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Zurück zu den Wurzeln

Titelthema - Zurück zu den Wurzeln
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Der Ball ist immer noch rund. Ansonsten ist im modernen Fußball nichts mehr, wie es einst war – immer mehr Fans kämpfen gegen diese Entfremdung an.

Rolf Hessbrügge01.06.2021

Wer das Innerste des FC Red Bull Salzburg erkundet, kann diesen Satz kaum ignorieren: „Wir sind der Fußball von morgen“, kündet es von jeder dritten Wand des futuristischen Trainingszentrums. Bei der überwältigenden Mehrheit der österreichischen Fußballfans sorgt diese Ansage für Albträume. Für sie verkörpern die „Dosen“ schon heute den Sieg von Kommerz über Tradition. Der Meister der Alpenrepublik hieß zuletzt achtmal in Folge Red Bull. Wie auch sonst?, könnte man fragen. Salzburgs Personalaufwand (2019/20: 54 Millionen Euro) ist dreimal so hoch wie der von Rekordmeister Rapid Wien (18 Millionen Euro). Die übrigen Klubs in Österreich liegen noch viel aussichtsloser zurück.


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Die exzessive Kapitalisierung einzelner Klubs durch Konzerne, Staatsfonds, Oligarchen oder Großspekulanten und die fortschreitende Kommerzialisierung der Champions League haben nahezu alle nationalen Meisterschaften zur Farce degradiert. In Deutschland gewann der FC Bayern die Schale zuletzt neunmal in Serie, mit einem kumulierten Vorsprung von über 100 Punkten. In Italien dauerte es zehn Jahre, ehe Inter Mailand im Mai den Abonnementmeister Juventus Turin ablöste. Spanien feierte zuletzt 2004 einen „Campeón“, der nicht in Madrid oder Barcelona residiert. Selbst in der Champions League hat sich der Wettbewerb dramatisch zugespitzt: Seit 2001 erreichten nur drei Teams, die nicht aus England, Spanien, Italien, Deutschland oder Frankreich stammten, das Halbfinale. Lediglich einer, der FC Porto, holte den Pott. Das war 2004.

Insofern schien es fast folgerichtig, dass am 19. April eine neue Liga ausgerufen wurde, in der Europas Elite unter sich bleiben sollte. Getrieben von gewaltigen Umsatzaussichten und gigantischen Schulden, präsentierten zwölf Klubs aus Spanien, Italien und England, darunter Real Madrid, der FC Barcelona und Manchester United, ihre Pläne für die European Super League (ESL). Andrea Sartori, Global Head of Sports beim Wirtschaftsprüfungsunternehmen KPMG, sieht einen „Wandel am oberen Ende der Fußballbranche“ und erklärt: „Die Eliteklubs haben ihr Geschäftsmodell zu Medien- und Unterhaltungsunternehmen hin entwickelt und sich in globale Marken verwandelt, die Publikum aus der ganzen Welt anziehen.“ Nun wollte man gebührend Kapital daraus schlagen.

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Die Ausrufung der ESL just an dem Tag, als die Uefa ihre Champions-League-Reform ab 2024 beschloss (mehr Teilnehmer, mehr Spiele, mehr Einnahmepotenzial), war ein Statement der Gier: Die rund 150 Millionen Euro, die ein CL-Sieger künftig als Entlohnung erwarten darf, sind Real und Co. längst zu wenig. Die ESL sollte mehr Ertrag in weniger Hände verteilen, von 20 Teilnehmern war die Rede. Finanziert werden sollte diese „Revolution der Reichen“ per 3,5-Milliarden-Kredit durch die US-Bank JP Morgan, was für jeden Klub rund 250 Millionen Euro an dringend benötigtem Frischkapital bedeutet hätte: Von den zwölf ESL-Gründern wies nur der FC Chelsea im Geschäftsjahr 2019/20 ein signifikant positives Ergebnis aus – weil die „Blues“ einem zeitweiligen Transferverbot seitens der Uefa unterlagen. Real und Barça gelten bereits als Schulden-Milliardäre, Manchester United ist nah dran. „Das sind Vereine, die in den letzten Jahren maßlos über ihre Verhältnisse gelebt haben“, schimpfte Gladbachs Sportdirektor Max Eberl. „Mit der Super League versuchen sie, ihren Arsch zu retten.“

