Titelthema
Ein Meister der Anpassung
Der Wolf hat Europa zurückerobert. Er ist gekommen, um zu bleiben, und zwingt uns ein Lernprogramm auf.
Zu Beginn sei mir eine persönliche Bemerkung erlaubt: Als ich vor etwa 30 Jahren in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung meinen ersten Artikel über eine mögliche Rückkehr der Wölfe nach Mitteleuropa schrieb, dachte ich nicht im Traum daran, dass dieses Thema jemals Eingang in Koalitionsverträge finden und Gesellschaft, Politik und Medien in der Weise umtreiben würde, wie wir es seit einigen Jahren erleben. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass in einer sich als modern und aufgeklärt verstehenden Gesellschaft der Wolf zu der giftigen Polarisierung führen würde, welche die Auseinandersetzung um ihn heute bestimmt.
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Ebenso wenig hatte ich eine Ahnung davon, welch großen Raum der Wolf einmal in meiner Arbeit als Journalist und Autor, aber auch in meiner Tätigkeit in Verbänden und Gremien einnehmen würde. Die Wölfe haben auch mich überrascht. Ich erwartete sie als heimliche Nachtgespenster, die in dünn besiedelten Regionen ein diskretes Leben führen würden. Sie kamen aber als überaus anpassungsfähige Zivilisationsfolger, die sich um unsere naturromantischen oder auch von archaischen Ängsten geprägten Erwartungen nicht scherten. Die Wölfe nötigen den europäischen Gesellschaften ein Lernprogramm auf. Der Lernwille könnte besser sein.
Die Folgen der Entfremdung von der Natur
Seit der Jahrtausendwende ist Deutschland wieder Wolfsland. Ein auf einem Truppenübungsplatz in der Oberlausitz ansässiges Wolfspaar zog im Frühjahr des Jahres 2000 Welpen auf – die erste wölfische Reproduktion auf deutschem Boden seit mindestens 150 Jahren. Heute besiedeln nach Angaben der Dokumentations- und Beratungsstelle des Bundes zum Thema Wolf (DBBW) 184 Wolfsrudel (Wolfspaare mit Nachkommen), 47 Wolfspaare ohne Nachkommen und 22 sesshafte Einzelwölfe das Land. Es gibt also insgesamt 253 mit aufwendigen Monitoringverfahren nachgewiesene Wolfsterritorien. Genetisch erfasst waren im Monitoringjahr 2022/23 1339 Wolfsindividuen. Die tatsächliche Zahl liegt sicherlich etwas höher. An der Individuenzahl sollte man sich allerdings nicht festklammern. Sie schwankt im Jahresverlauf stark. Etwa die Hälfte aller Wolfswelpen erlebt den ersten Geburtstag nicht. Staupe, Räude, Würmer und nicht zuletzt der Straßenverkehr dezimieren den Nachwuchs. Aber die Gesamtpopulation ist inzwischen so robust, dass sie solche natürlichen und durch das Leben in einem modernen Industrieland bedingten Verluste gut verkraftet.
Die höchste Wolfsdichte hat das Land Brandenburg. Hier leben allein 52 der 184 Wolfsfamilien. Es folgen Niedersachsen mit 39 und Sachsen mit 38 Rudeln. Insgesamt ist klar zu erkennen, dass sich die Wölfe von ihrem „Quellgebiet“ im Osten Sachsens in den vergangenen 30 Jahren in einem breiten Streifen in nordwestlicher Richtung bis an die Nordseeküste ausgebreitet und dabei Truppenübungsplätze gern als „Trittsteine“ benutzt haben. Allmählich etablieren sich aber auch Wolfsvorkommen im Süden und Westen Deutschlands und in Österreich, die zum Teil von Abwanderern aus der in Italien, Frankreich und der Schweiz lebenden Population begründet werden. In allen deutschen Flächenländern sind Wolfsterritorien nachgewiesen. Die Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen erhalten regelmäßig wölfischen Besuch.
