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Westwärts
Vor 60 Jahren begann der Mauerbau und trennte plötzlich die Menschen Berlins. Dietrich Rohrbeck half Dutzenden bei der Flucht in den Westen.
Kaum jemand hatte es kommen sehen. Oder genauer: Kaum jemand hatte es kommen sehen wollen, denn Indizien gab es. Noch am Freitag, dem 11. August 1961, hatte die Berliner Morgenpost getitelt: „SED will Fluchtwege versperren. Vor dem Höhepunkt des Terrors?“ Obwohl diese Schlagzeile hunderttausendfach im Westteil der Stadt gelesen worden war, kam die Abriegelung der innerstädtischen Demarkationslinie zwischen den drei westlichen Sektoren und dem sowjetisch besetzten Teil Berlins in der Nacht von Samstag auf Sonntag ab etwa ein Uhr früh für praktisch alle Deutschen überraschend: Man hatte sich so eine Maßnahme einfach nicht vorstellen können.
Auch Dietrich Rohrbeck nicht. Der 25-jährige Student des Bauingenieurwesens in Berlin-Charlottenburg war in diesem Sommer damit ausgelastet, ein Heim für seine kleine Familie zu schaffen, denn seine Frau Vibeke hatte am 25. April ihr erstes Kind bekommen, ein Mädchen. Natürlich aber spürte er wie die meisten anderen Berliner, in Ost wie West gleichermaßen, dass die Absperrung viel veränderte. „Die Vorlesungssäle der Freien und der Technischen Universität waren leerer geworden: Die Kommilitonen aus dem Osten fehlten“, erinnerte er sich. „Über Nacht waren zudem Menschen voneinander getrennt worden, die zusammengehörten. Junge Pärchen, die einander liebten und eine gemeinsame Zukunft planten, wurden von einem Tag auf den anderen getrennt.“
Erst echte, dann falsche Ausweise
Als freiheitsliebender Mensch empfand Dietrich Rohrbeck den Bau der Mauer als tiefen Einschnitt in die persönlichsten Rechte der Menschen. Er war selbst im März 1955 aus Görlitz in den Westen geflüchtet, weil er sich „freiwillig“ zur Kasernierten Volkspolizei hätte melden sollen. Die Fahrkarte zu deren Quartier in Ost-Berlin hatte er genutzt, um sich in den Westteil der Stadt abzusetzen. Künftig war auch dieses Schlupfloch verstopft. Für Rohrbeck eine Herausforderung: „Auch meine Kommilitonen waren betroffen. Eigentlich hatte ich ja genug mit meinem Studium zu tun. Doch meine Gedanken kreisten immer wieder um die nun ,eingesperrten‘ DDR-Bürger. Vor dem Mauerbau hatte ich in meinem Semester noch 33 Kommilitonen gehabt, im Herbst des gleichen Jahres waren wir gerade noch 17.“
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Knapp sechs Jahrzehnte später berichtete Dietrich Rohrbeck, was aus dieser Herausforderung wurde; seine Erinnerungen erschienen umfassend ergänzt mit weiterem Material zum Beispiel aus dem Stasiunterlagen-Archiv Anfang 2021 als Buch unter dem Titel Via Dänemark in die Freiheit. Denn Rohrbeck war dreieinhalb Jahre lang, von Mitte 1961 bis Ende 1964, einer jener studentischen Fluchthelfer, die ihre eigene Freiheit, ihre Gesundheit und sogar ihr Leben aufs Spiel setzten, um Freunde, Bekannte oder ihnen ganz unbekannte Menschen aus der DDR zu schleusen. „Mein Gewissen rumorte immer stärker; ich musste etwas gegen diesen Unrechtsstaat tun. Einfach zur Tagesordnung übergehen und so tun, als sei nichts geschehen, konnte und wollte ich nicht“, beschrieb er seine Gefühle in den ersten Tagen nach dem Mauerbau.
So half er zunächst, mit ausgeliehenen echten Ausweisen ähnlich aussehende Ost-Berliner durch die Grenzübergangsstellen zu bringen, ab dem Herbst 1961 mit passend ge- oder verfälschten Papieren. Doch die DDR-Kontrolleure wurden schnell besser und vereitelten immer mehr Tricks der Fluchthelfer.
Rohrbecks drei Touren
Anfang 1962 kam Dietrich Rohrbeck in Kontakt mit einer professionellen Fluchthelferorganisation und war kurzzeitig am Bau eines Tunnels unter der Heidelberger Straße zwischen Berlin-Neukölln im Westen und Berlin-Treptow im Osten beteiligt. Doch mit seiner Körpergröße von rund 1,85 Meter und wegen eines in seiner Lunge sitzenden Splitters war er kein guter Stollengräber; daher half er den anderen Fluchthelfern als Kurier. Als sein Bekannter Heinz Jercha bei diesem Projekt nach der erfolgreichen Flucht mehrerer Dutzend Menschen von der Stasi erschossen wurde, nahm sich Rohrbeck vor, einen anderen, nicht ganz so konfrontativen Weg für weitere Fluchthilfeaktionen zu finden.
Nun kam ihm gelegen, dass seine Frau Dänin war und ihre Eltern auf der Insel Falster wohnten. Denn deshalb pendelte er regelmäßig aus West-Berlin über Warnemünde und die Ostsee zum Fährhafen Gedser. Zwar schossen DDR-Grenzer auch an der Seegrenze scharf auf Fluchtwillige, es hatte schon mehrere Tote gegeben. Doch ganz so brutal wie an der Mauer und den Zäunen um West-Berlin war die Lage trotzdem nicht. Insgesamt drei „Touren“, wie die West-Berliner Fluchthelfer ihre Methoden nannten, ließ sich Dietrich Rohrbeck einfallen, um die DDR-Kontrolleure auszutricksen. Stets gab es einen Zusammenhang mit Dänemark.
