Titelthema
Zeitzeugin aus Apolda
Die thüringische Kreisstadt blickt auf eine über 250-jährige Tradition des Glockengießens zurück. Margarete Schilling aus einer der berühmten Gießerfamilien über die Spuren dieses aussterbenden Handwerks.
Wenn „De dicke Pitter“ in Köln erklingt, das Geläut in der Kreuzkirche in Dresden angeschlagen wird oder rund um den Hamburger Michel die Zehn-Tonnen-Glocke zu hören ist, dann rufen quasi Schwestern zum Gebet: Die berühmten Glocken stammen alle drei aus der Glockengießerstadt Apolda. Obwohl hier seit den 1980er Jahren keine Glocken mehr gegossen worden sind, ist das Thema allgegenwärtig.
Gemeinsam mit dem „GlockenStadtMuseum“ hält eine letzte Vertreterin des Glockengießerhandwerks die Geschichte um die weit tönenden Zeitzeuginnen in Erinnerung: Margarete Schilling, 88, ursprünglich Lektorin, die Psychologie und Kunstgeschichte studierte, später gemeinsam mit ihrem Mann Ideengeberin und Schöpferin vieler Glocken.
Ihr Heim zeugt von einer langen Familiengeschichte – überall finden sich Bücher, Fotos und Hunderte Model (Formen), mit denen Verzierungen auf Glocken aufgebracht wurden. Margarete Schilling hat diverse Bücher und Aufsätze verfasst, und noch immer wird sie als Autorin angefragt – wegen ihres umfangreichen Wissens rund um Glocken und die Geschichte der Familiengießerei.
Günstige Lage
„Einst gab es drei Glockengießer-Dynastien in Apolda: Brüder Rose, Familie Ulrich und Familie Schilling. Die letzten beiden waren familiär verbunden und gossen noch vor dem Ersten Weltkrieg rund ein Drittel aller Glocken in Deutschland“, erzählt die Fachfrau. „Wobei die großen Glocken dabei seltener und deren Guss daher immer ein Ereignis war.“
Warum gerade in der kleinen thüringischen Stadt das Glockengießerhandwerk seit 1722 einen solchen Aufschwung nahm, ist nicht ganz klar. „Wohl, weil es Großaufträge des Kaisers, von Adligen und Kirchenvertretern sowie in der Gegend guten Lehm gab, der für die Gussformen gebraucht wurde. Auch Holz zum Erhitzen der Legierung war aus dem Thüringer Wald leicht zu beschaffen“, meint Margarete Schilling. Und Aufträge gab es viele – den zahlreichen kleinen Fürstentümern ringsum und aufstrebenden Städten in ganz Deutschland sei Dank.
Einen Höhepunkt erlebte das Glockengießerhandwerk in Apolda Ende des 19./ Anfang des 20. Jahrhunderts. Noch in den 1960ern, als Margarete Schilling ihren Mann Peter kennenlernte, hatten die Gießer gut zu tun. Seitdem prägten Fachbegriffe wie Kern, falsche Glocke und Mantel – die drei Gussformen, die es benötigt, um eine Glocke zu fertigen – ihr Leben. Genauso wie das Hoffen und Bangen, ob der Guss auch wirklich gelungen sei. Denn je nach Größe der zu fertigenden Glocke konnte ein misslungener Guss finanziellen Ruin bedeuten.
Margarete Schilling erinnert sich an Seilzüge und Sandkisten im Garten der Familienvilla, das Probeläuten vor der Tür, wenn Glocken nach tagelangem Abkühlen aus der Form kamen. Nach dem Erkalten waren üblicherweise die Meister am Zuge, die die Bronze von innen bearbeiteten, um den Klang auf die richtige Tonhöhe zu bringen und das Zusammenspiel mit anderen Glocken abzustimmen. Da kam schon mal ein „Schreihals“ (Glocke mit schepperndem, schrägem Anschlag) zum Klingen, ein „Engelchen“ (Glocke mit hohem Ton) oder „Bleisack“ (Glocke mit dunklem, schwerem Klang); Formen wurden in „Bienenkörbe“ und „Zuckerhüte“ unterschieden.
Mittler zwischen Himmel und Erde
Die meisten der Glocken waren für Kirchen bestimmt. Inschriften und Motive auf dem Kelch hatten einen religiösen Hintergrund – sie sollten die Verbindung zwischen den Welten symbolisieren, quasi als Mittler zwischen Himmel und Erde fungieren: „Ich besinge mit ruhmreichem Lob die Schutzherren, abwehrend die Blitze und bösen Geister, läute zum Gottesdienst, der im Dom vom Volk mit Gesang gekündigt werden soll“, hieß es da zum Beispiel.
Einen Großteil der Schilling-Glocken gestaltete der Künstler Horst Jährling, oft mit einer Technik, die Schillings Schwiegervater nach dem Zweiten Weltkrieg wiederbelebte. Durch Ritzungen in die Form-Innenseite des Glockenmantels entstanden Reliefs auf der Glocke. Margarete Schilling beschäftigt sich bis in die Gegenwart mit dem Thema Ritzzeichnungen.