Unbedarfte Zeitgenossen fragen sich, was denn all die vielen Wölfe in dieser dicht besiedelten Weltregion zu suchen haben, zwischen menschlichen Siedlungen, Industriegebieten, Autobahnen und Bahnlinien, und schütteln ungläubig den Kopf, wenn sie hören, dass Brandenburg zu den am dichtesten von Wölfen besiedelten Regionen der Erde gehört. Das ist in der Tat der Fall, und dieses Faktum lenkt den Blick auf ein grundlegendes Missverständnis, das sich unausrottbar durch alle Debatten über den Wolf zieht: Viele glauben immer noch, die „Wildnis“ sei der natürliche Lebensraum des Wolfes. Das ist sie nicht. Im Zuge seiner Rückkehr hat uns der Wolf gelehrt, dass von intensiver Landwirtschaft bestimmte, mit Nährstoffen gesättigte Landschaften für ihn hochattraktiv sind. Das ganzjährig vorhandene üppige Nahrungsangebot für seine Hauptbeute Reh, Rothirsch und Wildschwein ließ in den vergangenen 50 Jahren die Bestände dieses „Schalenwildes“ auf ein Niveau anwachsen, das in historischer Zeit noch nie erreicht worden war. Die Jagdstrecken, also die Zahl der erlegten Tiere, spiegeln diese Entwicklung. Sie haben sich in Mitteleuropa beim Reh seit 1970 verdoppelt, beim Rotwild verdreifacht und beim Wildschwein verzwölffacht. Der Tisch ist für den Wolf heute reicher gedeckt, als er es seit Jahrhunderten war. Und auch sonst bietet die moderne Zivilisationslandschaft dem Wolf Vorteile etwa in Form von Rückzugsmöglichkeiten. Entgegen landläufiger Meinung ist sie nämlich nicht von Menschengewimmel und Lärm erfüllt. Vor 100 Jahren noch arbeiteten Tag für Tag von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang Hunderttausende Menschen auf den Feldern und in den Wäldern. Heute erledigen Maschinen in Stunden, was früher wochenlange Plackerei war. Ausgedehnte Ackerschläge und Forstkulturen bleiben auch von Freizeitaktivitäten weitgehend unberührt.
Und noch etwas ist in Anschlag zu bringen: Gerade weil heute die meisten Menschen nicht mehr auf Feldern und in Wäldern arbeiten, sondern in Büros und Fabriken, kann sich bei ihnen ein Naturverständnis ausbilden, das den Gedanken überhaupt zulässt, dass große Beutegreifer wie der Wolf ein Existenzrecht in der Nachbarschaft des Menschen hätten. Die Entfremdung vom praktischen Umgang mit der Natur erweist sich als Nährboden für die moderne Liebe zu ihr. Von diesem Paradox leben Natur- und Artenschutz. In eine von bäuerlichen Anschauungen und Mentalitäten geprägte Gesellschaft könnte der Wolf nicht zurückkehren, denn vom Begleiter der Jäger und Sammler, aus dem schließlich der Hund wurde, war er mit dem Übergang zu Ackerbau und Viehzucht vor 10.000 Jahren zum absoluten Feind geworden.
Bejagen und regulieren
Völlig verschwunden allerdings sind bäuerlich denkende, vor allem aber bäuerlich handelnde und wirtschaftende Menschen nicht. Als Schäfer und Weidetierhalter halten sie ein Gegenmodell zur industriellen Agrarproduktion aufrecht und leisten unbestritten einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der Biodiversität. Der Wolf stellt sie vor Herausforderungen, die ihnen, aber auch den Generationen ihrer Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern, völlig unbekannt waren. Beim sogenannten Herdenschutz gibt es bei uns kein altes, traditionelles Wissen, das wieder freigelegt und an das angeknüpft werden könnte. Er muss neu gelernt, er muss in technische und wirtschaftliche Betriebsabläufe integriert und er muss akzeptiert werden. Das Letztere scheint gerade in jüngster Zeit zum wolfspolitischen Hauptproblem zu werden, das sich verschärft hat, weil einfluss reiche Verbände der Landnutzer, wie der Deutsche Bauernverband und der Deutsche Jagdverband, beim Wolf auf brutale Konfrontation umgeschaltet haben und ohne es offen auszusprechen doch die Erwartung nähren, man könne sich der Wölfe in einem beträchtlichen Umfang wieder entledigen, wenn man nur endlich eine flächendeckende reguläre Bejagung ermögliche. Große Naturschutzverbände wie Nabu und BUND dagegen wecken ihrerseits unrealistische Erwartungen in Bezug auf die Wirksamkeit und Machbarkeit von Herdenschutz und wollen Abschüsse – entsprechend der europäischen und nationalen Rechtslage – nur als letztes Mittel akzeptieren.
