Entscheider
„Das Gesicht der Globalisierung hat sich verändert“
Derzeit ist Angela Titzrath, Chefin der Hamburger Hafen und Logistik AG, als Krisenmanagerin gefragt. Weltweite Lieferkettenprobleme erschüttern den Handel.
Seit Wochen sind Bilder der Insel Helgoland zu sehen, die im Hintergrund aufgereiht viele Containerschiffe zeigen. Wie lange müssen Schiffe derzeit warten, bis sie in den Hamburger Hafen einlaufen können?
Das ist sehr unterschiedlich. Das können wenige Stunden aber auch einige Tage sein. Wir haben im Moment eine Situation, deren Ursachen teilweise schon länger zurückreichen. Ein Grund ist die Corona-Pandemie mit vielen Hafenschließungen, daraus folgend Unterbrechungen der Produktionsketten vor allem in China und schließlich auch der Lieferketten. Hinzu kam die längere Schließung des Suezkanals aufgrund der Havarie des Containerschiffes Ever Given im vergangenen Jahr. Seit Februar verschärft der Ukraine-Krieg, verbunden mit den Sanktionen gegen Russland, die Lage weiter. Ebenfalls eine Rolle spielen Witterungseinflüsse und Bauarbeiten bei der Bahn. Diese notwendig, führen aber zu Kapazitätsengpässen auf der Schiene.
Das ist eine lange Liste.
Jedes einzelne Ereignis hat Wirkungen, die sich ergänzen und sogar verstärken. Zunächst stauten sich die Schiffe vor den amerikanischen Häfen und nun auch in Europa. Die Schiffe kommen mit manchmal wochenlanger Verspätung an. Und sie treffen hier auf Häfen, deren Kapazitätsgrenzen bereits überschritten sind. Obwohl wir im Hamburger Hafen mit großer Effizienz und Leidenschaft die Schiffe abfertigen, kommt es zu Wartezeiten.
Können Sie bestätigen, dass weltweit lediglich zehn Prozent der Containerschiffe derzeit pünktlich ihr Ziel erreichen?
Derzeit sind alle Schiffe, die europäische Häfen anlaufen, nicht pünktlich. Es ist wie auf hoher See: Wenn sich dort eine Welle erst einmal aufgeschaukelt hat, dann dauert es, bis sich das Wasser wieder beruhigt. Selbst wenn einige Fahrten ausfallen, wird es noch einige Zeit dauern, bis wir wieder zum ursprünglichen Fahrplan zurückkehren werden.
Nicht nur im Stau stehende Containerschiffe in der Nordsee stellen ein Problem dar, im Hafen selbst stapeln sich die Container.
Das ist für uns in dieser Dimension neu. Der Hafenbetrieb ist darauf ausgerichtet, Güter effizient und zuverlässig zwischen den verschiedenen Verkehrsträgern auf der Schiene, der Straße und dem Wasser umzuschlagen. Um den Zu- und Abfluss von Containern zu steuern, ist eine hochkomplexe logistische Planungsleistung erforderlich. Aufgrund der verspäteten Schiffe ist dieser Prozess derzeit gestört. Denn die geplante Ankunftszeit für ein Schiff bildet die Planungsgrundlage für den Zulauf von Containern, die zum Beispiel für den Export bestimmt sind. Ist das Schiff zu spät, steht die Ladung länger im Hafen als geplant und blockiert den Betrieb. Es käme ja auch keiner auf die Idee, in einem Automobilwerk halbfertige Produkte in der Produktionslinie abzustellen. Das hemmt die Effizienz.
Haben Sie auch noch Container im Hafen stehen, deren Ladungen für Russland bestimmt waren und aufgrund der Sanktionen nicht mehr weitertransportiert werden dürfen?
Nach dem 24. Februar hatten wir für kurze Zeit noch Container stehen, als es noch Unklarheiten wegen der Sanktionen gab. Mittlerweile sind diese Container bis auf wenige Ausnahmen ausgeliefert worden. Jetzt noch ankommende Ware für Russland wird von den Behörden geprüft. Das hat sich inzwischen eingespielt.
