Entscheider-Interview
„Wir brauchen nicht ein so breit aufgestelltes Unternehmen“
Als Aufsichtsratsvorsitzender will Werner Gatzer die Deutsche Bahn deutlich besser machen. Der Konzern solle sich künftig auf sein Kerngeschäft konzentrieren.
Herr Gatzer, ich möchte Sie mit auf eine Zeitreise nehmen. 2004 hatte sich der damalige Bahnchef Hartmut Mehdorn noch über eine Pünktlichkeitsquote von 85 Prozent geärgert und eine Verbesserung auf 95 Prozent versprochen. 2023 bewegen wir uns auf die 60 Prozent zu. Weniger als zwei Drittel der Fernzüge kamen 2022 pünktlich an. Was ist aus Ihrer Sicht der größte Fehler, der beim Konzern Deutsche Bahn zu dieser Entwicklung geführt hat?
In das Schienennetz wurde über Jahre zu wenig investiert. Zudem ist das enorme Wachstum der Nachfrage, also die starke Entwicklung im Personen- und Güterverkehr, verkannt worden. Nicht gesehen hat man auch, dass das Schienennetz weder in einem optimalen Zustand noch für dieses Wachstum ausgelegt ist. Das hat sich über die Jahre hinweg entwickelt. In Deutschland werden auch deutlich mehr Güter auf der Schiene transportiert. Diese Dynamik hat Auswirkungen auf die Qualität des Schienennetzes, das zu alt, zu voll und zu störanfällig ist.
Wurden der Unterhalt und die Sanierung des Streckennetzes über Jahrzehnte vernachlässigt?
Es wurde nicht in der Höhe investiert, wie die Entwicklung es erfordert hat. Hier besteht jetzt ein enormer Nachholbedarf.
Liegt dem ganzen Dilemma nicht ein grundlegender Fehler im System zugrunde? Die Deutsche Bahn muss bei jeder Investition Eigenanteile aufbringen. Das hat in der Vergangenheit dazu geführt, dass man gespart hat, um Gewinne zu erzielen, und gleichzeitig viel zu wenig in die Infrastruktur investiert. Diese Korrelation holt den Konzern nun ein.
Insgesamt wurde zu wenig investiert. Das wird sich nun ändern – zusätzliche Mittel fließen in die Sanierung, in den Aus- und Neubau sowie in die Digitalisierung. Die Digitalisierung ist dabei ein wichtiger Baustein. Mit mehr Digitalisierung können wir eine höhere Auslastung des Netzes erreichen, ohne die Qualität zu beeinträchtigen. Ziel muss sein: eine qualitativ hochwertige Leistung und gleichzeitig keine roten Zahlen.
Was doch auch in Ihrem Interesse als Finanzstaatssekretär sein sollte, oder?
Absolut. Die Bahn wird ein wichtiger Baustein der Zukunft sein, den Klimawandel zu bekämpfen und für klimafreundliche Mobilität zu sorgen.
Nun hat der DB-Konzern eine Sanierungsoffensive angekündigt. Insgesamt 40 wichtige Strecken-Korridore sollen bis 2030 für Bauarbeiten über Monate gesperrt werden. Der ehemalige Schweizer Bahnchef, Benedikt Weibel, hatte in einem Interview solche Korridorsanierungen kürzlich als „selbstmörderisch“ bezeichnet. Was entgegnen Sie ihm?
Ich entgegne, dass das Management der Bahn die Korridorsanierungen, die in Angriff genommen werden sollen, sehr gründlich durchdacht hat. Wir müssen die am stärksten belasteten Strecken zügig sanieren, sonst wird die Bahn insgesamt nicht besser. Verbesserungen bei den Hochleistungskorridoren haben unmittelbar positive Auswirkungen auf den gesamten Betriebsablauf und damit auch auf die Pünktlichkeit.
Was spricht gegen die Alternative, im laufenden Betrieb zu sanieren?
Hochbelastete Strecken werden für einen längeren Zeitraum komplett gesperrt und dabei gebündelt modernisiert. Bislang haben wir oft verschiedene Komponenten einzeln angepackt und es wurde immer mal wieder gesperrt. Richtig ist, die Generalsanierung bringt über einen längeren Zeitraum Unannehmlichkeiten für die Kundinnen und Kunden mit sich. Danach wird es aber deutlich besser sein. Da kann ich bei den Menschen nur um Verständnis bitten.
