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Das Ende einer fast vergessenen Zeit
Mehr als ein Jahrzehnt war die Stadt Göttingen Zentrum der deutschen Filmindustrie, dann schlossen sich vor genau 60 Jahren die Türen des Ateliers – für immer.
Ich bin schuldig.“ Das ist der vorletzte Satz der Göttinger Filmatelier-Geschichte. Der letzte Satz, ebenfalls von der Schauspielerin Ruth Stephan gesprochen, ist nicht richtig zu verstehen. Passend zu einem Film, der vor genau 60 Jahren das unrühmliche Ende einer außergewöhnlichen Ära markiert. Der verkaufte Großvater lautet der Titel des letzten im Göttinger Filmatelier 1961 produzierten Films. Der vorletzte Satz steht natürlich nicht in direktem Zusammenhang mit dem Aus des Ateliers, wenngleich der Film Anlass für solche Spekulationen bietet.
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Der verkaufte Großvater, heute vor allem als Theaterstück bekannt, ist eine Mischung aus Heimatschmonzette und Musikfilm mit Hans Moser in der Hauptrolle, bei der Harald Juhnke in einem bayerischen Wirtshaussaal in einer Revue-Show das Lied „Ich bin verliebt in das ganze Ballett“ präsentieren darf. Show und Lied sind so deplatziert, wie der gesamte Film grotesk ist, der den großen Schauspielern Moser und Juhnke nicht gerecht wird. Das eigentlich Verhängnisvolle an diesem Film ist jedoch der Umstand, dass er nicht vermuten lässt, dass die Göttinger Filmgeschichte viele Preziosen zu bieten hat. Es ist eine Geschichte, die zeigt, wie nah Illusion, Traum und Wirklichkeit sowie Erfolg und Scheitern beieinanderliegen können.
Neues Filmzeitalter einläuten
Alles begann mit zwei Studenten und einer gemeinsamen Denkschrift. In Die deutsche Filmproduktion nach dem Krieg erklärten Hans Abich und Rolf Thiele 1945 ihre großen Ambitionen. Später antwortete Rolf Thiele auf die Frage, wie er zum Film gekommen sei: „Direkt aus der Schule des Idealismus. Wir wollten nach dem Kriege Kultur pflügen und Filme gegen den Film machen.“ Gegen den Film? Damit meinte Thiele alle Propaganda-Streifen aus der Nazi-Zeit. Die beiden Studenten wollten nicht weniger als ein neues Film-Zeitalter in Deutschland einläuten.
Es braucht wenig Fantasie, um sich vorzustellen, dass viele die beiden für Spinner hielten, vor allem aufgrund ihrer nicht vorhandenen Vorkenntnisse in Sachen Film. Abich hatte Rechtswissenschaften studiert, Thiele Philosophie und Soziologie. Als die beiden mit ihren Ideen bei den Produzenten der Bavaria-Filmstadt Geiselgasteig vorstellig wurden, blitzten sie eiskalt ab. Zwei von Hybris getriebene junge Männer hätten im Angesicht zerstörter Anlagen und beginnender Entnazifizierungsmaßnahmen gerade noch gefehlt, so die dortige einhellige Meinung. Da saßen Abich und Thiele nun als „Möchtegern-Filmemacher“ gebrandmarkt im vom Zweiten Weltkrieg zerstörten Deutschland mit nichts außer ihrem Traum und der dazugehörigen Denkschrift in der Hand.
Die beiden jungen Männer ließen dennoch nicht von ihren großspurigen Plänen ab. Da war er, der „Idealismus“ als Antriebsmotor, von dem Rolf Thiele später sprach. So setzten sie sich auf einen Güterzug, in der Nachkriegszeit ein gängiges Fortbewegungsmittel, und fuhren in die niedersächsische Stadt Göttingen. Was sprach für diese Stadt? Nichts, was ihren Plänen hätte dienlich sein können. Göttingen war nie Filmstadt gewesen. Ein Zugriff auf bereits vorhandene Infrastruktur oder ausgebildetes Personal war nicht möglich. Weiter entfernt von der Filmwelt – zur Nazi-Zeit wurde in Berlin und München gedreht – konnten die beiden Männer nicht sein. Und doch waren sie überzeugt: In Göttingen werden sie ihren Traum realisieren.