Wie hoch war der Anteil russischer Güter am Güterumschlag im Hafen vor dem Krieg?
Infolge der im Jahr 2014 gegen Russland verhängten Sanktionen ist der Güterverkehr im Hamburger Hafen bereits stark zurückgegangen. Er liegt jetzt bei unter drei Prozent.
Haben Sie noch genügend Containerflächen?
Der Hamburger Hafen liegt mitten in der Stadt. Das Flächenangebot ist daher begrenzt. Um die gegenwärtigen Herausforderungen zu meistern, haben wir zusätzliche Flächen angemietet, um flexibel zu sein und Container auszulagern. Das ist aber endlich. Kommunikation und Kooperation zwischen allen Beteiligten in der Lieferkette sind deshalb notwendig. Denn es ist nicht sinnvoll, dass über mehrere Wochen im Hafen Container lagern. Derzeit beobachten wir jedoch, dass Import-Container doppelt so lange in unseren Lagern stehen wie üblich. Möglicherweise haben einige Unternehmen aus Sorge vor Lieferengpässen, die durch Lockdowns verursacht werden könnten, mehr Ware bestellt als sie in ihren eigenen Lagern unterbringen können. Oder möglicherweise haben Einkäufer auf demselben Niveau wie zur Hochphase der Pandemie disponiert, als es beispielsweise eine starke Nachfrage nach Kochutensilien, Gartenmöbeln oder Entertainmentsystemen gab. Diese Güter finden jetzt nicht mehr in gleichem Maße Abnehmer.
Was raten Sie Unternehmen, die stark von Importen abhängig sind. Mehr zu bestellen, als eigentlich benötigt wird, damit auf jeden Fall ein Teil der Bestellung im angemessenen Zeitrahmen ankommt?
Über Jahrzehnte wurden Produktionsabläufe immer effizienter gestaltet. Dazu gehörte, dass die Bevorratung von Gütern für die Produktion dank funktionierender weltumspannender Lieferketten und Just-in-time-Transporte nicht mehr notwendig erschien. Nun müssen sich Unternehmen in der Tat die Frage stellen, inwieweit eine bestimmte Bevorratung zur Absicherung der Produktionslinien doch sinnvoll ist. Das Gesicht der Globalisierung hat sich verändert. Just-in-time ist mit Risiken behaftet. Es gibt eine höhere Volatilität und darauf gilt es sich einzustellen. Aber die Lösung kann nicht darin liegen, zu viel auf einmal zu bestellen.
Kürzlich forderten Sie die Aufhebung des Sonntagsfahrverbots für die Lkw-Fahrer. Glauben Sie, dass dies einen nennenswerten Effekt hat?
Ich hatte drei Punkte angesprochen und in einem Halbsatz auch das Sonntagsfahrverbot. Erstens brauchen wir eine bessere Zusammenarbeit in Krisensituationen zwischen den Verkehrsträgern Schiene, Straße und Wasser. Zweitens bedarf es einer noch besseren Koordinierung der Schiffsanläufe. Ein Schiff sollte nicht nur Importboxen bringen, sondern auch Exportboxen mitnehmen. Auf der Straße ist es drittens genauso. Eine Aufhebung des Sonntagsfahrverbots könnte zusätzlich neben vielen anderen Maßnahmen die schwierige Situation entschärfen. Die HHLA ist ein 24-Stunden-Betrieb, wir arbeiten im Drei-Schicht-System 362 Tage im Jahr. Wenn wir jedoch Anschlüsse haben, die statt sieben nur sechs Tage die Woche arbeiten, dann haben wir einen Tag Produktionsausfall. Die Aufhebung des Sonntagsfahrverbots wäre in Summe ein kleiner Beitrag. Aber es geht darum, dass viele Zahnräder ineinandergreifen müssen, um Verbesserungen herbeizuführen.