Erstens kam er über seinen Schwiegervater in Kontakt mit einem dänischen Grafiker, der schon während der Besetzung durch die Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg Papiere gefälscht hatte – und nun so perfekte Personalausweise, Visa-Formulare und andere Reisedokumente nachmachte, dass selbst die Kriminologen der Ost-Berliner Humboldt-Universität einige davon für echt hielten. Etwa 50 DDR-Bürgern gelang so die Flucht.
Zweitens rüstete er zusammen mit seinem Freund Uli W. einen gebraucht gekauften Mercedes 180 um: Zwischen Rückbanklehne und Kofferraumwand bauten die beiden ein Versteck ein, in das – mit Müh und Not – sogar Dietrich selbst sich hineinquetschen konnte. Den Wagen benutzte er meist beim Pendeln von Gedser nach West-Berlin oder umgekehrt; insgesamt 13 vor allem jüngere DDR-Bürger holte er so in die Freiheit, darunter Hanns Stephan Wüst, der seit 1975 Rotarier ist, zuerst in Aachen, inzwischen seit mehr als vier Jahrzehnten in Kaiserslautern.
Diese beiden Methoden waren gut ausgedacht, aber im Prinzip nicht anders als die entsprechenden „Touren“ anderer Fluchthelfer wie des Medizinstudenten Burkhart Veigel oder der angehenden Juristen Klaus-Michael Keussler und Peter Schulenburg. Ganz anders die dritte. Denn Dietrich Rohrbeck fand auch einen Weg, in der DDR aus verschiedenen Gründen bei der Flucht ihrer Eltern zurückgebliebene Kleinkinder sicher aus der SED-Diktatur herauszuholen. Es gab 1961/62 einige Dutzend Fälle von jungen Eltern, die gerade noch der Verhaftung durch die DDR-Staatssicherheit entkommen konnten, aber ihre Kinder bei Verwandten oder Bekannten hatten zurücklassen müssen, weil für sie die jeweilige „Tour“ einfach zu gefährlich gewesen wäre. Einige davon, etwa 16, holte Dietrich Rohrbeck und übergab sie ihren sehnsüchtig wartenden Eltern.
Der Trick nutzte eine Lücke in der Kontrollbürokratie der DDR. Auf den Fähren von Gedser nach Warnemünde nämlich mussten sich die Transitreisenden an einem Schalter die Visa für die Weiterfahrt durch die DDR nach West-Berlin kaufen – bis zum Abschluss des Transitabkommens 1971 zahlte jeder Transitreisende selbst für die Straßennutzung in der DDR. Dietrich nahm seinen Ausweis, in den seine eigene, Ende April 1961 geborene Tochter eingetragen war, und kaufte für beide am Schalter die Visa, denn auch für das Kleinkind musste er zahlen. Doch er hatte seine Tochter gar nicht bei sich; sie war bei ihrer Mutter meist auf Falster. Der DDR-Grenzer nahm es hin, dass der Vater das kleine Mädchen angeblich in seinem Wagen schlafen lassen wollte, denn er wusste ja: In Warnemünde bei der Einreise würde ein anderer Kontrolleur das Kleinkind sehen wollen, bevor er das Formular abstempelte.
Doch Rohrbeck versteckte das zweite Visum im ausgehöhlten Autoradio seines schwarzen VW Käfers, in dem auch nachgemachte Stempel lagen, und reiste nur mit dem Visum für sich ein. Auf dem Weg nach West-Berlin, damals noch über Landstraßen, traf er an einem zuvor durch Kuriere vereinbarten Treffpunkt die Verwandten, die das Kleinkind in ihrer Obhut hatten. Gegen ein Codewort erhielt er das Kind und brauste davon. Ein paar Kilometer weiter hielt er, wickelte das Kind in dänische Windeln und zog ihm, ob Junge oder Mädchen, die Kleidung seiner Tochter an. Dann machte er das auf der Fähre gekaufte, aber in Warnemünde natürlich nicht abgestempelte Visum „gültig“. Bei der Kontrolle am Übergang nach West-Berlin in Staaken kam er damit jedes Mal glatt durch.
Mit Vorwort von Holger Knaack
Bis Ende 1964 half Dietrich Rohrbeck fluchtwilligen Ostdeutschen via Dänemark in die Freiheit, dann beendete er dieses Engagement und zog selbst nach Nyköbing, wo er als Architekt ein erfolgreiches Büro aufbaute und lange Zeit aktiver Rotarier war. Seine Erlebnisse als Fluchthelfer erzählte er jahrzehntelang gar nicht und dann nur im Familienkreis. 2015 wurde ich als Geschichtsredakteur der Welt auf Dietrich Rohrbeck aufmerksam und trat mit ihm in Kontakt. Daraus erwuchsen mehrere Vorträge bei verschiedenen Clubs, unter anderem mit Hanns Stephan Wüst, und schließlich die als Non-Profit-Projekt realisierte Edition seiner Erinnerungen. Im Vorwort schreibt Holger Knaack, RI-Präsident 2020/21: „Mich fasziniert die enge Verwobenheit des selbstlosen Handelns des jungen Dietrich Rohrbeck mit den Werten, die Rotary vertritt.“
Buchtipp
Sven Felix Kellerhoff (Hg.):
Via Dänemark in die Freiheit.
Die Erinnerungen des Fluchthelfers Dietrich Rohrbeck,
Berlin Story Verlag 2021,
192 Seiten, 19,95 Euro
© „Welt“, Axel Springer SE welt.de
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