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Entscheider-Interview

„Wir brauchen einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien“

Entscheider-Interview - „Wir brauchen einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien“
Ohne eine angemessene öffentliche Förderung wird die Dekarbonisierung nicht zu schaffen sein, ist sich Hans Jürgen Kerkhoff sicher © Frank van Groen

Die neue Bundesregierung setzt sich bei dem Thema CO2-Reduzierung ehrgeizige Ziele. Vor allem die Stahlindustrie steht deshalb vor tiefgreifenden Veränderungsprozessen. Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident und Geschäftsführer der Wirtschaftsvereinigung Stahl, ist von einer erfolgreichen Umsetzung der Pläne überzeugt, wenn die Politik nun endlich mehr Tempo macht. Dieses Jahr entscheide über Gelingen oder Scheitern.

Florian Quanz01.03.2022

Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck hat ambitionierte Pläne: Die Geschwindigkeit bei der Emissionsminderung soll sich verdreifachen. Fest steht: Deutschland will bis 2045 die Klimaneutralität erreicht haben, bis 2030 soll eine Reduktion der Treibhausgasemissionen von 65 Prozent im Vergleich zu 1990 geschafft sein. Ist das realistisch?

Das Ambitionsniveau der neuen Bundesregierung ist hoch. Aber auch die Erwartungen der Industrie an die Bundesregierung sind hoch. Wenn jetzt nicht mehr Tempo gemacht wird, werden wir die gesteckten Klimaschutzziele nicht erreichen. Die Rahmenbedingungen für die Transformation industrieller Produktionsprozesse müssen in den nächsten Monaten rasch politisch entschieden werden, damit Investitionsentscheidungen getroffen werden können und Klimaschutzziele erreicht werden. Die Klimawende in der Industrie wird noch anspruchsvoller als die Energiewende.

Was sind die zentralen Elemente der Dekarbonisierung, also der Reduzierung von Kohlendioxidemissionen durch den Einsatz kohlenstoffarmer Energiequellen, aus Sicht der Stahlindustrie?

Heute sind es zwei Wege, über die Stahl erzeugt wird – das muss ich zum Verständnis vorausschicken. Es gibt die integrierte Route, rund 70 Prozent des Stahls wird auf dieser mit Eisenerz und Kokskohle erzeugt. Daneben gibt es die Elektrostahlroute, bei der Stahlschrott mithilfe von Strom eingeschmolzen wird. Dieser Weg macht rund 30 Prozent der Produktion in Deutschland aus. Es wird wesentlich darauf ankommen, die hohen Emissionen der integrierten Route durch einen Technologiewechsel massiv zu reduzieren. Diese Transformation erfolgt auf der Basis von Wasserstoff. Mit der Elektrostahlproduktion ist bereits eine CO2-arme Technologie vorhanden; für Klimaneutralität sind aber auch hier grüner Strom und Wasserstoff erforderlich. Neben der Umstellung der Produktionsprozesse wird es auch darauf ankommen, das Thema Kreislaufwirtschaft als ein wesentliches Element auf dem Weg zur Klimaneutralität weiter voranzubringen.

Die Stahlindustrie bräuchte jährlich 2,2 Mio. Tonnen Wasserstoff aus Erneuerbaren Energien, um klimaneutral zu werden. Woher sollen die kommen?

Das ist eine entscheidende Frage. Wir brauchen auf alle Fälle einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien. Wenn wir mit grünem Wasserstoff arbeiten wollen, ist grüner Strom eine unverzichtbare Voraussetzung. Allein der Strombedarf für eine klimaneutrale Stahlindustrie läge bei rund 130 Terawattstunden (TWh), das ist etwa das Zehnfache von dem, was der Stahl derzeit an Fremdstrom bezieht. Mein zweiter Punkt ist, dass wir uns verständigen müssen, was eigentlich die Währung der Klimaschutzpolitik ist. Wenn die Währung CO2 ist, dann müssen wir alles dafür tun, dass der knappe Wasserstoff dorthin gelenkt wird, wo der beste Wechselkurs für die Reduzierung von CO2 zu erzielen ist. Das ist in der Stahlindustrie der Fall, wo der Einsatz von Wasserstoff unabdingbar ist.