Mit Jährling arbeiteten die Schillings vor allem als Freischaffende zusammen. Anfang der 1970er war die Familie von der DDR enteignet und die Gießerei in einen Volkseigenen Betrieb (VEB) umgewandelt worden. Die Schillings arbeiteten dort noch eine Weile in der Betriebsleitung, ab 1976 dann aber als freischaffende Künstler. Auf das Geschehen in der Gießerei hatten sie keinen Einfluss mehr. Ein Jahrzehnt später musste die Gießerei schließen. Die Entwürfe von Margarete und Peter Schilling wurden dann an anderen Orten in Bronze gegossen.
In vielen großen Städten hängen aber bis heute die besonderen Klangkörper aus der Schilling-Gießerei in Apolda. Gerade die großen erregen Aufmerksamkeit: darunter mehrere Glocken im Hamburger Michel, einige Glocken in Berlin, weitere in Jerusalem, ebenso eine in der Mahn- und Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar, „de dicke Pitter“ in Köln und die Nürnberger Friedensglocke. Sie sind Besonderheiten und Sehenswürdigkeiten, die niemand missen möchte.
Rohstofflieferant Glocke
„Doch Glocken waren immer auch ein Wertstoff-Reservoir“, berichtet Margarete Schilling. „In jedem der beiden Weltkriege wurden mehr als 70.000 Glocken eingeschmolzen, damit Kanonen und anderes Militärgerät produziert werden konnten.“ Gesammelt wurden die Klangkörper auf Glockenfriedhöfen in Hamburg, Lünen, Kall, Ilsenburg, Hettstedt und Oranienburg. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Schillings zunächst dorthin unterwegs, um die noch in Reserve verbliebenen Glocken zu identifizieren und zurückzuführen. Nur dadurch hat manche Kirche in Deutschland heute ein historisches Geläut.
Die Grande Dame der Glocken hat inzwischen über 100 Bücher über Glocken geschrieben, zig Ausstellungen im In- und Ausland erstellt, Hunderte Vorträge gehalten und wurde für ihre Verdienste um die Glockenkultur 2017 zur „Weltglockenkönigin h.c.“ gewählt. Gemeinsam mit ihrem Mann hat sie Tausende Glocken konzipiert, entworfen und in Guss gegeben. Häufig waren diese nicht ganz so groß, sondern Teil eines Glockenspiels, eines Carillons. Mindestens 40 sind es über die Jahrzehnte geworden. Das größte der Welt erklingt mit seinen 81 Glocken im Roten Turm in Halle (die fünf Westminsterschlag-Glocken eingerechnet). Aber auch im Erfurter Bartholomäusturm, im Französischen Dom und in der Nikolaikirche in Berlin, in Magdeburg und Offenburg werden Carillons der Schillings angeschlagen.
Jubiläum voraus
Ende der 1970er bestellte auch die Stadt Apolda 41 Glocken für ein Carillon. Es dauerte bis 1999, bis zumindest 18 davon im Stadthaus aufgehängt wurden. Dafür läuten in der Lutherkirche der Glockenstadt schon lange Glocken aus den drei ursprünglich hier angesiedelten Gießereien. Zudem gibt es eine große Dauerausstellung im GlockenStadtMuseum, die die Schillings mit auf den Weg brachten.
Die allerletzte Glocke der Glockengießer-Dynastie Schilling wurde 1999 mitten auf dem Marktplatz in Weimar gegossen. Sie hängt heute in der Autobahnkirche Gelmeroda, die auch als Feiningerkirche und Lichtskulptur bekannt ist.
Eine große Freude ist es Margarete Schilling, dass vor Kurzem der Standort der Schilling-Gießerei, das Denkmal Villa Schilling mit seiner Ausstellung, das GlockenStadtMuseum, die Carillons in Erfurt und Halle sowie das Glockenspiel in Apolda in die „Straße der Musik“ aufgenommen wurden. Diese virtuelle Straße verbindet Orte erlebbarer Musikgeschichte, also Wirkungsstätten von Komponisten, Instrumentenbauern oder Musikpersönlichkeiten in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen. Und Margarete Schilling ist sich sicher: Spätestens 2022 – zum 300-jährigen Jubiläum des Glockengießens in der thüringischen Stadt – werden Apolda und die Orte, an denen dieses Handwerk eine Rolle spielte, wieder viele Besucher anlocken. Und beim nächsten Weltglockengeläut werden zahlreiche Apoldaer Glocken rund um den Erdball erklingen.
Glockenstadtmuseum Apolda
Das Museum zeigt die eng mit dem Glockengießen verbundene Stadtgeschichte. In der Dauerausstellung: zahlreiche Leihgaben der Familie Schilling und natürlich Glocken. Besucher lernen hier Glockenformen kennen, erfahren Wissenswertes über den Glockenbau, den Klang und traditionelle Glocken aus aller Welt.
Dauer-Ausstellung in der Villa Schilling zur Geschichte der Glockengießerfamilie Besuch nur nach Anmeldung
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