Hamburg
Bekannte Kinderbuchautorin aus der Ferne mit Paul-Harris-Fellow geehrt
Ein Rotary Club aus Afrika zeichnete die erfolgreiche Kinderbuchautorin Kirsten Boie für ihre langjährige gemeinnützige Arbeit in Eswatini (früher Swaziland) aus. Die von ihr gegründete Möwenwegstiftung baut Kinderbetreuungshäuser für elternlose Aids-Waisen und Kinder in extremer Armut in dem wohl ärmsten Land Afrikas.
Bei einem Meeting des RC Hamburg-Steintor wurde die rotarische Auszeichnung in Vertretung des RC Mbabane (Eswatini) übergeben. Damit sollte der Literaturwissenschaftlerin besonderer Dank überbracht werden. Die 72-Jährige betreibt über ihre Möwenwegstiftung mit dem Projekt LITSEMBA (Hoffnung) bereits 104 Betreuungshäuser (Neighborhood Carepoints – NCPs) für 3000 bis 4000 eswatinische Kinder, deren Eltern zum Teil an Aids verstorben sind und die alle in extremer Armut leben. In den Häusern kümmern sich 550 Ehrenamtliche um Versorgung und Vorschulbildung.
In Eswatini leben ca. 70 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze. Daher werden auch die Betreuer und Mitarbeiter des Projekts sowie die umliegenden Kommunen gefördert. Es gibt eine mobile medizinische Betreuung und die ehrenamtlich mit den Kindern arbeitenden Frauen erhalten in einem Projekt, das gemeinsam mit den Rotariern Mbabane initiiert wurde, Legehennen, Hähnchenküken oder Schweine, um eine Zucht zu starten und ein kleines Geschäft aufzubauen. Auch andere Gewerbeideen werden unterstützt. Zudem gibt es eine Ausbildung in Buchhaltung.
Um all diese Anstrengungen zu fördern, gründete Kirsten Boie die Möwenweg-Stiftung und engagiert sich seit über zehn Jahren in Eswatini. Dem Rotary Magazin stand sie dazu Rede und Antwort:
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, Kinder in diesem kleinen afrikanischen Land zu unterstützen?
Ich habe 2007 den Deutschen Jugendliteraturpreis für mein Gesamtwerk bekommen – mit einem hochdotierten Preisgeld. Zusammen mit zwei weiteren Preisgeldern wollte ich es spenden und fand in einer Zeitung einen Hinweis auf Swasiland, heute Eswatini genannt. „Das Land ohne Eltern“ hieß es in der Reportage, die von einem Projekt berichtete, das Kinder betreute, deren Väter und Mütter an HIV gestorben waren. Und das waren sehr viele, die Infektions- und Sterberate war damals in dieser Region sehr hoch, die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 31 Jahren. Das hat mich berührt und ich habe mein Preisgeld zusammen mit weiteren Zuwendungen gespendet.
Damit nicht genug: Das Thema ließ Sie offenbar nicht los, denn Sie sind kurz darauf für das Projekt nach Afrika geflogen.
Ich wollte konkret erleben, was mit dem gespendeten Geld passiert. Und ich erfuhr, wie viel man auch mit kleineren Beträgen erreichen kann. Die Thomas-Engel-Stiftung war dort ebenfalls aktiv. Deren Arbeit habe ich zunächst begleitet und unterstützt. So konnte ich viele Hilfsbemühungen in Aktion erleben.
2014 stoppte der ursprüngliche Initiator sein Projekt. Dann begann mit Ihrer Möwenweg-Stiftung gemeinsam mit der Thomas-Engel-Stiftung eine neue Etappe. Wie lief die Hilfe an?
Wir haben das Projekt unter dem Namen LITSEMBA (Hoffnung) neu gestartet, weil es so unglaublich wichtig ist. Inzwischen ist es riesig gewachsen, hat die Aktivitäten längst ausgeweitet. Natürlich stehen die Kinder mit ihren Bedürfnissen im Fokus, aber eben auch die Frauen, die ehrenamtlich die Betreuung übernehmen. Wir bieten Hilfen für Ackerbau oder Kleintierzucht an. Wenn es gut läuft, können die Frauen nicht nur die eigene Familie besser versorgen, sondern ernten auch eine Menge Ansehen in der Gemeinschaft. Das heißt: Auch in den Dörfern verändern wir einiges. Ich bin regelmäßig in Eswatini und man kann die Fortschritte wirklich sehen.