Zweiter Baustein wird der Streckenneubau sein. Zwei Milliarden Euro stehen dafür derzeit zur Verfügung. Wird dieser Betrag ausreichen?
Wir brauchen insgesamt mehr Geld für die Bahn, nicht nur für die Sanierung und den Neu- und Ausbau. Diesbezüglich ist die Bahn mit dem Bund als Eigentümer im Gespräch. Die bisherigen Gespräche sind sehr positiv und stimmen mich zuversichtlich, dass wir bereits mittelfristig deutlich besser werden.
Wie darf ich mir ein Gespräch zwischen Werner Gatzer und Bundesfinanzminister Christian Lindner vorstellen, wenn es um Geld für die Deutsche Bahn geht?
Als Aufsichtsratsvorsitzender stehe ich für jeden als Ansprechpartner zur Verfügung, auch für den Bundesminister. Die Frage ist aber: Wer bereitet die Entscheidungen betreffend die Bahn vor? Das ist nicht Werner Gatzer als Haushaltsstaatssekretär im Finanzministerium, sondern das sind Andere. Da haben wir klare Trennungslinien gezogen.
Verständlich. Mich interessiert, ob Sie eine Empfehlung abgeben.
Der Bundesfinanzminister braucht dazu keine Empfehlung. Dem Bund ist bekannt, dass die Bahn einen enormen finanziellen Zusatzbedarf in Höhe von bis zu 45 Milliarden Euro allein bis 2027 hat. Die Bundesregierung hat bereits Konsequenzen daraus gezogen. Schauen Sie sich die Finanzplanung der nächsten Jahre an. Wir wollen die Deutsche Bahn deutlich besser machen. Daran haben alle großes Interesse, insbesondere vor dem Hintergrund des Klimawandels. Da ist die Bahn ein wichtiger Pfeiler.
Absolut. Die Gesellschaft wünscht sich mehr denn je eine funktionierende Bahn.
Die Menschen haben das Recht, eine funktionierende Bahn einzufordern. Ich stelle auch fest, dass trotz aller Unannehmlichkeiten im Fernverkehr, die die Menschen aktuell erleben, der Zuspruch ungebremst ist. Schaue ich mir die Fahrgastzahlen, die Nachfrage nach dem Deutschlandticket und die vollen Züge an, stimmen die Menschen gerade mit den Füßen ab und sagen: Ich möchte die Bahn!
Im Koalitionsvertrag ist ja sogar das Ziel definiert, die Verkehrsleistung im Personenverkehr bis 2030 zu verdoppeln. Gleichzeitig sprechen wir von einem maroden Schienennetz. Da sage ich, das passt nicht zusammen.
Das Netz wird in seinem jetzigen Zustand das Ziel nicht erreichen können. Deshalb müssen wir mehr und schnell investieren. Dass dies notwendig ist, wenn man die verkehrspolitischen Ziele sowohl im Personenverkehr als auch im Güterverkehr erreichen will, ist allen bewusst. Neben den notwendigen Finanzmitteln müssen auch die Verfahren deutlich beschleunigt werden.
Das ist alles nachvollziehbar. Ich verstehe aber die Politik nicht, die immer wieder unrealistische Ziele ausgibt. Nehmen wir den Deutschlandtakt. Die Züge sollen ab 2030 dafür jede Stunde in jede Richtung zur selben Minute fahren – Fernzüge in einem Takt von 60 Minuten und auf Hauptachsen im 30-Minuten-Takt. Verkehrs-Staatssekretär Michael Theurer musste nun einräumen, dass diese Zielsetzung illusorisch ist.
Das Verkehrsministerium hat klargestellt: Der Deutschlandtakt ist ein fortlaufendes Projekt, das stetig weiterentwickelt und an die Modernisierung des Schienennetzes angepasst wird. Er kommt wie von Anfang an geplant in Etappen und wird keinesfalls verschoben. Entscheidend ist, dass wir die wichtigsten Modernisierungsprojekte noch in diesem Jahrzehnt anstoßen. Der Deutschlandtakt ist eine Initiative des Bundes und er ist richtig, da er den Fahrplan definiert, mit dem die Ziele für Wachstum und Verkehrsverlagerung erfüllt werden können.
Welches Zieljahr ist denn realistisch, wenn es nicht das Jahr 2070 ist, was Herr Theuer nun genannt hatte?