Sie können keinen Blick in die Glaskugel werfen. Wagen Sie dennoch eine Prognose, wann Sie sich zurücklehnen und sagen können, die Lieferkettenprobleme sind weltweit gelöst?
Ich kann nur ausgehend von den derzeitigen Rahmenbedingungen nach vorne schauen. Wir werden noch Zeit brauchen, um die Staus vor den Häfen und in den Produktionsstätten abzubauen. Es wird keine schnelle Lösung geben. Die Situation wird mindestens bis Anfang nächsten Jahres so angespannt bleiben. Viel wird davon abhängen, wie sich die Situation in der Ukraine entwickelt. Wir müssen abwarten, wie stark die Inflation Wirtschaft und Verbraucher belastet und welche Auswirkungen ein möglicher Ausfall russischer Gaslieferungen auf unsere Energieversorgung hat.
Könnte eine Lehre aus der jetzigen Krisensituation sein, dass wir weg vom Welthandel, hin zu kleineren Wertschöpfungsketten kommen müssen?
Nein. Es gibt kein Schwarz oder Weiß. Es gibt nur ein Sowohl-als-auch. Wir müssen uns die weltweiten Produktionsketten genau ansehen und wie diese ausbalanciert werden können. Punktuell sollten geprüft werden, wo ergänzende, diversifizierende Produktionsstätten möglich sind. Eine generelle Verlagerung von globalen Produktionsketten halte ich nicht für umsetzbar. Die Vernetzung ist weit fortgeschritten. Und bei aller berechtigten Kritik, die es an Fehlentwicklungen gibt, sollten wir nicht vergessen, dass die Globalisierung weltweit Armuts- und Hungerbekämpfung beigetragen hat.
Können Sie eine Lehre speziell für die Logistikbranche ziehen?
Eine der Lehren ist, dass die Logistik widerstandsfähig ist. Sie ist zudem in der Lage, schnell auf Veränderungen zu reagieren.
Richten wir den Blick einmal gen Ukraine. Sie sind im Hafen von Odessa mit einer 100-prozentigen Tochter, der Container Terminal Odessa tätig. Seit Wochen liegt der Betrieb still. Westliche Staaten wie Frankreich diskutieren darüber, die Blockade des Hafens zu beenden. Glauben Sie, dass sie in absehbarer Zeit den Betrieb wieder aufnehmen können?
Zunächst einmal möchte ich betonen, dass die dortige Auseinandersetzung eine menschliche Tragödie ist. Für uns hat diese menschliche Tragödie Namen und Gesichter, denn wir haben über 480 Mitarbeiter vor Ort.
Sie haben sich auch in besonderer Weise für die Familien der dortigen Mitarbeiter eingesetzt.
Wir haben zwei Dinge gemacht: Unmittelbar nach Kriegsausbruch am 24. Februar haben wir entschieden, unseren Beschäftigten zwei Monatsgehälter im Voraus auszuzahlen. Wir wollten, dass unsere Mitarbeiter sich mit Lebensmitteln und Benzin bevorraten können und ihre Versorgung sichergestellt ist. Wir haben zudem Mitarbeitern und ihren Angehörigen, die das Land verlassen wollten, dabei geholfen, hier in Deutschland eine vorläufige Bleibe zu finden. Ich bin unseren Mitarbeitern hier in Hamburg sehr dankbar, dass sie den Geflüchteten Unterkünfte und Sachspenden zur Verfügung gestellt haben. Das war eine große Geste menschlicher Solidarität. Zugleich haben wir hier, und das ist ja auch ein wesentlicher Gedanke von Rotary, gesellschaftliche Verantwortung übernommen. Das kann jeder Einzelne in seinem beruflichen und privaten Umfeld. Es war uns eine Herzensangelegenheit, dies zu tun.
Kommen wir nochmal zurück zum Hafen in Odessa.
