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„Wollen Sie die Einheit – oder nicht?“
Matthias Gehler war der Sprecher der ersten und letzten frei gewählten Regierung der DDR. Erinnerungen an eine Umbruchszeit.
Die Frage „Wollen Sie die Einheit – oder nicht?“ ist Gehler durch den Chefredakteur der Bild-Zeitung in einem heftigen Telefonat gestellt worden. Seine Antwort: „Aber nicht so und nicht mit Ihnen.“ Im Vorwort seines im Rahmen der Leipziger Buchmesse erscheinenden Buchs fragt der Autor: „Mit wieviel Ehrlichkeit, Sachlichkeit und Achtung baut jeder an dem Haus mit, in dem wir leben? Die Metapher Gorbatschows vom ‚Gemeinsamen Haus Europa‘ ging nach dem Zerfall der Blöcke von der Annäherung aller aus. Der Wunsch war edel – die Annahme, dass das möglich wäre, war leider ein Irrtum.“
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Im Folgendem lesen Sie Auszüge aus drei Kapiteln.
Der Besuch in der Sowjetunion
Gorbatschow hat Probleme in seiner sich auflösenden Sowjetunion. Ende April bricht Lothar de Maizière zum Staatsbesuch nach Moskau auf. Der Regierungssprecher begleitet den Ministerpräsidenten auf seiner ersten Auslandsreise. Die Delegation trifft auf harte Verhandlungspartner. Die Russen sehen die DDR immer noch als ihr Hoheitsgebiet.
Uns ist klar, dass wir von den Sowjets absichtlich am Informationsaustausch gehindert worden sind. Ich biete an, dass ich auf den Kremlrundgang verzichte, und mich stattdessen mit einem der Delegationswagen ins Außenministerium bringen lasse. Nach einer kurzen Diskussion sind die Russen dazu bereit. Ich steige in eine Limousine aus der Kolonne und mit Blaulicht und zwei zusätzlichen Begleitwagen rasen wir durch Moskau zum Weißen Haus, dem Außenministerium. Ich treffe rechtzeitig ein. Für mich ist kein Platz vorgesehen, weil niemand mit mir gerechnet hat. (…)
Eduard Schewardnadse beeindruckt mich. Aus seinen Worten spricht tiefer Ernst. Es sei die verantwortungsvollste Periode in ganz Europa, so seine Ausführungen, und das Schicksal unserer Kinder und Enkel hänge davon ab, welche Beschlüsse in der heutigen Zeit gefasst würden. Während Markus Meckel immer vom auszuhandelnden „2+4-Vertrag“ spricht, gebraucht Eduard Schewardnadse feinfühlig nur die Zahl „6“. Er gibt zu verstehen, dass er allen Verhandlungspartnern den gleichen Rang einräumt, die gleiche Verantwortung und die gleichen Aufgaben bei der außenpolitischen Lösung der deutschen Einheit zumisst. Er spricht sehr offen über die vielen Besorgnisse, die sie hätten. Und dann warnt er mit heißer, rauer Stimme, für die er sich entschuldigt, die das Ganze aber umso feierlicher macht, vor allzu euphorischen Erwartungen. Noch sei der Rüstungswettlauf auf der Welt nicht gestoppt, militärische Konflikte könnten sich verlagern und die Sicherheitsstrukturen in Europa seien keinesfalls herausgebildet. Man könne lediglich von positiven Tendenzen sprechen, müsse dabei aber immer den Blick auf die Realitäten bewahren. Das Streben nach Demokratie sei eine wunderbare Sache. Was aber, wenn es da und dort nicht klappe, die Umgestaltung nicht funktioniere, die einen den anderen vielleicht voraus wären? Es könnte Frustration auftreten. „Bedeutet das nicht Destabilisierung?“ Dann spricht er von seinem Land: „Fünf Jahre gehen wir schon den Kurs der Umgestaltung. Er ist sehr kompliziert. Wir durchleben, ich sage es ganz offen, schwere Zeiten. Konflikte liegen besonders auf dem sozialen Gebiet. Wir müssen unerwartete Ereignisse einkalkulieren.“
Die Stellvertreterin
Wie hat der Autor seine Stellvertreterin Angela Merkel 1990 erlebt? Welche Fakes und Mythen sind entstanden? Wie ist sie in diese Position gekommen?
„Ich brauche einen Stellvertreter“, sage ich zu Lothar de Maizière. Er schaut mich genervt an. Die Regierung steht. An einen Stellvertretenden Regierungssprecher hat niemand gedacht.
Ich frage: „Hat sich die SPD gerührt?“ De Maizière weiß gar nicht, was ich meine. Seine Gedanken sind woanders. Ich ergänze: „Als zweitstärkste Kraft in der Koalition müsste die SPD eigentlich einen Stellvertretenden Regierungssprecher stellen. Das ist so üblich.“
„Kann das auch anders geregelt werden?“ „Wenn die SPD bis jetzt keinen Anspruch auf diesen Posten gestellt hat, dann sollten wir selbst jemanden vorschlagen, den sie akzeptieren müssen und um den wir keinen großen Wind machen.“
Wir werden unterbrochen. Ich gehe ins Vorzimmer. Dort stehen Thomas de Maizière und Hans Christian Maaß (beide Berater) und ich sage:
„Den Stellvertretenden Regierungssprecher haben sie vergessen. Die SPD hat es gar nicht auf dem Plan. Wieso nehmen wir nicht jemanden aus den eigenen Reihen?“ Hans Christian Maaß ist begeistert und hat sofort eine Idee: „Wir waren doch kürzlich im ‚Newa‘, im ‚Haus der Sowjetischen Kultur‘, und haben mit einigen Leuten vom Demokratischen Aufbruch gegessen. Soll ich die Pressedame von da mal ansprechen?“ Den Namen weiß keiner in der Runde.