Spielergehälter außer Kontrolle

Ob die Rechnung aufgegangen wäre? Branchenkenner glauben, dass sich die Ausgaben- und Schuldenspirale angesichts einer erhöhten Konkurrenzdichte in der ESL und ohne Financial-Fairplay-Regulativ der Uefa nur noch schneller gedreht hätte. KPMG-Experte Andrea Sartori bemängelt grundlegende Fehler im System: „Die Branche hat die Kosten, insbesondere die Gehaltsausgaben, nicht richtig kontrolliert. Inflationäre Spielergagen kombiniert mit steigenden Transfer- und Vermittlungsgebühren haben die Vereine unter Druck gesetzt.“ Die Pandemie habe die Instabilität des bestehenden Geschäftsmodells nur vergrößert. „Ich glaube nicht, dass die Super League die finanziellen Probleme der europäischen Klubs lösen wird ...“, befand auch Bayerns Vorstandschef Karl-Heinz Rummenigge, nachdem er eine ESL-Teilnahme abgelehnt hatte. Der wahre Profiteur der European Super League wäre wohl JP Morgan gewesen: Laut Guardian hatte sich das Institut für seinen Kredit eine Gesamtrendite von weit über zwei Milliarden Euro binnen 23 Jahren ausbedungen.

Gestoppt wurde die ESL durch die stürmischen Proteste englischer Fans, die in der abgeschotteten Liga einen Verrat an der Grundidee des sportlichen Wettbewerbs sahen. Nach nur zwei Tagen zogen die sechs Gründerklubs von der Insel ihre Teilnahme zurück. Doch das (vorläufige) ESL-Aus und halbherzig vorgetragene Reue konnten den Furor nicht mehr eindämmen, Englands Vereine hatten das Rad der Kommerzialisierung längst überdreht: Immer höhere Ticketpreise haben für eine Gentrifizierung der Tribünen gesorgt, immer absurdere Anstoßzeiten, zugeschnitten auf Asiens TV-Markt, für blankes Entsetzen – zumal ein Großteil der resultierenden Mehreinnahmen nicht in die Klubkassen fließt, sondern in jene der Eigentümer. In Großbritannien gibt es, anders als in Deutschland, keine „50+1“-Regel: Investoren können Vereine vollständig übernehmen und steuern.

Im Mai stürmten Hunderte Manchester-United-Fans das Stadion ihres Klubs und sorgten für die Absage des Liga-Spiels gegen Liverpool. Die Wut richtete sich gegen Joel und Avram Glazer, jene US-Investoren, die „ManU“ zum Renditeobjekt degradiert haben: Schon 2005, bei der fremdkapitalfinanzierten Übernahme, ließen die Brüder mehr als 500 Millionen Euro vom Kaufpreis (rund 900 Millionen Euro) als Verbindlichkeiten auf den Verein umschreiben. In den Folgejahren leiteten sie per Gewinnabschöpfung und Dividenden Hunderte Millionen in die eigenen Taschen. So hat die Übernahme dem Klub inzwischen mehr als eine Milliarde Euro entzogen. ManU-Legende Gary Neville (46) warb um Verständnis für die randalierenden Anhänger: „Es ist eine Warnung an die Besitzer, dass nicht einfach akzeptiert wird, was sie getan haben. Die Fans hatten eben genug.“ Um die Investoren zu vertreiben, riefen sie sogar zum Boykott gegen Sponsoren ihres Klubs auf.

Fragt man Fußballromantiker, hat sich ihr Sport spätestens seit der Jahrtausendwende nur noch in eine Richtung entwickelt: in die falsche. Fragwürdige Investoren, faule Vergaben von Großveranstaltungen und aufgeblähte Wettbewerbe wie Champions League, Europa League, Klub-WM oder die rätselhafte Nations League für Nationalteams haben die Glaubwürdigkeit des Spiels und seiner Kuratoren massiv beschädigt. Dazu passt, dass die WM 2026 in den USA mit 48 statt bisher 32 Teilnehmern stattfindet. Immer mehr Matches bedeuten immer weniger fußballerische Qualität. Obendrein haben die ständigen Einmischungen des Video-Assistant-Referees (VAR) dem Spiel jegliche Spontaneität der Emotionen geraubt.

Der erste ganz große Tabubruch aber war Salzburg. 2005 hatte die Red Bull GmbH den Traditionsklub Austria Salzburg übernommen und dessen Identität ausgelöscht: den Namen, die Farben, das Wappen, einfach alles. Was blieb, war ein sauber herausgeschältes Marketingkonstrukt namens FC Red Bull Salzburg. Europaweit demonstrierten Fans in den Kurven und protestierten gegen diesen „Diebstahl“. Red Bull aber beging schon bald das nächste Sakrileg: 2009 ließ man RB Salzburg klonen und setzte RB Leipzig in die deutsche Fußballlandschaft. Sport sei für RB nur Mittel zum Zweck, kritisierte Hans-Joachim Watzke 2016 in Sport Bild: „Da wird Fußball gespielt, um eine Getränkedose zu performen“, schimpfte der BVB-Boss und meinte: zu promoten.

