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Geschundenes Land

Titelthema - Geschundenes Land
Medenytschi 14.03., Mihailo Schejwtschin, Bürgermeister des Dorfes, inspiziert den Luftschutzkeller unter dem Rathaus. Auch in den Dörfern der Westukraine bereiten sich die Menschen auf russische Luftschläge vor. Schejwtschin sieht sich gegenüber anderen Landesteilen noch in einer glücklichen Lage, aber sein Gebiet wird, sollte der Krieg weiter nach Westen vorrücken und die russische Armee weite Landesteile besetzen, zum Rückzugs- und Verteidigungsort der ukrainischen Kämpfer werden. © Florian Bachmeier fürs Rotary Magazin

Der Weg zur ukrainischen Unabhängigkeit war lang und blutig. Über ein Land und sein Volk, das wieder einmal kämpfen muss.

Sven Felix Kellerhoff01.04.2022

Wieder hat Unheil die Ukraine getroffen. Wieder wird um Kiew und Charkiw gekämpft, sind Mariupol und Cherson besetzt. Der gegenwärtige Eroberungskrieg russischer Streitkräfte weckt schlimme Erinnerungen. Denn gleich dreimal im 20. Jahrhundert dezimierte Gewalt die Einwohnerschaft des Landes: erst 1914 bis 1921 als Hauptschlachtfeld des Ersten Weltkriegs, des Russischen Bürgerkriegs und des Polnisch-Sowjetischen Kriegs. Dann kostete 1930 bis 1934 die rücksichtslos durchgesetzte Zwangskollektivierung der freien Bauern Millionen Opfer. Schließlich tobten 1939 bis 1947 zwischen Karpaten und Donbass furchtbare Gefechte. Es sieht so aus, als setze sich diese Reihe der Katastrophen im 21. Jahrhundert fort.

Niemand weiß, wie der gegenwärtige Krieg in Osteuropa weitergeht. Die Ukraine jedoch hat viel Erfahrung darin, dem russischen Machtanspruch zumindest formal zu widerstehen. Das zeigt ein Rückblick auf die Geschichte der ukrainischen Exilregierungen. Mehr als 71 Jahre lang, von 7. Mai 1921 bis zum 22. August 1992, repräsentierten nacheinander fünf Männer die von russischen Imperialisten annektierte Ukraine fern der Heimat. International anerkannt wurde diese Regierung zwar praktisch gar nicht, doch bei vielen Exilukrainern fand sie Unterstützung. Und zwar genug, damit sie so lange bestand, bis ihr letzter Präsident 1992 die Insignien an Leonid Krawtschuk übergeben konnte, den ersten demokratisch gewählten Präsidenten der 1991 neu gegründeten unabhängigen Ukraine. Zumindest im 20. Jahrhundert gab es keine andere Exilregierung, die länger durchhielt.

Petljuras Zwangslage

Nach dem Ende des Zarenreiches in der Februarrevolution in St. Petersburg 1917 war die Ukrainische Volksrepublik (UNR) entstanden; die provisorische Regierung Russlands unter Alexander Kerenski erkannte ihre Autonomie an. Nach der Machtübernahme der Bolschewiki im November 1917 erklärte sich die UNR formal für unabhängig. Das jedoch wollten Lenin und Trotzki, die in Moskau nach einer Wiedererrichtung des zarischen Imperiums unter bolschewistischer Herrschaft strebten, nicht hinnehmen. Ein Großteil des ungeheuer blutigen Russischen Bürgerkriegs fand auf dem Territorium der Ukraine statt. Die UNR, seit Dezember 1918 beherrscht vom antikommunistischen Nationalisten Simon Petljura, verlor, obwohl ihr Warschauer Bündnispartner Józef Piłsudski im Polnisch-Sowjetischen Krieg an die Seite der Ukraine trat.

Wie viele Opfer die Kämpfe zwischen 1914 und 1921 in der Ukraine kosteten, ist nicht annähernd genau zu schätzen; auf jeden Fall eine siebenstellige Zahl. Neben vielen Kriegsverbrechen, die Ukrainern von fremden Truppen angetan wurden, verübten UNR-Anhänger selbst schlimme Pogrome an Juden. Petljura (1879–1926) ging dagegen zumindest lange nicht vor. Sein Ansehen bei den UNR-Milizen war hoch, und bei antijüdischen Ausschreitungen wurde oft der Schlachtruf „Es lebe Petljura“ laut. „Er befand sich damit in einer Zwangslage“, urteilt der Osteuropahistoriker Matthias Vetter: „Energisches Einschreiten gegen die Pogrom-Täter oder auch gegen Publikationen, die gegen Russen, Polen und Juden agitierten, hätte ihn eines erheblichen Teils der Truppen berauben können.“ Das erkläre sein Zögern, bevor Petljura die Pogrome mit seiner persönlichen Autorität doch offen verurteilte.