An die erste Begegnung mit Angela Merkel werde ich mich nicht mehr erinnern können. Sie lässt Hans Christian Maaß und auch mich auf ihre Entscheidung warten. Ich verstehe das. Es passt in die Zeit. In diesen Tagen werden Weichen fürs Leben gestellt. Außerdem ist noch alles im Fluss, auch die Beschreibung dieser Stelle. Meine Sorge ist eine andere: Immer noch denke ich, dass die SPD erwacht und die Stellvertretung im Regierungssprecheramt doch noch für sich reklamiert. Aber die Herren Schröder, Thierse, Meckel, Böhme und Co sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Die SPD reagiert nicht. Obwohl die SPD an anderer Stelle schon bewusst oder unbewusst nachgegeben hatte. Der politischen Arithmetik folgend, hätte sie als zweitgrößter Koalitionspartner Anspruch auf den Posten des stellvertretenden Ministerpräsidenten gehabt. Dieses Amt hat jetzt DSU-Innenminister Peter Michael Diestel inne – umso dringlicher, bezüglich Merkel so schnell wie möglich Fakten zu schaffen.
Dabei ist eine mögliche Besetzung mit jemandem vom Demokratischen Aufbruch eine Provokation. Der DA ist mit einem marginalen Wahlergebnis von 0,9 Prozentpunkten der kleinste Koalitionspartner in der Regierung. Nur durch die Zugehörigkeit zum konservativen Wahlbündnis „Allianz für Deutschland“ haben sie Bedeutung. So wird ihnen ein, mit dem bekannten bürgerbewegten Berliner Samariterkirchen-Pfarrer Rainer Eppelmann, prominent besetzter Ministerposten zugestanden – das Ministerium für Abrüstung und Verteidigung. Eigentlich kann man nur hoffen, dass keiner aus irgendeiner anderen Partei und kein Journalist, der das thematisieren könnte, auf Angela Merkel aufmerksam wird. (…)
Bei allen Besprechungen, Personalsichtungen und Strukturanpassungen sowie dem sofort auf Höchstleistung laufenden Politikbetrieb rückt bei mir die Besetzung der Stellvertretung in den Hintergrund. Dann liegt ein handschriftlicher Brief von Angela Merkel auf meinem Tisch, indem sie mir mitteilt, dass sie mein Angebot annimmt und Stellvertretende Regierungssprecherin werden möchte. Als sie dann einige Tage nach der Vereidigung der neuen Regierung da ist, startet sie lautlos in ihre Kariere.
Der USA-Besuch
Der amerikanische Präsident und der UN-Generalsekretär empfangen den DDR-Ministerpräsidenten Lothar de Maizière in Amerika. Der Autor reflektiert sein subjektives Amerikabild, schildert die Gespräche im Weißen Haus und berichtet von den Erwartungen des Jüdischen Weltkongresses.
Die Nachrichtenagentur ADN schreibt im Vorfeld des USA-Besuchs: „Der am Sonnabend beginnende viertägige USA-Besuch von DDR-Premierminister Lothar de Maizière steht vor allem im Zeichen der deutschen Vereinigung. (…) Darüber hinaus will die DDR nach den Worten von Regierungssprecher Matthias Gehler signalisieren, dass man offen sei für alle Investoren und nicht nur für jene aus der Bundesrepublik. Höhepunkt dieser ersten Reise eines DDR-Regierungschefs in die Vereinigten Staaten wird ein Treffen mit US-Präsident George Bush am Montagmittag im Weißen Haus sein. (…) Hochrangige Gesprächspartner de Maizières sind ferner UN-Generalsekretär Pérez de Cuéllar und der Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Edgar M. Bronfman.“ (…)
Bei dem Gespräch mit dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Edgar Bronfman verspricht Lothar de Maizière, so bald wie möglich Rahmenbedingungen für konkrete Wiedergutmachungsverhandlungen zu schaffen. Er bittet im Namen der DDR um Versöhnung zwischen den Deutschen und den Juden und sagt wörtlich: „Wir bitten um Versöhnung. Wir bitten um Vertrauen. Denn wir wollen mit Ihnen gemeinsam eine bessere Zukunft gestalten.“
Den Holocaust könnten die Deutschen nie wiedergutmachen. „Wir können nur versuchen, aus diesem Teil der deutschen Geschichte zu lernen, und im Gedenken an die Opfer die Erinnerung wachhalten und alle Ansätze von Antisemitismus, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, wo auch immer sie auftreten, mit Leidenschaft bekämpfen“, erklärt de Maizière. Er sei entschlossen, den Juden in der DDR jede Unterstützung zu gewähren, die möglich sei. De Maizière weiter: „Die Sorge für unsere jüdischen Mitbürger ist für uns (…) eine Angelegenheit des Herzens.“ Bronfman sagt anlässlich des Gesprächs: „Ich bin nicht übermäßig beunruhigt über die deutsche Vereinigung, aber als Jude kann man auch nicht total beruhigt sein.“
Buchtipp
Matthias Gehler
„Wollen Sie die Einheit – oder nicht?“
Verlag Edition Ost, März 2024,
224 Seiten, 20 Euro
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