Meinen Sie damit, dass man schauen sollte, wo können mit welcher Menge Wasserstoff am meisten Emissionen eingespart werden. 

Mit dem Einsatz einer Tonne klimaneutralen Wasserstoffs in der Stahlindustrie verhindert man den Ausstoß von etwa 28 Tonnen CO2. Das ist mehr als in anderen Branchen. Solange wir jedoch diesen Wasserstoff nicht haben bzw. er ein knappes Gut ist, müssen wir Brücken bauen. Erdgas wird dabei eine unverzichtbare Rolle spielen. Damit können schon zwei Drittel der Emissionen in neuen Direktreduktionsanlagen der Stahlindustrie eingespart werden. Zusammengefasst: Wir brauchen auf der einen Seite eine effektive Verteilung des Wasserstoffes, aber auf der anderen Seite auch schon den Einsatz von Erdgas bei wasserstofffähigen Anlagen. So könnten wir beim Stahl bereits in den nächsten Jahren einen wichtigen Beitrag zur Emissionsminderung leisten.

Wir sollten uns auch die Dimensionen vor Augen führen: Die Stahlerzeugung macht rund 30 Prozent der industriellen Emissionen aus und rund sieben Prozent der gesamten Treibhausgasemissionen in Deutschland. Im Jahr 2018 waren das bei einer Rohstahlproduktion von 42,4 Millionen Tonnen insgesamt 58,6 Millionen Tonnen CO2. Ein gewaltiges Potential, aber auch eine große Aufgabe.

Auch bei Erdgas als Übergangslösung stellt sich die Frage, woher kommt es? Ganz schnell fällt dann der Name Russland, der aufgrund geopolitischer Entwicklungen mit einem Fragezeichen versehen werden muss.

Hier zeigt sich die Komplexität der industriellen Transformation. Grundsätzlich gilt: Wenn wir darüber sprechen, wie gelingt Dekarbonisierung im industriellen Bereich, landen wir automatisch auf einem Feld, wo es auch um den internationalen Wettbewerb geht. Ohne Sicherung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der Industrie werden wir eine Transformation nicht schaffen.

Eine aktuelle Studie im Auftrag des Bundes Deutscher Industrie hat errechnet, dass durch steigende CO2-, Energie- und Materialkosten für Unternehmen im Jahr 2030 etwa 15 bis 23 Mrd. Euro an Mehrbelastungen entstehen. Wenn dann noch durch den Wechsel auf grüne Technologien weitere Kosten hinzukommen, wie sollen Unternehmen dies allein schultern?

Die Bundesregierung hat 2020 ein Handlungskonzept Stahl veröffentlicht. Darin werden Investitionen für den Ersatz der bestehenden Produktionsverfahren durch neue Anlagen in Höhe von 30 Milliarden Euro genannt. Das können die Stahlunternehmen im internationalen Wettbewerb nicht alleine schultern. Ohne eine angemessene öffentliche Förderung wird der Umbau nicht funktionieren. Deswegen plädieren wir dafür, dass die Bundesregierung über die Legislaturperiode hinaus eine Anschubfinanzierung bereitstellt, mit der eine solche Transformation in den kommenden Jahren gelingen kann. Die Unternehmen brauchen die Planungssicherheit, dass in dieser Zeit genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen. Neben der Investitionsförderung wird es auch darauf ankommen, die gestiegenen Betriebskosten abzudecken, solange es noch keine Märkte für grünen Stahl gibt. Wir arbeiten deshalb intensiv an dem Konzept der Klimaschutzverträge – auch Differenzenverträge genannt. Das ist ein Instrument, um diese deutlich erhöhten Kosten auszugleichen. Das wird ein wichtiger Baustein sein, wenn die Politik in den kommenden Wochen die Rahmenbedingungen für die Transformation formuliert.