Die Wahl auf Göttingen fiel aus einem pragmatischen Grund. Die beiden Männer brauchten ein Dach über dem Kopf, und eine Tante von Hans Abich besaß in der südniedersächsischen Stadt ein geräumiges Haus. So groß, dass auch zwei weitere Personen mit großen Träumen beherbergt werden konnten. Doch nach wie vor fehlte das Kapital, um aus dem Nichts ein Filmatelier zu bauen.
Ein Hanseat finanziert den Traum
Da kam der Zufall zu Hilfe. Wie Hans Abich Jahrzehnte später im Göttinger Tageblatt erzählte, lernte Rolf Thiele eine junge Frau namens Babette kennen. Die wiederum hatte Kontakt zum Hamburger Kaufmann Friedrich, genannt Fritz, Böhmecke. Ebenjener Böhmecke, ein Filmenthusiast, wollte dann über die Vereinsbank Hamburg den nötigen Kredit finanzieren.
Als Bankiers aus Hamburg vor der Kreditbewilligung in Göttingen vor Ort sind – hanseatische Vorsicht verbietet ein vorschnelles Ja –, sehen sie zwar Hallen auf dem früheren Fluggelände, die als Filmatelier genutzt werden könnten, doch niemanden mit Ahnung vom Filmgeschäft. Mit Cutter Hans Domnick konnte Rolf Thiele dann am Ende des Rundgangs doch noch jemanden präsentieren. Dieser war gerade auf dem Weg nach Berlin und hatte aus Interesse am Projekt einen Zwischenstopp eingelegt. Dieser Glücksfall bescherte den beiden jungen Männern ein Stammkapital von 400.000 Reichsmark und mit Domnick zugleich einen Atelierleiter. Nun konnte die zuvor bereits gegründete Filmaufbau GmbH Göttingen mit dem Atelieraufbau beginnen.
Doch nur ein Jahr später erfolgte der Rückschlag. Das Erstlingswerk von Abich und Thiele, Liebe 47, heute ein filmischer Geheimtipp, floppte. Was nun? Die jungen Filmemacher sahen sich gezwungen, das Atelier an die Bank zu verkaufen, die es mit neu gegründeter GmbH weiterbetrieb. So wurde daraus doch noch eine Erfolgsgeschichte. Das Stammkapital war letztlich nicht nur Grundlage für das damals modernste Filmatelier Deutschlands mit eigener Werkstatt, auch für Stuckateurarbeiten, einem Fundus, Kopierwerk und eigenem Gästehaus. Es war zugleich Grundlage für zwei nachfolgende große Karrieren: Rolf Thiele wurde zum gefeierten Regisseur und Hans Abich zu einem der einflussreichsten Produzenten der Nachkriegszeit und später sogar Intendant von Radio Bremen und Programmdirektor der ARD. Abich gilt als Erfinder der „Tagesthemen“, die bis heute ihren festen Platz im Abendprogramm der ARD haben.
Ein Freitagabend in Herberhausen, einem Stadtteil von Göttingen. In einem früheren Tanzsaal einer ehemaligen Gaststätte treffen sich Mitglieder des Göttinger Filmbüros. Das ist ein Zusammenschluss von filmbegeisterten Menschen, die sich der Aufarbeitung der Göttinger Filmgeschichte verschrieben haben. Eine nostalgisch aufgeladene Atmosphäre herrscht im Saal. Auf dem alten Dielenboden liegen etwa 20 verschiedene Filmplakate, hinzu kommen unzählige Aushangfotos und Zeitungsausschnitte. „Wir haben hier nicht nur deutsche Filmplakate. In Göttingen wurden Filme für den Weltmarkt gedreht und produziert“, erklärt Alexander Siebrecht. Argentinien, Mexiko, Italien, Frankreich und Belgien – die zu bestaunende Plakatauswahl belegt es.
