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Einig oder ohnmächtig

Warum Europa auch in seiner Verteidigungspolitik umdenken muss

Der Anschluss der Krim an Russland hat gezeigt, dass die Europäische Union gegenwärtig kaum in der Lage ist, auf eine ernste äußere Krise entschieden zu reagieren. Gleiches gilt für die Flüchtlingswelle aus Afrika oder den Bürgerkrieg in Syrien. Die Beiträge auf den folgenden Seiten widmen sich der Notwendigkeit einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik. Sie erörtern, wie diese aussehen könnte und welche Voraussetzungen dabei eine Rolle spielen. Nicht zuletzt hinterfragen sie, ob Deutschland, von dem in jüngster Zeit immer wieder Führung verlangt wird, dazu bereit ist, seine Aufgaben zu erfüllen.

Martin van Creveld14.04.2014

Die Europäische Union versucht nun bereits seit mehreren Jahrzehnten, einen Konsens zu erzielen und Institutionen zu gründen, die es ihr ermöglichen würden, eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik zu formulieren und durchzuführen. Seit mehreren Jahrzehnten haben ihre diesbezüglichen Versuche zu endlosen Gesprächen, jedoch nur zu wenig Taten geführt. Europas Politiker ermutigten ihre Bevölkerung, im guten Leben zu schwelgen – und natürlich auch umgekehrt. Derweil wurde zugelassen, dass Europas Verteidigungsfähigkeit zu einem kaum noch existenten Zustand verkam. Seit dem Ende des Kalten Krieges wurde allein die Bundeswehr um rund zwei Drittel ihres Umfangs reduziert (bezieht man die ehemaligen NVA-Streitkräfte mit ein, liegt diese Zahl eher bei drei Viertel). Für die anderen europäischen Streitkräfte ist dies nicht deutlich anders.

Doch noch viel schwerwiegender ist der sich hinter diesen Einschnitten abzeichnende intellektuelle Bankrott. Machiavellis geflügeltes Wort, dass Gold nicht genügt, gute Soldaten zu finden, wohl aber gute Soldaten genügen, Gold zu finden, ist in Vergessenheit geraten. Gleiches gilt für Maos Worte, dass Macht den Gewehrläufen entstammt. In einigen Fällen wurde dies sogar als ein Relikt aus einer nicht mehr bestehenden, militaristischen, reaktionären und nicht zuletzt „patriarchalen” und „männlich chauvinistischen” Welt verhöhnt. Wie aus dem Umstand offensichtlich wird, dass sie selten in ihrer Freizeit Uniform tragen, wurden EU-Soldaten nahezu zu Bürgern zweiter Klasse degradiert. Sie werden bestenfalls toleriert, schlimmstenfalls verachtet. Wann auch immer eine Krise auftrat – sogar an Europas eigener Hintertür – waren es ausnahmslos die Vereinigten Staaten, die die Führung bei der Beilegung der Krise übernehmen mussten. Belege hierfür sind die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien 1992–95 sowie ferner im Kosovo 1999.

Wandel der geopolitischen Lage

Nun, nach der Besetzung der Krim durch Russland, rächt sich dies. Auf der einen Seite hat die US-Macht, die seit 1945–46 Europa immer unter ihren Sicherheitsschirm genommen hat, den es sich selbst zu bauen verweigerte, gewarnt. Zu dieser Entwicklung haben Amerikas Budget- und Zahlungsbilanzprobleme einerseits sowie der Aufstieg Chinas andererseits beigetragen, der dazu führt, dass Ressourcen und Aufmerksamkeit nach Fernost verlagert werden. Hinzu kommt der wachsende Widerwille der US-Bürger, wie dies vor kurzem im Hinblick auf den Syrien-Konflikt zum Ausdruck kam, sich selbst zu weiteren Abenteuern im Ausland zu verpflichten. So wie es die Amerikaner sehen – und wer möchte es ihnen verübeln? – haben sie ihren Anteil übernommen und weiteres darüber hinaus geleistet, um für andere die Kastanien aus dem Feuer zu holen.

Die Krim gehört nun wieder zu Russland und niemand wird etwas dagegen tun. Dieser Verlust an sich ist nicht so schlimm; so schön die Halbinsel auch ist, lässt ihr Besitz Russland innerhalb des Schwarzen Meeres aufgestellt bleiben, wie es dies bereits seit vielen Jahrhunderten war. Somit sind die strategischen Auswirkungen nur begrenzt, zumindest derzeit. Doch was kommt als nächstes? Wenn Putin klug ist, nichts weiter.

Wie bereits Bismarck wusste, besteht der Unterschied zwischen einer großartigen und einer mittelmäßigen Führungsperson darin, dass erstere weiß, wann sie aufhören muss. Putin könnte jedoch vielleicht diese Größe nicht haben. In diesem Fall ist der nächste Gang auf seiner „Speisekarte“ wahrscheinlich die (Ost-)Ukraine, bei der Teile der Bevölkerung russisch sind und angegeben haben, dass sie wieder zu Russland gehören möchten. Er könnte einen Bürgerkrieg befeuern und anschließend dafür sorgen, dass eine der sich bekämpfenden Parteien um russische Truppen für die Entscheidung der Sache bittet. Für die EU wäre das Ergebnis eine strategische Katastrophe. Russland ohne die Ukraine ist eine Sache, Russland mit der Ukraine eine ganz andere. Oder wird sich Putin den baltischen Ländern zuwenden, bei denen es in zwei Ländern ebenfalls beträchtliche russische Minderheiten gibt? Oder Weißrussland? Oder Moldawien?