Der Ehrenhäftling des „Führers“

Im Frühjahr 1921 musste Petljura die Heimat verlassen und gründete im polnischen Tarnow die erste ukrainische Exilregierung. Auf Druck aus Warschau musste er sie 1923 nach Paris verlegen; Zehntausende Ukrainer flüchteten mit ihm und bildeten eine ukrainische Diaspora in vielen Ländern. 1926 fiel Petljura einem Attentäter zum Opfer, der sich für den Tod seiner jüdischen Familie in einem UNRPogrom rächen wollte.

Nachfolger als Präsident der Exilregierung wurde der bisherige Ministerpräsident Andrij Liwyzkyj (1879–1954), der im Gegensatz zu Petljura von Warschau aus agieren durfte, wenngleich der offizielle Sitz der UNR in Paris blieb. In seine Amtszeit fiel das millionenfache Sterben in der Ukraine durch den von Stalin bewusst verursachten Hungertod mit mindestens 3,3 Millionen Opfern, der Holodomor; höhere Schätzungen reichen bis zu 7,5 Millionen Toten. Aus dem Exil konnte Liwyzkyj nichts dagegen tun.

1939, nach der deutschen Besetzung Westpolens und des östlichen Teils – historisch der westlichen Ukraine – durch die Rote Armee, hielt er sich bedeckt. Dagegen versuchte der 30 Jahre jüngere Stepan Bandera, Anführer der ukrainischen Nationalisten-Organisation OUN, mit dem „Dritten Reich“ zu kollaborieren. Allerdings agierte er der SS trotz seines erklärten Antisemitismus viel zu selbstständig und wurde 1941 festgenommen; seit Januar 1942 saß er als „Ehrenhäftling des Führers“ in einer Sonderabteilung des Konzentrationslagers Sachsenhausen. Im April 1944 kam er frei, um ukrainische Nationalisten für die Abwehr der Roten Armee zu mobilisieren. Doch spätestens seit Februar 1943 kämpften seine Anhänger gegen die deutschen Besatzer, aber ebenso gegen ethnische Polen, wobei sie schlimme Massaker begingen. Die ukrainische Exilregierung hielt Bandera deshalb auf Abstand.

Endlich unabhängig

Nach Kriegsende zog Liwyzkyj wie erneut Hunderttausende Ukrainer weiter. Er gelangte ins besetzte Bayern, wo er 1948 den Ukrainischen Nationalrat gründete, als neue Form der Exilregierung. Gleichzeitig kämpfte in der Ukraine selbst der militärische Arm der OUN gegen die sowjetischen Truppen, die nach der Vertreibung der Wehrmacht wieder die Macht der KPdSU unter dem regionalen Parteichef Nikita Chruschtschow etabliert hatten. Wieder gab es Opfer in sechsstelliger Höhe, ohne dass der Exilpräsident viel tun konnte.

Nach seinem Tod Anfang 1954 trat der Vertreter des Nationalrates in den USA Stepan Wytwyzkyj seine Nachfolge an, vorwiegend von New York aus. Nennenswerte Aktivitäten sind von ihm nicht überliefert; er starb 1965 in seiner Wahlheimat. Nach anderthalb Jahren Vakanz übernahm Mykola Liwyzkyj (1907–1989) das Amt, der Sohn von Andrij Liwyzkyj. Er besuchte oft exilukrainische Gemeinschaften in aller Welt, führte auch Gespräche mit westlichen Politikern, die aber alle nichts für sein Anliegen tun konnten: Die Unabhängigkeit der Ukraine von Moskau zu erreichen, war während des Kalten Kriegs illusorisch; zudem erwies er sich als autoritär. Vier Wochen nach dem Fall der Berliner Mauer starb Mykola Liwyzkyj in Philadelphia.

Ihm folgte Mykola Plawjuk, der 1945 ebenfalls über Deutschland aus seiner Heimat geflüchtet und anschließend in Kanada angekommen war. Er hatte bis 1989 zahlreiche Funktionen der exilukrainischen Diaspora ausgefüllt, sodass er gewissermaßen der natürliche Nachfolger war. Da die Ukraine mit der Auflösung der Sowjetunion am 26. Dezember 1991 formal unabhängig wurde, übertrug Plawjuk schließlich am 22. August 1992 die seit 1921 im Exil gewahrte Tradition der UNR formal an den demokratisch gewählten Präsidenten Leonid Krawtschuk – also auf die neue unabhängige Ukraine.

Sven Felix Kellerhoff
Sven Felix Kellerhoff (RC Berlin-Süd) ist leitender Redakteur für Zeit- und Kulturgeschichte der „Welt“. Er ist Autor zahlreicher historischer Sachbücher.

© „Welt“, Axel Springer SE welt.de

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