Eine Zeitreise
Plakat für Plakat, Zeitungsartikel für Zeitungsartikel wird abfotografiert. Der historische Saal dient Thomas Klawunn heute als Film- und Fotostudio. Er ist Werbefotograf und Filmemacher und ermöglicht es, Reproduktionen zu erstellen. „Die Filmplakate sind über 60 Jahre alt und altersbedingt nicht alle in gutem Zustand“, erklärt Klawunn. Bevor sie auseinanderfallen, sorgt das Filmbüro dafür, dass sie mit Reproduktionen der Nachwelt erhalten bleiben. Zudem dienen diese dann als Exponate für spätere Ausstellungen. Die Originale bleiben sicher verwahrt. Dieser Abend im Fotostudio ist eine Zeitreise, zumal die Mitglieder des Filmbüros zu jedem Film eine Anekdote erzählen können.
Die Stars der 50er Jahre gaben sich im Göttinger Atelier die Klinke in die Hand: Hans Albers, Gert Fröbe, Walter Giller, Theo Lingen, Hans Moser, Liselotte Pulver, Nadja Tiller und allen voran Heinz Erhardt, der dank der Göttinger Produktionen zum Liebling der Nation aufstieg und in Sachen Unterhaltung neue Maßstäbe setzte. Filme wie Natürlich die Autofahrer und Vater, Mutter und neun Kinder haben bis heute nichts von ihrem humorigen Charme verloren. „Heinz Erhardt spielte hier in Göttingen seine erste Hauptrolle und verdreifachte sich sogar“, erklärt Sven Schreivogel, Chef des Filmbüros schmunzelnd. Verdreifachung ist eine Anspielung auf den Film Drillinge an Bord, in dem Heinz Erhardt die Drillinge Heinz, Otto und Eduard Bollmann spielt.
Auf den letzten Film der Filmatelier-Geschichte und Hans Moser angesprochen, muss Schreivogel dann sogar lachen. „Mosers Geiz am Set war legendär. Häufig wärmte er in der Atelierkantine seine selbst mitgebrachten Würstchen auf. Noch lieber ließ er sich jedoch von einem Set-Mitarbeiter einladen.“ Wer im Gegenzug darauf hoffte, auch mal von Hans Moser eingeladen zu werden, der habe vergebens gehofft. Nachzulesen ist dies alles in den Göttinger Monatsblättern aus dem Jahr 1982, die Schreivogel schnell zur Hand hat. Er ist eine Person, die wahrlich als wandelndes Lexikon zur Göttinger Filmgeschichte bezeichnet werden kann. Viel von seinem Wissen findet sich heute auf der Internetseite filmstadt-goettingen.de, die er mit seinem Team vom Filmbüro aufgebaut hat.
Fragt man die Filmbüro-Crew, was aus der Filmatelier-Geschichte unbedingt erzählt werden muss, folgt eine lange Antwort – und die Erkenntnis, dass gar nicht alles in einem Artikel erzählt werden kann. Interessant seien die Widersprüche, sagt Sven Schreivogel. So habe Atelierleiter Hans Domnick auf der einen Seite Regisseur Curt Goetz aus den USA nach Göttingen geholt – Goetz war vor den Nazis geflohen –, aber habe zugleich Veit Harlan zum Comeback verholfen. Harlan war Regisseur des Nazi-Propagandafilms Jud Süß. Die Erklärung dieses Widerspruches könnte in den Biografien der beiden Ateliergründer zu finden sein. Abich und Thiele waren selbst Mitglieder der NSDAP gewesen, wie neue Recherchen offenlegen, verschwiegen dies jedoch nach dem Krieg, um ihre Karrierepläne nicht zu gefährden.
Regisseur Veit Harlan setzte jedenfalls mit Unsterbliche Geliebte den Startpunkt einer Reihe von Literaturverfilmungen. Hier sei allen voran die Verfilmung von Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull der Filmaufbau Göttingen aus dem Jahre 1957 erwähnt. Im Vergleich mit der Vielzahl an überbordenden und sinnfreien Filmproduktionen in heutiger Zeit ist dieser Film mit Horst Buchholz und Liselotte Pulver in den Hauptrollen eine Wohltat für die Sinne.
Nicht vergessen darf man mit Blick auf Göttinger Produktionen die Antikriegsfilme von Regisseur Frank Wisbar. Bildmächtig, jedoch ohne erhobenen moralischen Zeigefinger, setzte dieser in drei Filmen den Zweiten Weltkrieg in Szene.
