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von Martin Hoffmeister |
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Lohnende Einblicke in skurrile wie absurde Abgründe der Musikwelt und ihrer Protagonisten

Das Schaffen Johann Sebastian Bachs gilt Interpreten und Komponisten seit je als zentrale Bezugsgröße. Insbesondere Pianisten und Cembalisten begreifen Werke wie die „Goldberg-Variationen“, die „Englischen“ oder "Französischen Suiten" oder Buch I des „Wohltemperierten Klaviers“ als Ausgangs- und Endpunkt künstlerischer Ambition. Von exemplarischem Zuschnitt in Form, Struktur und stilistischem Reichtum offerieren Bachs kompositorische Wegmarken ihren Exegeten zudem idealtypische Vorlagen, um eigene spieltechnische und gestalterische Potenziale ins Licht zu rücken. Mit seinem aktuellen Album „Bach & Beyond“ nimmt der belgische Pianist Julien Libeer einige der zahllosen Spuren aus Bachs universalem Kosmos in Werken nachfolgender Meister wie Mozart, Beethoven, Chopin, Brahms, Ravel oder Schönberg in den Blick. Über den Dialog von ausgewählten Präludien und Fugen aus dem „Wohltemperierten Klavier“ mit Piecen aus Klassik, Romantik und 20. Jahrhundert generiert Libeers luzide funkelnde Pianistik nicht nur erkenntniszeitigende klanglich-stilistische Spannungsfelder, sondern unterstreicht mittelbar auch die Bedeutung des Thomaskantors für die Nachgeborenen.

Dass die Welt der sogenannten ernsten Musik, der Klassik, durchaus mit humorigen Seiten, mit Witz und skurrilen Abgründen aufzuwarten weiß, erhellen neben Musiker-Autobiografien immer wieder auch Anekdoten-Sammlungen und private Überlieferung. Dabei muss das Sujet nicht unbedingt auf zopfigem Stammtisch-Niveau oder in Manier kennerischer Hoffart abgehandelt werden, wie das vorliegende Hörbuch von Joseph Berlinger in 44 Kapiteln zeigt. Entlang sämtlicher technischer, sprecherischer, klanglicher und dramaturgischer Möglichkeiten der Hörspielkunst inszeniert der Autor Pointen, Komisches, Absurdes, Peinliches oder Menschlich-Allzumenschliches aus dem Leben von Musikern und Komponisten. Mal forciert, mal zugewandt, mal boshaft, anarchisch oder deftig: Berlinger und das vorzügliche Schauspieler-Ensemble um den Erzähler Igor Jussim legen in ausgewählten Anekdoten den Finger in (Künstler-) Wunden wie Hybris, Egomanie, Exzentrik, Narzissmus und Weltfremdheit. Für Kurzweil etwa sorgen Reger köpft den Spargel, Die Knef läuft Amok oder Nigel Kennedy will nicht ins Bett.

Für die einen Inbegriff höchster künstlerischer Verdichtung und Ausdrucksvarianz, für die anderen Prototyp sentimentalischer ästhetischer Indifferenz: Am deutschen Kunstlied scheiden sich (zunehmend) die Geister. Willkommen vor diesem Hintergrund ist der objektivierende Blick auf das vielgesichtige Thema. In Martin Mirabels siebenteiliger Serie „Le Lied. Histoire d’un voyage“ lässt der französische Musikwissenschaftler André Tubeuf (französisch mit englischen Untertiteln) die wichtigen Stationen des deutschen Kunstliedes, dessen Protagonisten und Gipfelwerke Revue passieren. Begleitet von minimalistischer Bildregie, die Tubeuf auf seiner Wohnzimmer-Couch zeigt, und gerahmt von kurzen, bilderunterlegten Musikbeispielen, verhandelt der Musikologe neben historischen Aspekten auch Kontext und Bezüge der Gattung zwischen Wort, Musik, Malerei, Naturerfahrung und aufgeladener Emotion. Eine Hommage an Subtilität, Zwischentöne und Nuancen.

Insbesondere die kostbaren Instrumente der legendären Geigenbauer erleben über die Jahrhunderte zwischen Entstehung, Nutzung durch verschiedene Musiker und Reisen in die Konzerthäuser der Welt nicht selten bizarre und abenteuerliche Geschichten. Autor und Geigenbauer Frédéric Chaudière skizziert die „Biografie“ einer Stradivari-Geige („Gibson“), deren 300-jährige Reise von Cremona über Paris und London nach New York führt: Ein Krimi mit wechselnden Beteiligten in verschiedenen Epochen zwischen Roman, Tatsachenbericht und geschichtlicher Einlassung, der das solitäre Instrument zwischen Werkstätten, Bühnen, Flughäfen und Hotels einer Personnage ausgeliefert präsentiert, die sich nicht immer nur der Kunst verpflichtet sieht. Eine Story, die das fragile Gebilde aus venezianischem Fichtenholz wahrhaft zum Leuchten bringt.


  1. Julien Libeer, J. S. Bach & Beyond – A Well- Tempered Conversation, Harmonia Mundi, CD Karajan steigt ins Taxi, 44 Musiker-Anekdoten hin- und hergerichtet von
  2. Joseph Berlinger, TYXart, 117 Min., Hörbuch
  3. André Tubeuf, Le Lied. Histoire d’un voyage, BelAir, BAC 187, DVD
  4. Frédéric Chaudière, Geschichte einer Stradivari, Wagenbach, 144 S., 19 Euro, Buch
Martin Hoffmeister

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