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Fahnen auf halbmast: Trauerfeier im Münchner Olympiastadion am Tag nach dem Terroranschlag bei den Olympischen Sommerspielen 1972 © Interfoto/Imagno/Votava

Bei den Olympischen Sommerspielen von München im September 1972 überfiel ein Palästinenserkommando die Mannschaft Israels. Hätten der Überfall und das folgende Blutbad verhindert werden können?

Sven Felix Kellerhoff01.08.2022

Die Morgendämmerung hatte gerade erst begonnen, bis zum Sonnenaufgang in Oberbayern dauerte es an diesem 5. September 1972 noch etwas mehr als eine Stunde. Der bevorstehende Dienstag versprach angenehm warm zu werden. Neonlaternen erleuchteten den Weg entlang des Maschendrahtzauns um das Olympische Dorf in Münchens Norden. Als kurz vor halb fünf Uhr einige Beamte des Olympia-Postamtes auf dem Weg zur Frühschicht am verschlossenen Tor 25a entlanggingen, fielen ihnen mehrere junge Männer in Sportkleidung auf, die über den Zaun kletterten. Die Postler dachten, es handele sich um Athleten, die nicht an einem der nachts geöffneten, aber kontrollierten Eingänge auffallen wollten.

Alte Akten, neue Einblicke

Es waren keine Athleten, die da über den Zaun kletterten, und der 5. September 1972 wurde zum bis dahin düstersten Moment in der Geschichte der Bundesrepublik. Am elften Tag der „fröhlichen Spiele“ von München, die bewusst als Gegenmodell zu Hitlers Spielen in der Reichshauptstadt Berlin 1936 konzipiert gewesen waren, überfiel ein Kommando aus acht Palästinensern die Mannschaft des Staates Israel, ermordete zwei Sportler sofort und nahm neun weitere als Geiseln, um mehr als 200 Inhaftierte in Israel und Deutschland freizupressen.


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Insgesamt 21 Stunden dauerte das Ringen zwischen den Terroristen und den Vertretern Deutschlands. Am Ende stand der denkbar schlimmste Ausgang: Bei einer unkoordinierten Schießerei auf dem Bundeswehr-Flugplatz Fürstenfeldbruck töteten die Terroristen alle Geiseln, dazu einen deutschen Polizisten. Fünf Palästinenser starben ebenfalls, die drei übrigen überlebten, doch die Bundesregierung tauschte sie wenige Wochen später gegen eine entführte Lufthansa-Maschine aus.

Ein halbes Jahrhundert nach dem Desaster von München sind fast alle deutschen Akten zugänglich – fast alle, denn bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe konnte eine letzte noch gesperrte Unterlage (eine Analyse des Notizbuches, das der Anführer des Terrorkommandos bei sich gehabt hatte) nicht ausgewertet werden, obwohl der Zugang von Bayerns Innenminister Joachim Herrmann versprochen worden war. Doch auch ohne dieses Dokument erlauben es 25 dicke Aktenbündel der Polizei und der Staatsanwaltschaft München, weit über 1000 Blatt aus den Beständen der früheren DDR-Staatssicherheit, Hunderte Seiten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin sowie aus Israel erstmals, ein nahezu vollständiges Bild des 5. September 1972 zu zeichnen.

Warum gab es keine Eingreiftruppe?

Kein Zweifel: Der 5. September 1972 war eine Katastrophe – für Israel, für Deutschland und für die ganze Welt. Hätte das Drama von München verhindert werden können? Haben die Verantwortlichen angemessen reagiert? Die Antworten sind verstörend eindeutig: Ja, das Desaster hätte verhindert werden können, und nein, die Verantwortlichen haben nicht angemessen reagiert; sie haben vielmehr die Tragödie noch schlimmer gemacht. Doch die Wirklichkeit ist bedeutend differenzierter, als so einfache Antworten andeuten.

Das Konzept für die Olympischen Sommerspiele in München war ein großer Wurf, der überwiegend hervorragend umgesetzt wurde. Die Bundesrepublik als fröhliches, ziviles, gastfreundliches Land zu präsentieren, ging bis zum Vorabend des Anschlags voll auf. Wesentlich dazu beigetragen hatte das Sicherheitskonzept, das auf Zurückhaltung setzte. Dabei waren sich die zuständigen Behörden durchaus bewusst, dass es Gefahren durch Terroristen gab. Jedoch konzentrierte man sich auf mögliche Angriffe gegen prominente Zielpersonen, obwohl spätestens seit dem Anschlag auf eine El-Al-Maschine auf dem Flughafen Riem im Februar 1970 hätte klar sein müssen, dass für Palästinenser jeder Israeli ein potenzielles Ziel war. Es entlastet Münchens Polizeipräsidenten Manfred Schreiber nicht, dass Israels Geheimdienst Mossad keinen zusätzlichen Schutz für die eigene Mannschaft verlangt hatte, denn verantwortlich für die Sicherheit der Olympia-Teilnehmer war nun einmal die Münchner Polizei. Ferner hätte die völlige Überforderung der Einsatzkräfte beim ersten Banküberfall mit Geiselnahme in der deutschen Geschichte im August 1971 dazu führen müssen, eine spezialisierte Eingreiftruppe aufzubauen. Dass dies nicht geschah, ist umso unverständlicher, weil es im Mai 1972 eine Anschlagswelle der deutschen Terroristen von der RAF gab.

