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Sind die alten Griechen noch viel älter?

Forum - Sind die alten Griechen noch viel älter?
Sidon/Libanon: Neue Ausgrabungen in der 50 Kilometer südlich von Beirut gelegenen Hafenstadt zeigen, dass Sidon ein frühes Handelszentrum war. Spätestens ab 2000 v. Chr. trieb Sidon regen Austausch mit Ägypten, Anatolien und Griechenland. © S. Gimatzidis

Ein Wiener Archäologe und ein Kernphysiker aus Köln haben die Chronologie der Antike revolutioniert – mithilfe von Tierknochen. Vieles, was einst in der Ägäis geschah, steht nun in einem gänzlich anderen Licht.

Rolf Hessbrügge01.01.2022

2022, forum, hessbrügge, griechenland

Sindos (2001): Die Stätte liefert wegen ihrer Stratigrafie verlässliche Daten © S. Gimatzidis

Was Stefanos Gimatzidis da losgetreten hat, ist eine kleine wissenschaftliche Sensation. Die alten Griechen, enthüllt Gimatzidis in einem Aufsatz für das US-Wissenschaftsmagazin Plos One, seien noch viel älter als bisher angenommen. „Laut unseren Erkenntnissen muss die gesamte Chronologie der griechischen Antike zurückdatiert werden“, erklärt der Archäologe von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Als Ausgangspunkt für die Historie des alten Griechenlands gilt gemeinhin der Beginn der Früheisenzeit, der bislang bei 1050 v. Chr. veranschlagt wurde. Gimatzidis aber sieht diesen Zeitpunkt schon im 12. Jahrhundert v. Chr. Auch viele weitere Prozesse der griechischen Antike seien um rund 100 Jahre früher einzuordnen, so der Forscher, manche Phasen gar um 150 Jahre. „Wir haben deshalb vorgeschlagen, eine seit fast einem Jahrhundert etablierte historische Chronologie, die mitunter mehr auf archäologischer Intuition als auf eindeutigen Daten basiert, zu korrigieren.“

Das bisherige Datierungssystem der griechischen Antike, aufgestellt in den 1930er Jahren, wurde anhand von Abfolgen archäologischer Fundschichten ermittelt. Die verschiedenen Schichten kennzeichnen einen ständigen Kreislauf aus Bau, Nutzung, Zerstörung oder Zerfall und anschließendem „Überbauen“. Dabei repräsentiert jede Schicht einen Zeitraum von 50 bis 100 Jahren. Die in den einzelnen Schichten gefundenen zeitgenössischen Keramiken und ihre Dekorstile geben den entsprechenden Zeiträumen ihre Namen: etwa „geometrische Phase“ oder „spätgeometrische Phase“. Nur wann genau begann welche Phase? Gimatzidis zweifelte früh an den bisherigen Datierungen.

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Sindos: Fragment eines Mischgefäßes/Kraters aus der „Bauphase 7“ © S. Gimatzidis

Die alte Chronologie beruht vor allem auf griechischen Keramiken aus dem heutigen Israel, wo in der Antike reger Handel mit der Ägäis herrschte. Zudem gab es dort bereits schriftliche Aufzeichnungen. „In vielen archäologischen Schichten in Nahost fanden sich Hinweise auf Zerstörungen“, erklärt Gimatzidis, „also ordnete man diese Schichten anhand alter Schriften bestimmten Kriegen oder Naturkatastrophen zu. Heute aber weiß man, dass Datierungen auf Basis solcher Überlieferungen nur geringen archäologischen und historischen Wert haben.“ Doch das ist nicht Gimatzidis’ einziger Kritikpunkt: „Die in der südlichen Levante gefundene Keramik dürfte nicht immer zeitgenössisch gewesen sein oder aus sicheren Fundkontexten stammen“, argumentiert er. „Genauso gut könnte sie schon in der Antike ,historisch‘ gewesen sein und nicht als Gebrauchsgut, sondern als Antiquität gehandelt worden sein.“ Zudem lasse sich Keramik aus sogenannten Zerstörungsschichten oft nicht mehr eindeutig einer konkreten Schicht zuordnen. Und noch etwas weckte Gimatzidis’ Argwohn: Als die althergebrachte Chronologie vor über 80 Jahren etabliert wurde, gab es noch keine technischen Verfahren zur Überprüfung.

Der Forscher wollte eigene Untersuchungen anstellen – auf der Basis von archäologischen Funden aus dem antiken Kern-Griechenland. Die perfekte Fundstätte lag vor der Haustür seiner Geburtsstadt Thessaloniki: In Sindos existiert eine lückenlose Abfolge (Stratigrafie) von 13 archäologischen Schichten. Zudem fanden Gimatzidis und Kollegen hier neben zahlreichen Keramiken auch Tierknochen, etwa von Lämmern und Kälbern. Diese antiken Küchenabfälle sollten für die Neuordnung der alten Chronologie von entscheidender Bedeutung sein, denn das Alter von Knochen lässt sich heute sehr genau bestimmen.