Konnte die Arbeit in der Coronazeit fortgesetzt werden?
Während der Pandemie hätten die Häuser für unsere Kinder eigentlich geschlossen werden müssen. Aber da die Mahlzeit bei LITSEMBA für viele Kinder die einzige des Tages ist, haben wir weiter Essen verteilt – meist unter freiem Himmel. Die Kinder bekamen von unseren studierten Bildungsverantwortlichen während dieser Zeit des Lockdowns auch Aufgaben und Arbeitsbögen für zuhause, außerdem Informationen zu Corona-Hygienemaßnahmen. Die Familien waren sehr dankbar, dass jemand für sie da war.
Außerdem haben wir Informationen und Hygieneberatung für alle in den Ortschaften angeboten, dazu Masken und Seife – und inzwischen merken wir, wie sehr die Communitys das zu schätzen wissen. Die Dorfältesten sind froh, dass wir da waren und sind und zeigen uns das bei unseren Aufenthalten.
Und was passiert genau in den so genannten NCPs – den Neighborhood Carepoints?
Dort betreut LITSEMBA tagsüber Kleinkinder, deren Eltern an einer HIV-Infektion verstorben sind, die bei Großmüttern leben oder die einfach aus extrem armen Familien kommen. Sie erhalten eine Vorschulbildung und eine warme Mahlzeit am Tag, dazu weitere Unterstützung und natürlich die Möglichkeit zu spielen. Wichtig ist auch die englische Sprache. Denn in Eswatini wird in der Schule nur Englisch gesprochen. Wer die Sprache nicht spricht, hat von Anfang an keine Chance. Wir versuchen deshalb, die Begeisterung der Kinder fürs Lernen spielerisch zu wecken und ihnen gleichzeitig das Englische nahezubringen.
Ihre Stiftung will aber noch mehr anschieben, hörte ich.
Ja, ein paar Beispiele: Die Winter in Eswatini sind kalt – und Schnee gibt’s tatsächlich auch in Afrika. Da helfen die häufig anzutreffenden landesüblichen Lehmhütten nicht sehr weit. Wir besorgen in jedem Winter vor Ort also auch warme Kleidung und verteilen sie.
Außerdem setzt das Projekt auf medizinische Hilfe: für Kinder und Erwachsene. LITSEMBA hat zwei Krankenschwestern und zwei HIV-Testerinnen, die von NCP zu NCP fahren und Patienten betreuen und HIV-Testungen durchführen. Das kommt der ganzen Community zugute.
Außerdem ist ein Brillenprojekt schon in Vorbereitung: Allerdings fehlt uns derzeit dafür ein Augenarzt.
Also stoppt die Hilfe coronabedingt derzeit?
die tägliche Arbeit an den NCPs geht weiter: Aber es ist deprimierend zu sehen, wie es jetzt mit unseren Plänen eher nicht so recht weitergeht.
Vor allem hat das World Food Programme im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg seine Unterstützung eingestellt und wir müssen von der Möwenwegstiftung und der Thomas-Engel-Stiftung seit diesem Jahr zusätzlich zu allem anderen die tägliche Ernährung für mehr als 3000 Kinder finanzieren.
Als Schriftstellerin liegt Ihnen aber sicher auch sehr daran, dass die Kinder lesen lernen, oder?
Natürlich! Wir haben versucht, kleine Bibliotheken aufzubauen, vor allem mit Bilderbüchern, weil es bisher eigentlich keine Kinderbücher in der Landessprache gibt. Aber eine starke Leseförderung liegt mir sehr am Herzen. Ich habe darum über zwei Internetportale zwei Bilderbuchanthologien auf Siswati zusammengestellt und drucken lassen, die jedes Kind zum Schuleintritt bekommt – jedes Jahr mehr als 1000 Kinder.
Werden in den NCPs auch Ihre Kinderbücher im Regal stehen?