Schon 2026 werden wir 20 deutsche Großstädte mit einem ICE-Halbstundentakt an den bundesweiten Fernverkehr anbinden. Das sind in nur drei Jahren fast doppelt so viele Städte wie heute. Das ist eine gute Nachricht für unsere Fahrgäste, ein wichtiger Beitrag zur Verkehrswende und ein großer Schritt in Richtung Deutschlandtakt.
Ja. Aber die gesteckten Ziele sollten auch realistisch sein. Ansonsten schlägt in der Bevölkerung die Stimmung um.
Deswegen wäre es auch unredlich, wenn wir jetzt sagen würden, wir planen in den nächsten zwei Jahren eine Pünktlichkeitsquote von 85 bis 90 Prozent. Wir wissen vor dem Hintergrund der anstehenden Maßnahmen, dass dies nicht machbar ist. Die Menschen müssen wissen, die Pünktlichkeitsquote wird kurzfristig nicht deutlich besser werden können.
Eine interessante Korrelation zeigt sich diesbezüglich, wenn wir mal in Nachbarländer blicken: Je mehr ich
pro-Kopf in die Schieneninfrastruktur investiere, desto pünktlicher fahren die Züge. Warum sind wir in Deutschland nicht ehrlich, und sagen, wir müssen wie die Schweizer pro-Kopf 450 Euro im Jahr zahlen, damit der Zugverkehr in Deutschland funktioniert?
Ein Vergleich mit einem deutlich kleineren Land hilft uns hier nicht weiter. Das marode Schienennetz ist die Hauptursache für die Unpünktlichkeit. Mehr Investitionen ins Schienennetz werden zu mehr Pünktlichkeit führen. Deswegen hat die Deutsche Bahn den Netzzustandsbericht dem Bund transparent offengelegt. Daraus ergibt sich: Die Bahn benötigt in den nächsten Jahren bis zu 45 Milliarden Euro zusätzlich. Die Deutsche Bahn braucht diesbezüglich Planungssicherheit, weil nur so andere involvierte Unternehmen ihre Kapazitäten entsprechend aufbauen. Mit dem Bundesschienenwegeausbaugesetz haben wir den rechtlichen Rahmen so erweitert, dass neben Planungsbeschleunigungen auch Bahnhöfe mit in den Fokus genommen werden können.
Dann nehmen wir Großbritannien als Beispiel. Die Zahlen pro Kopf 187 Euro, wir in Deutschland 114 Euro.
Ich habe nicht den Eindruck, dass das Schienennetz und das Bahnangebot in Großbritannien besser ist als in Deutschland.
Dennoch können wir festhalten, dass die Bereitschaft, Geld für Bahn und Schiene auszugeben, dort größer ist.
Schaue ich mir den Finanzplan für die Schiene bis 2027 der Bundesregierung an, stehen jetzt schon mehr als 50 Milliarden Euro drin. Es wird nun deutlich mehr in die Schiene investiert als in all den Jahren zuvor. Wir können bereits jetzt deutliche Veränderungen zugunsten der Schiene feststellen.
Die DB-Logistiktochter Schenker fuhr 2022 einen Rekordgewinn von über zwei Milliarden Euro ein. Die Bahn könnte nun in Versuchung geraten, dieses hochprofitable Geschäft zugunsten des deutschen Schienennetzes zu verkaufen. Damit würde sie aber eine sichere Einnahmequelle verlieren. Was ist der richtige Weg?
Ich bin der Auffassung, dass man nicht unbedingt ein so breit aufgestelltes Unternehmen braucht, wie es die Deutsche Bahn derzeit ist. Wir sollten uns auf unser Kerngeschäft in Deutschland fokussieren. Wenn man zum Ergebnis kommen sollte, sich von Schenker zu trennen, was noch nicht entschieden ist, dann wäre man gut beraten, den Erlös für die Schuldentilgung zu verwenden.
CDU und CSU wollen das Schienennetz, die Bahnhöfe und die Energiesparte aus dem Bahn-Konzern herauslösen. Ziel ist eine Bündelung in einer Infrastruktur GmbH des Bundes. Ein vernünftiger Vorschlag?