In dieser Krise haben weder der Präsident der Europäischen Kommission, José Barroso, noch die „Außenministerin” der Union, Catherine Ashton, wahre Führungskraft zeigen können. Dies ist nicht ihr Fehler; ihre Titel haben sich angesichts roher Macht als inhaltsleer und die Positionen, die sie ausfüllen, als reine Rauchfähnchen erwiesen. Dies bedeutet, dass einzig die Länderchefs der Mitgliedsstaaten Maßnahmen ergreifen können, vor allem die deutsche Kanzlerin Angela Merkel.

Es ist zu Merkels Gunsten zu sagen, dass sie tatsächlich ihre feste Opposition gegen Putins Vorgehen deutlich gemacht hat und davon auszugehen ist, dass sie diese Opposition beibehält. Ihr Handeln wird jedoch durch den Umstand erschwert, dass ihr Land jedes Jahr Geschäfte im Wert von 75 Mrd. Euro mit Russland macht. Dennoch kann Merkel dies, auch bei bestem Willen, nicht im Alleingang erledigen. Auch wenn deutsche Exporte nach Russland wertvoll sind, so belaufen sie sich doch nur auf 31 Prozent der Gesamt-EU-Exporte.

Somit ist der Ball wieder bei der EU. Für die EU, ihre Länderchefs und Bevölkerungen sollte das, was gerade auf der Krim passiert ist, als historischer Weckruf dienen. Es ist an der Zeit, ernsthaft am Aufbau gemeinsamer Institutionen zu arbeiten, die – wenn schon keine wahre Föderationsregierung – zumindest eine gemeinsame Außenpolitik und eine gemeinsame Verteidigung ermöglichen. Schließlich ist Russland im Hinblick auf die Bevölkerung, das BIP (sowohl gesamt als auch pro Kopf) sowie im Hinblick auf die meisten Technologiearten der EU nicht gewachsen.

Wiederherstellung der Kampfkraft

Der erste zu erledigende Schritt besteht darin, einige der EU-Streitkräfte in das Baltikum und nach Polen zu verlegen. Als nächstes muss der Abrüstungsprozess gestoppt und umgekehrt werden. Dies ist keine Frage der „Man Power“; die EU hat mehr Truppen unter Waffen als die USA, und ihre bewaffneten Streitkräfte sind den russischen Streitkräften zwei zu eins zahlenmäßig überlegen. Die schwerwiegendsten Defizite betreffen die Qualität der Ausrüstung. Die Liste der Dinge, die sich die europäischen bewaffneten Streitkräfte, insbesondere die osteuropäischen, nicht haben leisten können, ist lang genug, um eine ganze Enzyklopädie zu füllen. Vor allem die Kompatibilität muss zu einem wichtigen Thema gemacht werden sowie Strukturen der Befehlsgewalt, die gemeinsame Maßnahmen umsetzen können. Hierzu werden ein politischer Wille und Fähigkeiten sowie Geld erforderlich sein. Eine Union, deren Mitglieder jedoch durchschnittlich 1,5 Prozent ihres BIP für die Verteidigung ausgeben, wird kaum zahlungsunfähig werden, wenn diese Zahl auf 2,5 oder gar 3 Prozent erhöht wird.

Die wichtigste Maßnahme überhaupt, d.h. die Wiederherstellung der Stellung der bewaffneten Streitkräfte als respektierte Wächter der Freiheit der Nation, kostet nahezu gar kein Geld. Das Hauptziel sollte darin bestehen, Kampfkraft zu schaffen, und nicht etwa die „sexuelle Belästigung” zu reduzieren, um die Truppe für mehr weibliche Soldaten attraktiv zu machen. In diesem Zusammenhang könnte es sich lohnen, die neue deutsche Verteidigungsministerin, Frau Ursula von der Leyen, daran zu erinnern, dass in Putins Armee nahezu keine Frauen Dienst tun.

Benjamin Franklin sagte am Vorabend der amerikanischen Revolution, dass die dreizehn streitenden Kolonien, die sich am Atlantik von New Hampshire bis Georgia aufreihten, entweder zusammenhängen oder getrennt voneinander von der britischen Regierung in London gehängt werden sollten. Indem sie ihre Differenzen überwanden, haben sie ihr Ziel erreicht. Es ist jetzt Zeit zu handeln. Kann die EU dies leisten?

Europas Weg zur gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik:
1970
Ein vom belgischen Diplomaten Étienne Davignon geleiteter Ausschuss legt am 27. Oktober 1970 den sogenannten Davignon-Bericht vor. Dieser zeigt Perspektiven für eine künftige außenpolitische Zusammenarbeit der EG-Mitgliedstaaten auf und empfiehlt ihnen insbesondere, auf internationaler Bühne so weit wie möglich mit einer Stimme zu sprechen. In der Folge wurde mit dem Luxemburger Bericht die Europäische Politische Zusammenarbeit (EPZ) beschlossen. Die EPZ war zunächst nur eine lose Kooperation, die keine formale Grundlage in den Gemeinschaftsverträgen besaß und für die auch keine eigenen supranationalen Institu­tionen eingerichtet wurden.