Ein Kompromiss muss her
Zurzeit ist schwer abzusehen, wie sich diese Fronten auflösen könnten. Klar ist: Es wird immer Wölfe geben, die fachgerechten Herdenschutz überwinden. Ihnen kann nicht mit immer höheren Zäunen begegnet werden. Ein solches Wettrüsten wäre sinnlos. Diese Wölfe müssen abgeschossen werden. Es wird auch immer Tierhalter geben, die mit dem Herdenschutz überfordert sind, auch wenn die Kosten dafür vom Staat übernommen werden. Schlecht geschützte Weidetiere bringen die Wölfe auf den Geschmack und machen sie zu Schaf- und Kälberfressern. Wenn dadurch der Schadensdruck in einer Region wächst, muss dort geschossen werden. Die sogenannte „Entnahme“ von Wölfen mit unerwünschtem Verhalten muss als Teil des Herdenschutzes verstanden werden. Ohne diese Abschüsse wird das Schutzsystem auf Dauer nicht funktionieren. Die pauschale Bejagung nach Quoten dagegen führt, wie Beispiele in der europäischen Nachbarschaft zeigen, etwa in Frankreich oder der Slowakei, nicht zu einem Rückgang der Schäden.
Der jüngste Beschluss der Umweltministerkonferenz zur vereinfachten Entnahme von Wölfen, der auf einen Vorschlag der Bundesumweltministerin zurückgeht, könnte einen Weg weisen und zu einer Entschärfung der Lage führen. Dafür müssten Bauern- und Jagdverband und ihr Gefolge aber den Fetisch der „Bestandsregulierung“ beiseitelegen. Und Naturschützer müssten aufhören, bei jeder Abschussverfügung zu den Verwaltungsgerichten zu rennen. In der Praxis könnte das vorgeschlagene Verfahren, das jetzt von den Ländern in Verordnungen gegossen werden muss, dazu führen, dass in bestimmten Regionen mit hohen Schäden ganze Rudel eliminiert und Gebiete zeitweilig wolfsfrei gehalten werden. Mit Sicherheit werden irgendwann neue Wölfe kommen. Vielleicht sind die dann umgänglicher.
Wie gesagt: Der Wolf zwingt uns ein Lernprogramm auf. Alle Beteiligten müssen bereit sein, eingeschliffene Vorstellungen zu überprüfen und gegebenenfalls aufzugeben. Die Wölfe ihrerseits lernen auch. Ein Zustand, in dem alles geregelt ist und alle Probleme gelöst sind, wird niemals eintreten. Er wird uns also erhalten bleiben, der Wolf als Nachbar und Streitgegenstand.
Shaun Ellis, Monty Sloan
Der Wolf: Wild und faszinierend
Delphin Verlag,
256 Seiten, 6,99 Euro
Axel Gomille
Wölfe: Unterwegs mit dem Tierfotografen Axel Gomille
Kosmos Verlag,
64 Seiten, 16 Euro
Elli H. Radinger
Die Weisheit der Wölfe
Heyne Verlag,
288 Seiten, 19,99 Euro
Saša Stanišić
Wolf
Carlsen Verlag,
192 Seiten, 14 Euro
Eckhard Fuhr war politischer Redakteur der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ und leitete viele Jahre lang das Kulturressort von „Welt“ und „Welt am Sonntag“. 2014 erschien sein Buch „Rückkehr der Wölfe“, 2017 „Schafe. Ein Portrait“ und 2019 „Jagdkunde“. Er ist stv. Vorsitzender des Ökologischen Jagdvereins Brandenburg-Berlin.
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