Eine Bündelung in einer Infrastrukturgesellschaft steht im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Die Vorbereitungen laufen bereits. Ziel ist es, bis zum 1. Januar 2024 eine neue gemeinwohlorientierte Infrastrukturgesellschaft zu gründen. Aus der Zusammenführung von Netz AG sowie Station&Service AG. Die neue Infrastrukturgesellschaft wird neue Vorteile mit sich bringen, weil wir Reibungsverluste beseitigen und sicherstellen, dass die dort erwirtschafteten Mittel auch den Investitionen wieder zufließen. Das halte ich für einen geeigneten Weg. Blicken wir auf die Diskussion um die Trennung von Betrieb und Infrastruktur, können wir jetzt die Schweiz als positives Beispiel nehmen. Da ist es auch ein integrierter Konzern. Der integrierte Konzern scheint dann wohl nicht das Problem zu sein.
Ich möchte noch ein Beispiel aus dem Ausland anbringen: Vom Pariser Bahnhof Gare de Lyon bis nach Marseille St.-Charles fahre ich mit dem TGV gerade einmal 3 Stunden und 18 Minuten. Vom Hamburger Hauptbahnhof zum Münchner Hauptbahnhof fahre ich mit dem ICE 6 Stunden und 25 Minuten. Die Franzosen sind wesentlich schneller.
Berlin-München mit einer Fahrzeit von weniger als vier Stunden und einer sehr guten Pünktlichkeitsquote ist auch nicht schlecht. Das Flugzeug und das Auto können da nicht mithalten.
Gestatten Sie mir einen Schwenk auf Ihre berufliche Biografie: Was macht Sie so unentbehrlich, dass Wolfgang Schäuble (CDU) und Christian Lindner (FDP) Sie als Sozialdemokrat jeweils als Finanz-Staatssekretär behalten haben?
Die Frage können nur die von Ihnen genannten Personen beantworten. Ich halte mich nicht für unentbehrlich. Jeder ist ersetzbar. Aber je länger man eine Funktion wahrnimmt, erlangt man mehr Erfahrung und ein neuer Minister greift dann wohl auch gerne auf Erfahrung zurück. Zudem konnten beide sich sicher sein, dass absolute Loyalität gegeben ist.
Sie haben sich zudem einen richtig guten Ruf erarbeitet.
Ich habe versucht, meine Aufgaben und die damit verbundenen Herausforderungen immer bestmöglich zu erledigen. Dies konnte ich aber nur als Teil eines Teams.
Ich habe ein Zitat mitgebracht. Vielleicht haben Sie eine Vorahnung, von wem es stammen könnte: „Wir sind auf einem guten Weg, wir machen noch Fehler und die werden wir auch weiter machen – aber insgesamt sehen Sie mich lächeln … innerlich.“
Das ist schwer. Ich sag mal Christian Lindner.
Es stammt vom 1. FC Köln-Trainer Steffen Baumgart.
Stimmt. Ich wusste, dass ich das Zitat schon einmal gelesen hatte. Deshalb dachte ich zuerst an meinen Chef. Aber auf Fußball kam ich gerade nicht.
Wie oft schaffen Sie es als FC-Fan ins Stadion?
Leider nicht so oft. Zwei- vielleicht dreimal in der Saison. Wenn ich die Chance habe, an eine Karte von Union Berlin zu kommen, schaue ich mir dort den FC an.
Wagen Sie eine Prognose? Wo wird der FC am Ende stehen?
Mit dem Abstieg werden wir nichts zu tun haben. Das ist das Wichtigste. Ein einstelliger Tabellenplatz wäre schön. Trotz der Verluste von Stammspielern und Leistungsträgern wie Ellyes Skhiri und Jonas Hector hat Steffen Baumgart eine sehr gute Mannschaft, die attraktiven Offensivfußball spielt.
Sie sind Mitglied im Rotary Club Berlin. Was war einer der letzten spannenden Vorträge, dem Sie im Club lauschen durften?
Wir hatten mal Olaf Scholz zu Gast, als er noch Finanzminister und zu dem Zeitpunkt Kanzlerkandidat der SPD war. Der Vortrag kam sehr gut an.
Was schätzen Sie an der rotarischen Gemeinschaft?
Die Gemeinschaft und den Einsatz für soziale Projekte.
Zur Person
Werner Gatzer, RC Berlin, ist seit September 2022 Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Bahn AG. Der studierte Jurist ist mit kurzer Unterbrechung seit 2005 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium.
Copyright: Andreas Fischer
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