Wo bleibt das Financial Fairplay?

2017 qualifizierte sich RB Leipzig als Bundesliga-Aufsteiger für die Champions League – nicht schlecht für ein Start-up, das per Eigendefinition nicht aufs große Geld, sondern auf kluge Konzepte setzt. In Wahrheit pumpte Red Bull Hunderte Millionen in einen Klub, der stets hochdefizitär blieb und 2019 der bilanziellen Überschuldung entgegengaloppierte. Die Konzernzentrale musste ihrer Fußballfiliale daraufhin 100 Millionen Euro an internen Verbindlichkeiten in Eigenkapital umschreiben. Der Volksmund würde sagen: schenken. Dabei hatte Leipzigs Vorstandsvorsitzender Oliver Mintzlaff dem Redaktionsnetzwerk Deutschland kurz zuvor etwas ganz anderes vorgegaukelt: „Unsere Darlehen kommen (...) zu marktüblichen Konditionen von Red Bull. Das Geld wurde uns nicht geschenkt, das sind Darlehen, die getilgt werden müssen.“

In der Branche fragt man sich, wie die Machenschaften bei RB mit dem Financial-Fairplay-Statut der Uefa vereinbar sind, laut dem ein Klub nur geringfügig mehr ausgeben darf, als er einnimmt. Auch sonst fanden sich auffallend oft Schlupflöcher, wo der spendierfreudige Red-Bull-Konzern auf die Kaste der Fußballfunktionäre traf. Der deutsche Ligaverband DFL winkte Leipzig 2014 ein Wappen durch, das im Wesentlichen dem Red-Bull-Logo gleicht. Die DFL hatte dem Retortenklub lediglich auferlegt, die „für Red Bull charakteristische gelbe Sonne“ zu entfernen. Die für Red Bull (auf Deutsch: Roter Bulle) offenbar weniger charakteristischen roten Bullen durften bleiben. Dabei dürfen Vereinswappen laut DFL keine große Ähnlichkeit mit Sponsoren-Logos aufweisen.

RB unterwandert Uefa-Regeln

Dass Leipzig und Salzburg zeitgleich in europäischen Wettbewerben antreten dürfen, ist nach Auffassung von Juristen ein weiterer Statutenbruch: Die Uefa-Bestimmungen zur „Integrität des Wettbewerbs“ untersagen die Teilnahme mehrerer Vereine, die „auf irgendeine Art und Weise“ von einer und derselben natürlichen oder juristischen Person „beeinflusst werden“ – und zwar „entscheidend“. RB Leipzig ist eine 99-prozentige Konzerntochter. Aus RB Salzburg hat sich Red Bull zwar offiziell zurückgezogen, den dortigen Vorstand aber steuert man über Strohmänner: Etwa 30 Trainer und Spieler wurden in den letzten Jahren von Salzburg nach Leipzig delegiert, wenngleich Leipzig-Boss Mintzlaff gern behauptet, die beiden Klubs operierten eigenständig. Insofern ist wohl auch sein öffentliches Nein zur ESL, zu der RB gar nicht geladen war, mit Vorsicht zu genießen.

„Created by the poor, stolen by the rich“, das haben sich die protestierenden englischen Fans auf ihre Fahnen und Transparente geschrieben – ein Narrativ, das verfängt, historisch jedoch etwas wacklig dasteht: Englands Fußballverband FA wurde 1863 von Vertretern des Großkapitals gegründet. Die ersten elf Sieger im FA-Cup, dem ältesten Klubwettbewerb der Welt, waren allesamt Upper-Class-Vereine wie der Wanderers FC oder die Old Etonians. Ihre Mitglieder entstammten dem Blut- und Geldadel. Insofern könnte man leicht zynisch anmerken: Der Fußball ist nur zu seinen Wurzeln zurückgekehrt.


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Rolf Hessbrügge

Rolf Hessbrügge ist ein freier Sport- und Wissenschafts- Autor aus Wien. Zu seinen regelmäßigen Auftraggebern zählen Magazine wie
11 Freunde, Boxsport, Bild der Wissenschaft oder Natur, außerdem Tageszeitungen wie WAZ und Tagesspiegel.