Ohne Filmarchitekt Walter Haag wäre all dies undenkbar gewesen. Er war ein Meister seines Fachs, wenn nicht gar der Größte seiner Zeit. Für den Wisbar-Film Nacht fiel über Gotenhafen schuf er im Göttinger Atelier und auf dessen Freigelände zwei große Schiffschaukeln, da nicht nur Teile des Oberdecks der Wilhelm Gustloff mit Schornstein, Kommandobrücke und Treppen zu sehen sein mussten, sondern für die Untergangsszenen auch das Schiffslazarett mit 250 Schwerverwundeten. Diese Szenerie musste in eine Schräglage gebracht, geschaukelt und von Wassermassen überflutet werden.
Walter Haag nutzte dazu zwei Schaukelbühnen aus Holz, die auf Kugelsegmenten auflagen und durch zwei von Elektromotoren gesteuerten Winden in jede beliebige Schräglage gebracht werden konnten. Die Schiffschaukeln hatten eine Oberflächenabmessung von 225 Quadratmetern. Die Schwierigkeit der Konstruktion bestand darin, dass sie einerseits beweglich und zugleich enorm stabil sein musste, da die Schaukelwippe bei einem Wassereinbruch unter Deck nicht weniger als 50 Tonnen Wasser tragen musste. Wäre Haag 1996 bei den Dreharbeiten zu James Camerons Film Titanic dabei gewesen, er hätte sich zurückversetzt gefühlt in das Jahr 1959, als er die Wilhelm Gustloff wiederauferstehen ließ. Doch Haag starb 1978 einsam in Göttingen. Vergessen, wie sein gesamtes Wirken für den deutschen Nachkriegsfilm.
Dies zu ändern, hat sich das Göttinger Filmbüro auf die Fahnen geschrieben. Regelmäßig zeigt das Team um Sven Schreivogel in Göttingen Filme aus dem Atelier. Präsentieren sie heute den Erhardt-Klassiker Natürlich die Autofahrer im Kino, ist der Saal restlos gefüllt. Anerkennung erfährt ihre Arbeit aber nicht nur aus der Göttinger Bevölkerung. Nicola Tyszkiewicz, Enkelin von Heinz Erhardt, kam schon persönlich zu einer Filmvorführung vorbei und schätzt die Arbeit des Teams: „Ich bin gerührt, mit welchem Eifer das Filmbüro arbeitet, und stolz, das Team zu kennen.“ Sie weiß, wie bedeutsam das Göttinger Kapitel in der Karriere ihres Großvaters ist. „Die Filme sind die wichtigsten und zugleich schönsten, die er gedreht hat. Sie gehören zur Kulturgeschichte.“
Sie selbst organisiert mit Promoter Karsten Jahnke eine im März startende Tour der NDR Bigband. Unter dem Titel Augen auf und durch werden Kompositionen von Heinz Erhardt gespielt. Mit dabei sind unter anderem Sänger Stefan Gwildis und Schauspieler Dietmar Bär.
Ausbleibende Würdigung
Trotz all des Zuspruchs bleibt für Sven Schreivogel und sein Team ein Wermutstropfen. „Es gibt leider bislang keine Dauerausstellung, um das Kapitel Göttinger Film angemessen zu würdigen“, erklärt er. Schreivogel weiß, das Filmbüro allein kann diese Herausforderung nicht meistern.
Vor 60 Jahren wurde der letzte Filmscheinwerfer im Göttinger Atelier ausgeknipst. Nach über 100 Filmen, darunter auch Zeichentrick- und Dokumentarfilme, schlossen die Tore für immer. Als die Deutsche Film Hansa GmbH, Hauptmieter des Filmateliers, 1959 mit der Westberliner Ufa fusionierte, war Göttingen als Produktionsort nicht mehr gefragt. Die Hamburger Bank glaubte nicht an einen wirtschaftlich erfolgreichen Weiterbetrieb.
Ob in Göttingen nun aber bald wieder Lichter angehen, um der Filmgeschichte einen würdigen Erinnerungsort zu bieten, ist ungewiss. „Es wäre der Stadt Göttingen zu wünschen“, sagt Sven Schreivogel. Denn Der verkaufte Großvater sei ein Ende, das sie nun wahrlich nicht verdient habe.
Copyright: Andreas Fischer
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