Präziser Fixpunkt auf neuer Zeitleiste

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Sindos: Fragment eines Mischgefäßes/Kraters aus der „Bauphase 7“ © S. Gimatzidis

Die große Ära der alten Griechen, da ist sich die Wissenschaft einig, begann mit der geometrischen Phase. Deren Beginn wurde bisher bei circa 900 v. Chr. angesetzt. Laut Gimatzidis aber öffnete sich dieses Zeitfenster viel früher. Was ihn da so sicher mache? „Wir können hochpräzise Daten auf der Grundlage physikalischer Messverfahren vorlegen“, triumphiert er. Wir – das sind Gimatzidis und Bernhard Weninger. Der Kernphysiker und Archäologe von der Uni Köln bestimmte das Alter der in Sindos gefundenen Tierknochen per Radiokarbondatierung, einem massenspektrometrischen Messverfahren. Dabei hatte Weninger immenses Forscherglück: Unter den tierischen Relikten waren Kalbsknochen aus der Zeit um 900 v. Chr. „Gerade bei Knochenfunden von circa 900 v. Chr. ist die Radiokarbondatierung besonders genau“, erklärt Weninger. Die Toleranz betrage nur 20 Jahre.

Dank dieser Kalbsknochen konnten Weninger und Gimatzidis einen präzisen Fixpunkt auf ihrer neuen Zeitleiste setzen. Die in derselben Schicht gefundenen zeitgenössischen Keramiken zeigten: Als die Kälber verspeist wurden, war die geometrische Phase nicht erst am Anfang, sondern weit fortgeschritten. Die Radiokarbondaten von Tierknochen aus tieferen Schichten in Sindos zeigten: Der Beginn der geometrischen Phase ist um 1050 v. Chr. zu veranschlagen – also 150 Jahre früher als angenommen. „Das“, so Gimatzidis, „zieht auch eine Rückdatierung vieler anderer Epochen nach sich und dürfte den historischen Blick auf zahlreiche kulturelle Ereignisse der Antike entscheidend verändern.“ Immerhin bildet die griechische Chronologie die Grundlage für die Chronologie des gesamten Mittelmeerraums – des antiken Israel, Phönizien, Etrurien, Karthago.

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Sidon/Libanon: Fragment eines euböischen monochromen Skyphos der geometrischen Zeit © S. Gimatzidis

An manchen Stellen konnte der Wiener Forscher die Zeitleiste regelrecht entzerren: Die „spätgeometrische Phase I“ etwa reichte nach althergebrachter Forschermeinung von 760 bis 735 v. Chr. In dieser gerade mal 25-jährigen Periode sollten die griechischen Stadtstaaten (Poleis) mit ihren ersten bedeutenden Tempeln entstanden sein. Obendrein sollte die griechische Kolonisation im westlichen Mittelmeer hier ihren Ausgang genommen haben – ein verdächtig kleiner Zeitraum für so viel große Geschichte. Laut Gimatzidis erstreckte sich die spätgeometrische Phase I von 870 bis 735 v. Chr. und damit über gut fünf Generationen: „Somit dürften viele bedeutende Prozesse wesentlich länger gedauert haben als bislang angenommen. Das ist ja auch plausibel.“

Gemäß Gimatzidis’ Erkenntnissen dürfte auch die Verbreitung des aus dem phönizischen Schriftsystem abgeleiteten und um Vokale erweiterten griechischen Alphabets bereits im 9. Jahrhundert v. Chr. begonnen haben. Ebenfalls ins 9. Jahrhundert könnten demnach Konzeption und Komposition der großen griechischen Epen wie Homers Ilias datiert werden. „Eines liegt nahe“, sagt Gimatzidis: „Die homerischen Epen und die darin enthaltenen Reiseschilderungen erzählen aus der Anfangszeit der griechischen Kolonisation.“ Folglich lasse sich auch der kulturelle Einfluss der Griechen auf den gesamten Mittelmeerraum neu definieren.

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Sidon: Fragment eines euböischen Skyphos mit hängenden konzentrischen Halbkreisen © S. Gimatzidis

Zur hohen Präzision von Gimatzidis’ Arbeit trug übrigens noch ein weiterer glücklicher Umstand bei: Viele der in Sindos gefundenen Keramiken stammten aus anderen Gegenden des antiken Griechenlands, sodass der Forscher seine Funde mit bereits vorhandenen regionalen Chronologie-Systemen abgleichen konnte. Unterm Strich habe man erstmals eine „absolute Chronologie der griechischen Antike“ vorgelegt, sagt Gimatzidis, der betont, dass er nicht einzelne Ereignisse (um)datieren wolle: „Das wäre sehr vermessen. Wir können aber historische und kulturelle Prozesse datieren, und je präziser wir das tun, desto besser können wir sie begreifen und in Relation setzen.“

Die bisherigen Reaktionen auf Gimatzidis’ Aufsatz sind reserviert. Das breite Publikum weiß noch nichts von der kleinen wissenschaftlichen Sensation. Und die Fachwelt bricht nicht gerade in Jubel aus. „Man war wohl zufrieden mit dem knapp 100 Jahre alten Chronologie-System“, vermutet Gimatzidis. Nun, da er dieses mit modernen Mitteln überprüft habe, könnten lebenslange Projekte anderer Forscher zusammenbrechen – so wie einst der Koloss von Rhodos. Gimatzidis und Weninger wollen ihre Datierungsvorschläge mit weiteren Radiokarbondaten von Knochen aus Sidon (im heutigen Libanon) untermauern. „Die Befunde sind noch nicht publiziert, liegen aber bereits vor“, sagt Gimatzidis. „Sie zeigen deutlich, dass unsere Daten aus Sindos stimmen.“

Rolf Hessbrügge

Rolf Hessbrügge ist ein freier Sport- und Wissenschafts- Autor aus Wien. Zu seinen regelmäßigen Auftraggebern zählen Magazine wie
11 Freunde, Boxsport, Bild der Wissenschaft oder Natur, außerdem Tageszeitungen wie WAZ und Tagesspiegel.