Der Hafen ist vermint und somit wasserseitig nicht zugänglich. Landseitig sieht dies anders aus. Hier lassen sich einige Transporte in Kooperation mit der ukrainischen Eisenbahn realisieren. Die Forderung nach einer Öffnung des Hafens ist nachvollziehbar, aber aktuell nur schwer umsetzbar.
Was kostet Sie der brachliegende Terminal monatlich?
Wir betreiben die Anlage seit mehr als 20 Jahren und haben 170 Millionen Euro investiert, die sich über die Zeit amortisiert haben. Wir sehen es als unseren gesellschaftlichen Beitrag an, den Betrieb auf dem Terminal aufrechtzuerhalten. Für den Wiederaufbau der Ukraine wird dieser Hafen von zentraler Bedeutung sein.
Die HHLA ist seit mehr als 40 Jahren eng mit China verbunden. Was bedeutet die derzeitige geopolitische Situation für ihre Beziehungen?
Wir haben eine enge Verbindung mit Asien. Wir sprechen hier von 40 Prozent des Umschlagvolumens des Hamburger Hafens. Daran wird die Größenordnung der Wirtschaftsbeziehungen erkennbar. Dementsprechend ist dieser Handel ein wichtiger Beitrag zum Frieden, zum Verständnis und auch zum gegenseitigen respektvollen Anerkennen der jeweiligen Werte- und Wirtschaftssysteme.
2017, als Sie hier in Hamburg anfingen, haben Sie sicher nicht gedacht, dass Sie wenige Jahre später mit dem Krieg in der Ukraine und Wirtschaftssanktionen gegen Russland, Coronapandemie mit Lockdown in Shanghai und einer Warteschlange von Containerschiffen in der Nordsee gleich mehrere Probleme zeitgleich zu bewältigen haben. Was überwiegt, der Wille, die Probleme zu bewältigen oder die Resignation, weil kein Ende in Sicht ist?
Ganz im Gegenteil. Meine Zuversicht ist weiterhin ungetrübt. Aber Sie haben recht: 2017 hat man mir gesagt, ich würde einen ziemlich langweiligen Job übernehmen. Es fing dann an mit dem Konkurs der Reederei Hanjin. Das war vorher unvorstellbar, dachte man doch, Reeder gehen nicht Konkurs. In den fünf Jahren, die ich nun bei der HHLA bin, hat sich in unserer Branche mehr getan als in den 20 Jahren davor. Als CEO trage ich Verantwortung für dieses Unternehmen. Ich bin gegenüber Aktionären und Shareholdern verpflichtet, das uns als Vorstand anvertraute Unternehmen erfolgreich zu führen, in guten wie in schlechten Zeiten. Das bedeutet, auch mit Krisen umzugehen. Krise kann die HHLA, das haben wir während der Pandemie gezeigt. Wir haben keine Staatshilfen in Anspruch genommen und auch keine Kurzarbeit eingeführt. Nichtsdestotrotz waren es schwierige Zeiten. Aber es ist Aufgabe des Managements, Krisen und Herausforderungen zu bewältigen, insbesondere in der Logistik, wo der Umgang mit Volatilität eine Kernkompetenz ist. Und ich bin nicht nur ein zuversichtlicher Mensch, sondern habe auch gesehen, dass sich in dieser Krisenzeit ein toller Zusammenhalt im Unternehmen entwickelt hat und gesellschaftliche Verantwortung wahrgenommen wurde. Stefan Zweig hat einmal geschrieben, Krisen seien ein Geschenk für den Menschen. Es kommt darauf an, was wir mit diesem Geschenk machen.
Sie sind Mitglied im Rotary Club Hamburg. Was schätzen Sie an Rotary?
Rotary ist eine Organisation, die das Ehrenamt in den Mittelpunkt stellt. Sie beflügelt Dinge, die ohne den rotarischen Zusammenhalt nicht möglich wären. Rotary ist der Ort, wo die Eigenverantwortlichkeit des Ehrenamtes gelebt wird.
Copyright: Andreas Fischer
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