Wenn der Staat sich an Mehrkosten beteiligen muss, werden Unternehmer zu Subventionsempfängern. Könnte dies zu einem Dauerzustand werden, wenn sich kein internationaler Markt für grüne Produkte etabliert?

Das ist ein wichtiger Punkt, den Sie anschneiden. Die Stahlindustrie will kein Dauersubventionsempfänger sein. Deswegen müssen wir grüne Leitmärkte entwickeln, auf denen nachhaltige Grundstoffe wie grüner Stahl ihren Platz finden. Zugleich müssen wir im internationalen Umfeld dafür werben, dass sich andere Regionen solchen Konzepten anschließen. Es gibt von Seiten der Bundesregierung die Idee, einen Klimaclub zu gründen. Zudem laufen Gespräche zwischen den USA und Europa, in den nächsten zwei Jahren einen sektorspezifischen Club zum Schutz vor Überkapazitäten und nicht-nachhaltigen Importen zu schaffen. Viele wichtige Initiativen, um ein „level-playing-field“ zu erreichen, müssen auf der Zeitachse absehbar Subventionen ablösen. 

Wie erfolgreich kann ein solcher Weg sein, wenn Länder wie China sich entschließen, ihn nicht mitzugehen?

Die Umstellung auf CO2-arme Produktionstechnologien wird nicht über Nacht, sondern schrittweise erfolgen. Solange kein einheitlicher globaler CO2-Preis etabliert wurde, braucht es wirkungsvolle Schutzinstrumente, die die internationale Wettbewerbsfähigkeit sichern. Das gilt gerade auch für die im Übergang befindlichen herkömmlichen, CO2-intensiven Anlagen. Eine zunehmende Belastung mit Kosten durch den Kauf von Zertifikaten im Rahmen des EU-Emissionsrechtehandels würde die Wirtschafts- und Investitionskraft der Stahlunternehmen drastisch einschränken und der Transformation den Boden entziehen. Daher gefährden die Pläne der europäischen Kommission, im Emissionshandelssystem die freie Zuteilung abzuschmelzen, den Weg der Unternehmen in die Klimaneutralität. Der vorgeschlagene Grenzausgleich muss zudem erst auf seine Wirksamkeit getestet werden. Bis dahin benötigt die Stahlindustrie weiterhin eine angemessene Ausstattung mit kostenlosen Zertifikaten. 

Werden die immensen privaten und öffentlichen Investitionen, die auf dem Weg zur Klimaneutralität aufgewendet werden müssen, die gleichen Effekte auf Produktivitätssteigerung und Wohlstand haben, wie Investitionen in vergangenen Dekaden?

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Hans Jürgen Kerkhoff fordert faire Wettbewerbsbedingungen © Frank van Groen

Mit den politischen Zielen in Richtung Klimaneutralität tritt die Nachhaltigkeit noch mehr in den Vordergrund. Heute wird dabei oftmals den ökologischen Aspekten der Vorrang gegeben. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es auch soziale und wirtschaftliche Komponenten bei der Nachhaltigkeitsfrage zu beachten gilt. Diese sind in gleicher Weise Elemente für nachhaltiges Wirtschaften. Wir müssen den Prozess gestalten, ohne die wirtschaftliche Machbarkeit und die soziale Sicherung aus den Augen zu verlieren. Ich will einen Punkt an dieser Stelle verdeutlichen: Es geht hier um die Transformation ganzer Wertschöpfungsketten. So wird sich der Stahl anders in die Energiewirtschaft integrieren – von einer fossilen Energiewirtschaft hin zu einer auf Basis von Erneuerbaren Energien und Wasserstoff. Wir werden zudem mit grünem Stahl dabei mithelfen, dass Produkte wie Autos und Maschinen nachhaltiger werden. Die Umstellung auf neue Technologien müssen wir als eine Gemeinschaftsaufgabe ansehen. Dabei müssen Erhalt von Beschäftigung und Zukunftsfähigkeit der Industrie in Deutschland als Ziele klar definiert sein.