Eher nicht. Eswatini ist in vielem eine andere Welt, ganz anders als die Lebenswirklichkeit, die ich aus Deutschland abbilde. In Afrika ist zudem das mündliche Erzählen ein wichtiger Bestandteil der Kultur. Kinderbücher gibt es da eigentlich nicht. Es fehlt an Verlagen, Autoren, Bibliotheken. Und da ich nicht Siswati spreche müssten meine Bücher auch erst mal übersetzt werden.
Also werden Sie den Kindern in Eswatini helfen, aber nicht über sie schreiben?
Das tue ich ja schon eine ganze Weile. Aber manche Dinge kann man eben doch nicht so einfach erzählen. Es gibt zwar viel Offenheit, wenn ich vom LITSEMBA-Projekt erzähle, leider aber auch viel Arroganz: "Naja, so ist eben Afrika." Das will ich ändern, natürlich auch mit Geschichten.
Zum Beispiel versuche ich zu zeigen, wie stark Kinder in und aus dieser Region sind: mit "Thabo – Detektiv und Gentleman", einer Kinder-Krimiserie mit einem kleinen afrikanischen Ermittler. Mit dem identifizieren sich manche Kinder hierzulande so sehr, dass sie zu Fasching als Thabo gehen wollen. Die Hautfarbe spielt für sie übrigens keine Rolle, sondern einfach nur, dass er cool ist. Jetzt freuen sich viele schon auf die Verfilmung.
Hierzulande sind Sie mit über 100 Büchern und Millionenauflagen eine der erfolgreichsten Kinderbuchautorinnen. Was treibt Sie an, mit 72 weiter das Projekt LITSEMBA in Afrika voranzutreiben?
Das würde jedem so gehen, wenn er oder sie das Elend so konkret erlebt hätte wie ich. Und: Dass man tatsächlich etwas bewirken kann, das motiviert unglaublich. Als ich gemeinsam mit meinem Mann das erste Mal da war, waren die Eindrücke so stark, dass wir unbedingt etwas tun wollten. Hilfe zur Selbsthilfe war und ist das Motto. Die Kinder, die wir nun unterstützen, sollen lernen und so aufwachsen, dass sie ihr Leben später selbst in die Hand nehmen und eigenverantwortlich agieren können.
Hat die Arbeit in der Möwenweg-Stiftung Sie verändert?
Ich habe sooo unendlich viel gelernt. Mein Blick auf Deutschland ist nun auch ein ganz anderer. Ich weiß inzwischen Dinge viel mehr zu schätzen — nicht nur Materielles, auch Institutionen, medizinische Versorgung, Schulen, Kitas... Darin liegt unser eigentlicher Reichtum.
Wir maulen oft über Schlaglöcher auf den Straßen vor unserer Haustür. In Eswatini wären solche Wege ganz normal. Auch unser politisches System mit der Gewaltenteilung und den Parteien, die vom Wähler bei der nächsten Wahl haftbar gemacht werden können, ist stabil und belastbar. In Eswatini dagegen sind Parteien verboten, es ist die letzte absolute Monarchie Afrikas. Parallel zur demokratischen Verfassung gilt eine Stammesverfassung. Das Parlament scheint eine Farce. Zwar darf gewählt werden, aber häufig gewinnt derjenige die Wahlen, der die meisten Bierkisten für mögliche Wähler bereitgestellt hat. Seit gut einem Jahr gibt es deshalb in Eswatini heftige politische Unruhen einer breiten Bewegung, die für Demokratie kämpft. Dabei sind schon viele Emaswati (Einwohner von Eswatini) ums Leben gekommen.
Das führt intensiv vor Augen: Demokratie ist nicht selbstverständlich, sie ist kostbar. Mir wurde bei den Afrika-Besuchen immer wieder bewusst, wie sehr unser ganzes Alltagsleben hier durch eine gefestigte Demokratie geprägt wird.
Viele Ihrer Kinderbücher erzählen eher alltägliche Geschichten. Wieso haben Sie gerade die zu Papier gebracht?
