Über den Reichtum des Kulturstaats Deutschland – und was seine Bürger von ihm haben
Der Grundstoff, der alles zusammenhält
Diesen Text schreibe ich in meinem südhessischen Heimatdorf Groß-Rohrheim, im Ried gelegen zwischen Odenwald und Rhein. Gerade war ich in Nürnberg, im Germanischen Nationalmuseum, wo man den jungen Albrecht Dürer in einer grandiosen Ausstellung neu entdecken kann. Dürer in der Dürerstadt neu präsentiert in der größten Dürer-Schau seit vierzig Jahren – ein Ereignis. Von Groß-Rohrheim kann man mit öffentlichen Verkehrsmitteln bequem in zweieinhalb Stunden daran teilhaben. Die Kunstwissenschaft wird sich noch in hundert Jahren auf dieses Ausstellungsereignis beziehen.
Nach Stuttgart braucht es nur eine Stunde. Dort zeigt das Württembergische Landesmuseum die Kulturgeschichte der Region vom Auftauchen des homo erectus vor 250.000 Jahren bis zur Abdankung des aufrechten württembergischen Königs Wilhelm II. 1918. Ein Wahnsinnsprojekt – sollte man meinen. Aber es gelingt, und es wird nicht zuletzt Tausenden von Kindern eine Anschauung von Geschichte geben und Fragen beantworten, die im Museum überhaupt erst entstehen: Woher kamen denn eigentlich die Germanen? Was war der Limes? Was ist ein Flügelaltar? Dürfen Könige mit ihrem Hund einfach in der Stadt spazieren gehen? Und warum wollte der König nicht Ministerpräsident werden?
Kultur auf kurzem Wege
Das soll hier kein Heimatlob werden. Es ist aber zu erwähnen, dass von Groß-Rohrheim aus mindestens sieben Staats- und Stadttheater bequem zu erreichen sind, Mehrspartenhäuser mit Schauspiel, Oper und Ballett. Die Zahl der Museen und Galerien habe ich jetzt nicht parat. Es sind sicher mehrere Dutzend. In den Odenwald, die Pfalz, den Rheingau ist es ein Katzensprung. Das Kloster Lorsch liegt vor der Haustür. Schön und bedenkenswert daran ist, dass Groß-Rohrheim kein Ort mit exzeptionellen Standortvorteilen ist – für mich zwar schon –, sondern fast deutsche Normalität. Vielleicht muss man Abstriche bei den Theatern machen, wenn man im Emsland wohnt oder eine etwas mehr als einstündige Anreise in kauf nehmen, wenn man vom Oderbruch aus die Staatsoper oder das Deutsche Theater in Berlin besuchen will. Aber es gibt doch in Deutschland keinen Ort, der so weit abgeschnitten wäre von öffentlichen kulturellen Institutionen, dass Teilhabe am kulturellen Leben – das individuelle Vermögen vorausgesetzt – von ihm aus unmöglich wäre.
Flächendeckende Versorgung nennt man das technokratisch. Feinsinnige Intellektuelle bekommen dabei ebenso Schweißausbrüche wie durchtrainierte Kulturmarketingstrategen. Beide stoßen sich – aus allerdings sehr unterschiedlichen Gründen – daran, dass der Staat in Deutschland seine Bürger in einer Weise mit Kultur „versorgt“, die nicht nur in Europa, sondern in der Welt einzigartig ist. Es hat sich zwar im Bundestag noch keine Konstellation ergeben, das „Staatsziel Kultur“ im Grundgesetz zu verankern, obwohl die Kulturpolitiker aller Parteien dafür sind. Dass aber eine systematische, und nicht nur mäzenatische, Förderung der Kultur einschließlich der kulturellen Bildung eine originäre Staatsaufgabe sei, darüber herrscht in Deutschland doch ein breiter Konsens. Ein Konsens, der sich gerade in den Zeiten der Krise der öffentlichen Finanzen gefestigt hat. Die Einsicht, dass durch Kürzung der Kulturausgaben die öffentlichen Haushalte nicht saniert werden aber umso größere langfristige Schäden verursacht werden können, hat sich parteiübergreifend durchgesetzt. Und man muss dem gerade im öffentlichen Kulturbetrieb immer abrufbaren Alarmismus entgegen halten, dass die Kultur in der Krise alles in allem doch ziemlich glimpflich davon gekommen ist.
Goldene Zeiten
Mehr noch: Wenn man alles zusammen nimmt, kann man das vergangene Jahrzehnt durchaus als ein Goldenes Jahrzehnt der Kulturpolitik bezeichnen. Nicht nur, weil die öffentlichen Mittel für die Kultur – bei allen landesspezifischen Differenzen im föderalistischen Deutschland – jedenfalls nicht geschmolzen und auf der Ebene der Bundeskulturpolitik kräftig gewachsen sind, sondern vor allem auch deshalb, weil kulturelle Aktivitäten und Kulturpolitik eine öffentliche Aufmerksamkeit gewonnen haben, die sie vorher nicht hatten. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass „Kultur“ – der vom Aussterben bedrohte klassische Bildungsbürger krümmt sich in Schmerzen – auch als „Standortfaktor“ gilt, dass die Kulturwirtschaft eine erhebliche Bedeutung gewonnen hat, dass in den politischen Strategien der Regionalentwicklung Kultur als „weicher Faktor“ eine immer größere Rolle spielt.