Übertrieben ist hingegen, den zuständigen Beamten grundsätzliche Inkompetenz oder gar Böswilligkeit zu unterstellen. Bei dem oft angeführten, angeblich prophetischen „Plan 21“ des Polizeipsychologen Georg Sieber, der vermeintlich bis ins Detail die tatsächlichen Vorgänge vorhergesagt habe, handelte es sich um eine nachträglich stark der Realität angepasste, vor dem 5. September 1972 unbedeutende Überlegung. Obwohl Sieber das selbst nur drei Tage nach dem Anschlag schriftlich einräumte, behauptete er später in zahlreichen Interviews das Gegenteil, ohne Belege präsentieren zu können; ein gelegentlich gezeigtes angebliches Dokument entstand mit Sicherheit erst Jahrzehnte nach dem Anschlag – beweist also gar nichts.

Skandalös schlechte Aufarbeitung

Hatten die Behörden und besonders der verantwortliche Polizeipräsident Schreiber also schon im Vorfeld zahlreiche Versäumnisse gemacht, so bemühten sie sich am 5. September 1972 selbst zwar mit aller Kraft und großem persönlichem Einsatz, die Lage in den Griff zu bekommen. Doch die bereits begangenen Fehler waren nicht zu revidieren. Ferner unterliefen Schreiber und seinem Stellvertreter Georg Wolf mehrere folgenreiche Missgeschicke. Wohl am schlimmsten war, dass TV-Sender live aus dem Olympischen Dorf berichten konnten, die verhängte Nachrichtensperre also nicht funktionierte. Ein weiterer Fehler war ein Warnruf Schreibers an bereitstehende Eingreifkräfte, der einen geplanten Zugriff gegen die Terroristen verhinderte. Die Ungewissheit über die Zahl der Täter war ein dritter, zumal sie auch dann nicht weitergemeldet wurde, als sie endlich feststand. Diese und weitere Versäumnisse ändern natürlich nichts an der Schuld der Täter und ihrer Hintermänner.

Aber nicht für jede Fehlentscheidung waren die Mitglieder des Krisenstabes um den damaligen Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher verantwortlich. Das Angebot aus Israel, eine Anti-Terror-Einheit einzufliegen, wurde von Bedenkenträgern in Bonn, vermutlich einem formalistisch gesinnten Juristen, abgewiesen. Den Krisenstab erreichte dieses Angebot nicht.

Nach dem Desaster wirkte besonders unglücklich der Druck, binnen nur elf Tagen und daher zwangsläufig überhastet eine Dokumentation vorzulegen. Dieser skandalös schlechte Text enthielt zudem einen weitreichenden Freispruch für die Verantwortlichen – und genau diese voreilige Festlegung behinderte anschließend die ernsthafte Aufklärung.

Außerdem hätte die Katastrophe von Fürstenfeldbruck zwingend zum Rücktritt zumindest des Polizeipräsidenten Schreiber, des bayerischen Innenministers Bruno Merk und seines Bonner Kollegen Genscher führen müssen. Obwohl den Ministern keine konkreten Versäumnisse vorzuwerfen waren. Denn es ist das Wesen politischer Verantwortung, dass sie auch ohne individuelles Fehlverhalten greift. Beide Innenminister boten ihren Regierungschefs den Rückzug an, was Bundeskanzler Willy Brandt und Bayerns Ministerpräsident Alfons Goppel jedoch ablehnten: Klare Fehlentscheidungen, denn es wäre wichtig gewesen, dass jemand erkennbar persönliche Konsequenzen gezogen hätte. Über die Gründe kann man nur spekulieren, doch es liegt nahe, dass der bevorstehende Wahlkampf zur vorgezogenen Bundestagswahl im November 1972 mindestens eine Rolle spielte.


Buchtipp


Sven Felix Kellerhoff:

Anschlag auf Olympia. Was 1972 in München wirklich geschah.

WBG-Theiss Verlag 2022,

238 Seiten, 24,95 Euro

Sven Felix Kellerhoff
Sven Felix Kellerhoff (RC Berlin-Süd) ist leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der „Welt“. Er ist Autor zahlreicher historischer Sachbücher.

© „Welt“, Axel Springer SE welt.de

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