Kommen wir vom Blick auf die kommenden Herausforderungen auf den Ist-Stand: Globale Überkapazitäten in der Stahlindustrie sind ein zunehmendes Problem. Wie konkurrenzfähig ist die deutsche Stahlindustrie derzeit im internationalen Vergleich?

Sie ist konkurrenzfähig und innovativ und eingebunden in starke Wertschöpfungsketten. Diese sind gekennzeichnet von den Kompetenzen der Partner. Stahl ist hoch kompetitiv. Damit das so bleibt, müssen wir weiterhin Interesse an einem regelbasierten globalen Handel haben und brauchen faire Wettbewerbsbedingungen auf den internationalen Märkten. Leider haben wir da in den vergangenen Jahren zu viel Protektionismus erlebt. Positive Impulse in Richtung internationale Zusammenarbeit kann auch der Klimaschutz bringen.

Sie haben Protektionismus angesprochen. Ende vergangenen Jahres haben sich die EU und die USA auf die Abschaffung der US-Zölle nach Section 232 für Stahlimporte aus der EU geeinigt. Wie erleichtert waren Sie?

Das war ein gutes Signal. Wir wollen, dass es auch zukünftig gelingt, dass die EU und die USA auf fairen Handel setzen. Darüber hinaus sollte überlegt werden, wie der internationale Wettbewerb mit Blick auf Überkapazitäten, aber auch den Klimaschutz gestaltet werden sollte. Das kann der Ausgangspunkt für einen Klimaclub sein und damit mehr Gemeinsamkeiten schaffen bei der internationalen Klimapolitik.

Die Bedenken, dass die Stahlindustrie immer wieder zum Spielball innerhalb politischer Konflikte werden könnte, sind damit aber nicht vom Tisch.

Stahl ist kein Spielball. Ich glaube, Stahl ist der Prüfstein für viele Länder, ob es gelingt, klimaneutral zu sein und zugleich internationale Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten. Wenn Dekarbonisierung beim Stahl gelingt, dann gelingt es auch in anderen Branchen. Wir können ein gutes Vorbild sein, aber wir brauchen mehr Tempo bei politischen Entscheidungen. Wir dürfen keine Zeit verlieren.

Wie ist eigentlich Ihr erster Eindruck? Wie zugänglich ist die neue Bundesregierung für die Sorgen aber auch Bedürfnisse der Stahlindustrie?

Die wesentlichen Themen, die uns betreffen und besorgen, sind im Regierungsprogramm aufgeschrieben. Man hat sogar Zeiträume genannt, bis wann man welche erledigt haben möchte. Jetzt kommt es darauf an, diese Regierung an Ihren Taten zu messen. Wir sind in einem konstruktiven Dialog mit der Politik, damit wir rasch vorwärtskommen.

Wagen Sie eine erste Prognose? Wird es gelingen?

An der Stahlindustrie wird es nicht scheitern.

Was bedeutet Ihnen Rotary?

In einer Zeit, wo viele Menschen in vorurteilsbehafteten Blasen selbstreferenziell kommunizieren, ist aus meiner Sicht der offene, freundschaftliche und faktenorientierte Dialog über Fakultäten, berufliche Verpflichtungen oder Einstellungen hinweg, wie er bei Rotary stattfindet, beispielhaft. Für mich persönlich ist er inspirierend. Ich wünsche mir, dass die Wirkkraft, die von einem solchen rotarischen Dialogansatz ausgeht, sich auch über weitere Teile unserer Gesellschaft verbreitet.

Braucht es in unserer Gesellschaft mehr Diskurs, wie er bei Rotary geführt wird?

Ja.