Aber es ist doch so, dass die Kultur durch solche Zirkulations- und Marketingprozesse nicht erzeugt wird, sondern andere Voraussetzungen hat, sowohl was die kulturelle Produktion als auch was die kulturelle Rezeption angeht. Schaut man sich deutsche Orchester an, sieht man schon in den Gesichtszügen der Musiker, dass es auf der Welt keine besseren Musikhochschulen gibt als die staatlichen in Deutschland. Und dass philharmonische Konzerte ein Publikum finden, das hängt eben auch mit einer musikalischen Breitenbildung zusammen, für die finanziell strangulierte Kommunen in ihren Musikschulen eben doch noch etwas übrig haben. Verwüstungsszenarien werden zwar allenthalben beschworen – der Deutsche Kulturrat beschwört täglich den kulturellen Weltuntergang – aber eingetreten sind solche apokalyptischen Visionen nicht. Es gab in den vergangenen Jahren nur manchen Ärger, manchen Verzicht, auch manchen Verlust. Aber dem gegenüber steht alles in allem eine Bilanz, die für die öffentliche Kulturfinanzierung durchaus positiv ist. Daran, dass etwa acht Milliarden aus öffentlichen Haushalten für Kultur aufgewendet werden, die private Kulturfinanzierung aber nur ein Zehntel davon ausmacht, hat sich trotz aller öffentlichen Haushaltskrisen nichts geändert.
Die Deutschen, die sich ja den längsten Teil ihrer Geschichte kulturell und nicht staatlich als Nation definieren und selbst wahrnehmen konnten, haben offenbar, unterhalb der großen intellektuellen Debatten über Kulturnation und Staatsnation, ein instinktives Gespür dafür, dass die Kultur nicht das ist, was als Sahnehäubchen obendrauf gesetzt wird, sondern der Grundstoff selber, der den Zusammenhalt gar nicht so sehr als Nation, sondern als Gesellschaft in der Mitte Europas wesentlich bestimmt. Ich möchte noch einmal auf Dürer zurückkommen, der ja nach romantisch-idealistischem Verständnis die deutsche Bildkunst zur Weltkunst gemacht, die italienische Renaissance nach Deutschland gebracht hat. In der neuen Nürnberger Ausstellung werden nun vor allem seine fränkischen Wurzeln und seine Einbindung in einen lokalen Nürnberger Mikrokosmos hervorgehoben. Nicht, dass das völlig neu wäre. Aber es zeigt doch die neuerliche Bereitschaft, weit jenseits jeglichen Kulturchauvinismus einen „Weltkünstler“ als kulturelles Eigengewächs einer über die Maßen reichen deutschen Kulturlandschaft aufzufassen. Von diesem Reichtum reden wir, wenn wir vom „Kulturstaat Deutschland“ reden. Es klingt pathetisch, aber es ist der größte Reichtum, den er hat. Bevor der geschätzt wird, muss er allerdings erkannt werden. Und das ist, allen kulturwirtschaftlichen Marketingstrategen sei das gesagt, eine Aufgabe der kulturellen Bildung und also eine Aufgabe des Staates. Bevor ein „Markt“ für kulturelle Angebote entsteht, muss es eine Nachfrage geben. Anders als bei elektrischen Zahnbürsten ist die nicht durch Bedürfniserzeugung zu „generieren“, sondern nur durch Bildung, durch kulturelle Bildung. Die „Marktteilnehmer“ brauchen, wenn man so will, eine Grundlage an Warenkunde, die keine Markterfahrung vermitteln kann.
Es ist deshalb keine Überhöhung oder gar eine Anmaßung, wenn sich die Bundesrepublik Deutschland als „Kulturstaat“ versteht. Sie ist es ebenso existenziell wie sie Sozialstaat ist. Gegen beides wird zwar manchmal gewütet, weil es angeblich unzeitgemäß sei. Aber ein überzeugendes Gegenmodell zum Sozial- und Kulturstaat Deutschland hat noch niemand vorgelegt. Ich erwarte also, dass ich mich auch in Zukunft zwischen sieben Theatern entscheiden kann. So viel kultureller Luxus muss sein.
Eckhard Fuhr war politischer Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und leitete viele Jahre lang das Kulturressort von „Welt“ und „Welt am Sonntag“. 2014 erschien sein Buch „Rückkehr der Wölfe“, 2017 „Schafe. Ein Portrait“ und 2019 „Jagdkunde“. Er ist stv. Vorsitzender des Ökologischen Jagdvereins Brandenburg-Berlin.
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