Ich habe zunächst Germanistik und Anglistik studiert, über Bert Brecht promoviert und dann eine Weile als Lehrerin gearbeitet. Als mein Mann und ich ein Kind adoptieren wollten, wurde uns gesagt, das ginge nur, wenn die Mutter zuhause bliebe. Das hat mich ziemlich sauer gemacht. Als unser Sohn dann bei uns war, habe ich angefangen zu schreiben.
Viele meiner Geschichten spielen im ganz alltäglichen Hier und Jetzt. Es geht um das normale Leben, das an vielen Stellen aber ganz schön aufregend sein kann. Gerade Kinder fühlen sich dadurch aufgewertet. Deren Leben ist nämlich ähnlich wie das der Kinder in den Geschichten. Ich glaube, das macht den Erfolg der Bücher aus.
Im Februar erschien das Buch „Heul doch nicht, Du lebst ja noch“, das von einem Jungen erzählt, der im zerbombten Hamburg den Zweiten Weltkriegs überlebt hat. Hätten Sie gedacht, dass das Thema Krieg mit den Ereignissen in der Ukraine erneut so eine Bedeutung bekommt?
Nein, ich hatte dieses Buch weit vor dem Ukrainekrieg geschrieben, damit der zweite Weltkrieg und der Nationalsozialismus nicht vergessen werden. Für Kinder heute liegt das so weit zurück wie Napoleon oder die Dinosaurier. Ich wollte zeigen, wie furchtbar Krieg ist und dass der letzte noch gar nicht so lange her ist. Und ich finde, die Erinnerung an die NS-Zeit und den Holocaust muss erhalten bleiben. Im Rückblick scheint sich damals fast die ganze Bevölkerung unseres Landes innerhalb von nur zwölf Jahren von zivilisierten Menschen zu Barbaren entwickelt und weggesehen zu haben...
Ich bekomme inzwischen viele Rückmeldungen von älteren Menschen – per Post oder Mail, die mir ihre eigene — ganz ähnliche — Geschichte aus dieser Zeit erzählen.
Knüpft das nächste Buch also daran an?
Mmmh, das verrate ich noch nicht. In diesen Tagen erscheint erst mal mein Kinderkrimi "Gangster müssen clever sein". Darin geht ein Team kleiner Spürnasen auf Einbrecherjagd. Denn die bestohlene Milliardärstochter Fee ist ihre Freundin. Und sowohl der Chauffeur als auch der Bodyguard haben mächtig Dreck am Stecken...
Noch ein Blick voraus: Was gehen Sie in den nächsten Jahren an?
In Sachen Kinderbücher habe ich noch einige Pläne... Aber auf jeden Fall muss in Eswatini etwas passieren. Die Nahrungsmittelfrage für die Kinderhäuser muss dringend geklärt werden – auch bei LITSEMBA fehlt das Getreide aus der Ukraine und damit Nahrung.
Wir wollen aber eine nachhaltige Lösung: vielleicht Land pachten, Kooperationsvereinbarungen mit Dorfgemeinschaften abschließen, Maschinen mieten... Auch unser Brillenprojekt wollen wie vorantreiben. Denn es gibt viele Kinder und Erwachsene, die sich in Eswatini keine Brille leisten können, in "unserer" Region haben wir nie einen Menschen mit Brille gesehen.
Wenn ich fünf Jahre vorausblicke, dann betreiben wir künftig sicherlich nicht mehr NCPs als heute. Aber wir wollen deren Qualität erhöhen: So soll die Leseförderung stärker im Fokus stehen. Jeder NCP soll auch einen eigenen Gemüsegarten bekommen und die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen sollen ihn bewässern können. Also haben wir auch Brunnen auf dem Plan... Es gibt noch einiges zu tun.
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Möwenweg-Stiftung / Bank für Sozialwirtschaft
IBAN: DE10700205005020204000
BIC: BFSWDE33MUE
Verwendungszweck: Ihre E-Mail- und Post-Adresse
(für die Spendenbescheinigung)
Mehr Informationen:
www.moewenweg-stiftung.de/swasiland-projekte/das-projekt-LITSEMBA-hoffnung/
www.kirsten-boie.de/aktuelles/kirsten-boie-fuer-ihr-engagement-in-eswatini-ausgezeichnet/
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