Juni-Flut
Plötzlich galt Alarmstufe Rot
Im Juni zerstörte die Flut Tausende von Existenzen entlang der Elbe, der Donau und der jeweiligen Nebenflüsse. Viele Rotary Clubs und Distrikte richteten Spendenkonten ein und sagten ihre Hilfe zu – wie auch der RC Deggendorf. Eine Zwischenbilanz aus Niederbayern
Die Schäden allein im Landkreis Deggendorf belaufen sich auf etwa 550 Millionen Euro, 21 Orte mit circa 6000 Personen wurden evakuiert. 13 Quadratkilometer standen unter Wasser – vor allem die Deggendorfer Ortsteile Fischerdorf und Natternberg, außerdem im Landkreis die Gemeinde Niederalteich. Verantwortlich für den Großeinsatz in den Tagen der Flut war Alois Schraufstetter, der vom Landrat Christian Bernreiter (RC Deggendorf) zum örtlichen Einsatzleiter ernannt wurde. „Der Landrat übernimmt die Exekutivrechte und kein Bürgermeister kann mehr entscheiden“, erläutert Alois Schraufstetter die besonderen Regeln bei Katastrophenalarm. Auf einen Schlag hatte der Stadtbrandinspektor damit 4000 Leute zu führen, darunter Feuerwehren, Wasserwacht, Bundeswehr, Bundesgrenzschutz, das Technische Hilfswerk und viele zivile Helfer.
Teil des Katastrophenteams war auch Kiesunternehmer Michael Hacker aus dem RC Deggendorf. In einer nächtlichen Aktion etwa trommelte er Mitarbeiter zusammen und baute in Rekordzeit eine Straße mitten durch das Flutgelände und kümmerte sich um die Lagerung ungeheurer Mengen Müll. „Es sah aus wie im Krieg. Die Straßen waren voller Dreck, Glas und Müll“, sagt auch Andrea Weißmann. Tausende Tonnen Sperrmüll wurden von unzähligen Helfern aus den Häusern und von der Straße geschleppt und anschließend abtransportiert. Alois Schraufstetter weist auch auf „massivste Zerstörungen der Tierwelt“ hin.
Allein etwa 20 Lkw-Ladungen mit Tierkadavern kamen täglich zusammen. Verheerende Schäden richtete auch ausgelaufenes Öl an. Die gute Nachricht laut Alois Schraufstetter: „Es gibt keinen Tropfen Öl in der Isar. 350.000 Liter wurden aus den Schadensgebieten wiedergewonnen.“
Aktion Abriss
Etwa 200 Häuser allerdings müssen wegen Ölschäden abgerissen werden. So wie zum Beispiel das von Holmer Bruhn aus dem Stadtteil Fischerdorf. Sechs Jahre hatte der 49-Jährige darin mit seiner Familie zur Miete gewohnt. Gerade im November 2012 hatten sie es gekauft und innen hergerichtet. Jetzt sollte die Außensanierung beginnen. Rund zehn Tage stand im Haus der Familie Bruhn das Wasser. Im Keller lief der Öltank aus. Als das Wasser wieder ablief, waren sie zunächst zuversichtlich. In Eigenregie haute Holmer Bruhn mit Helfern den Putz von den Wänden, nahm den Estrich heraus und bestellte den Elektriker. Aber dann kam der Abrissbescheid. Das Öl hatte sich in den Wänden und im Boden festgesetzt. Sein Haus ist jetzt Sondermüll. Etwa 12.000 Euro hatte er zu dem Zeitpunkt schon umsonst ausgegeben. Für den Wiederaufbau hat der Staat Betroffenen wie Holmer Bruhn eine Unterstützung von 80 Prozent zugesagt – bleibt noch eine Deckungslücke von 20 Prozent.Parallel muss er für das alte Haus seinen Abtrag weiterbezahlen, wenn es schon längst nicht mehr steht. In vielen Fällen kommen noch zusätzliche Mieten hinzu, die in den Übergangsunterkünften bezahlt werden müssen, bis das eigene Haus wieder bezugsfertig ist. Holmer Bruhn kommt aus einem kleinen Ort von der Ostseeküste. Nach dem Studium zog der Projektmanager in einer Elektronikfirma für eine neue Stelle nach Bayern und blieb: „Ich habe über die Hälfte meines Lebens am Wasser verbracht und es hat mir nie etwas getan. Jetzt muss ich aufpassen, dass ich nicht untergehe.“ Untergehen, das könnte Holmer Bruhn auch im doppelten Sinne meinen. Der Vater zweier Kinder im Alter von elf und 13 Jahren spricht von Erschöpfungszuständen und 18-Stunden-Tagen. Denn er versucht, der Starke in der Familie zu sein. Aber einmal, da ist auch er weinend zusammengebrochen. Als er kurz nach der Flut die Tür zu seinem Büro öffnete und ihm ein Pappkarton entgegengeschwommen kam. Seine Frau hatte darin alle Briefe aus ihrer Kennenlernzeit aufbewahrt. Auch die sind jetzt auf dem Müll.
Das Leben wird für die Betroffenen niemals mehr so, wie es vor der Flut einmal war. Ein offenes Ohr, praktische und finanzielle Unterstützung aber können helfen, wieder ein Stück zur Normalität zurückzufinden. Darum kümmern sich intensiv die Mitglieder des RC Deggendorf. Noch während das Wasser in den Häusern stand, gründeten sie einen Hochwasserausschuss, richteten ein Spendenkonto ein und legten ein Patenschaftsprogramm auf, in dem aktuell mehr als 100 besonders stark betroffene Familien und Personen von den Clubfreunden betreut und mit Spenden versorgt werden. In extra angefertigten Erfassungsbögen werden die Schicksale und finanziellen Hintergründe akribisch festgehalten.
Ein Austausch mit dem Lions Club und den Wirtschaftsjunioren soll sicherstellen, dass es keine Doppeltförderungen gibt. Jeden Montag im Anschluss an das Meeting setzen sich die Mitglieder des Hochwasserausschusses zusammen, beratschlagen über das weitere Vorgehen und stellen neue Fälle vor, die zumeist durch Mund-zu-Mund-Propaganda an die Clubfreunde herangetragen werden. Zum Beispiel diesen: Staplerfahrer, Frau und drei Kinder, 2015 Euro netto, 1700 Euro Fixkosten, auf dem Haus liegen noch 200.000 Euro Schulden.
Die Meinung im Ausschuss ist einstimmig: Der Pate soll die Familie noch einmal besuchen und gründlich interviewen. Dann soll er aufgenommen werden in das Paten- und Spendenprogramm des Clubs. Bis Ende Oktober sind etwa 800.000 Euro an Spenden von rund 100 Rotary Clubs, zahlreichen Privatpersonen und einer großen Stiftung eingegangen. Gut 400.000 Euro sind schon an mehr als 100 Betroffene verteilt worden. Die Deggendorfer Rotarier sind dankbar über den Zuspruch der anderen Clubs, denn die Not vor Ort ist noch immer extrem groß. Clubpräsident Karl Fuchs bringt es auf den Punkt: „Der Zuspruch und die Unterstützung von unseren rotarischen Freunden aus ganz Deutschland tut uns und unserem gesamten Landkreis nicht nur finanziell gut – es ist auch schön, wenn man das Gefühl haben kann, nicht alleine gelassen zu werden.“
Hier geht es zum Hochwasser-Dossier

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