Mislintats Königstransfer war demnach Pellegrino Matarazzo. Der Italo-Amerikaner, zuvor Co-Trainer in Hoffenheim, wurde Ende 2019 Chefcoach beim VfB und fügte sich perfekt ein, als letztes noch fehlendes Teil im Stuttgarter Strategie-Puzzle. "Rino", wie er gerufen wird, studierte Mathematik an der Columbia University und versteht die Raumlehre des Fußballs wie kaum ein anderer. Obendrein spricht er Deutsch, Englisch, Italienisch und, fast noch wichtiger: die Sprache der Spieler.
Matarazzo übernahm den VfB auf Rang drei der 2. Liga und führte ihn zurück in die Bundesliga. Parallel stieg die Zahl der Vereinsmitglieder auf das Rekordniveau von über 70.000. "Da hat man wieder gesehen: Wenn's nur einigermaßen läuft, sind die Leute da", schwärmt Hansi Müller: "Selbst in der 2. Liga kamen plötzlich 55.000 Zuschauer. Das war Begeisterung pur. Die Stadt, die Region haben den VfB getragen und umgekehrt." Doch der Aufstieg war nur die erste Etappe für Verein, Umfeld, Sportdirektor und Coach. Die Reise soll weiter gehen, gemeinsam: "Egal, wo wir stehen, und selbst wenn wir absteigen, Rino ist und bleibt unser Trainer", verriet Mislintat im Fachblatt kicker und orakelte: "Rino wird hundertprozentig ein Champions-League-Trainer." Vielleicht muss er dazu nicht mal den Verein wechseln.
Der VfB Stuttgart 2021 ist das spannendste Zukunftsprojekt des deutschen Fußballs. Vergangene Saison betrug der Altersschnitt der eingesetzten Spieler 24,5 Jahre. Der aktuelle Kader liegt noch ein gutes Jahr darunter. Kein Bundesligist ist jünger, kaum ein Team so talentiert. Der VfB sei ein Klub der Möglichkeiten, betont Mislintat, und sein Mantra verfängt: Wenn die Fans auf den Rasen blicken, erkennen sie ein Team, das eines Tages um Titel spielen könnte – auch wenn es bislang zwischen oberem und unterem Mittelfeld der Tabelle pendelt. "Noch fragen sich manche im Umfeld: Wo geht die Reise hin?", weiß Hansi Müller. "Aber Mislintat und Matarazzo haben bewiesen, dass sie es können. Wenn man sie kontinuierlich arbeiten lässt, ist hier sicher einiges drin."
Rolf Heßbrügge erlebte beim Journalisten-Abend, zu dem der VfB im Trainingslager traditionell einlädt, was schwäbische Sparsamkeit ist. Um 22 Uhr sagte der damalige Präsident Erwin Staudt: "So, liebe Reporter, ab jetzt zahlen Sie ihre Getränke bitte selbst."
Rolf Hessbrügge ist ein freier Sport- und Wissenschafts- Autor aus Wien. Zu seinen regelmäßigen Auftraggebern zählen Magazine wie
11 Freunde, Boxsport, Bild der Wissenschaft oder Natur, außerdem Tageszeitungen wie WAZ und Tagesspiegel.
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