Ist das Internet noch kontrollierbar?
Nepper, Schlepper, Datenfänger
Das Jahr 2010 war ein gutes für Fahrradfahrer: Der Diebstahl von Drahteseln ist laut der aktuellen polizeilichen Kriminalstatistik deutlich zurückgegangen. Computerbesitzer hingegen haben Grund zur Sorge, denn die Internetkriminalität stieg auf einen neuen Rekordwert. 246.607 Delikte mit dem „Tatmittel Internet“ listet die polizeiliche Kriminalstatistik auf – rund 8 Prozent mehr als im Vorjahr. Vor allem das Ausspähen und Abfangen von Daten hat um mehr als 30 Prozent zugenommen. Das Internet eröffne „nahezu ungebremste Möglichkeiten“, deutete Innenminister Hans-Peter Friedrich die Zahlen, aber eben auch mehr Anreize zu ihrer missbräuchlichen Nutzung. Keine Frage: Die enorme Ausbreitung des World Wide Web hat eine blühende Spielwiese geschaffen, auf der sich Nepper, Schlepper und Datenfänger tummeln. Auch wer nicht ohne weiteres bereit ist, auf dubiose E-Mails afrikanischer Potentaten-Söhne hin 10.000 Euro nach Nigeria zu kabeln, kann heute von einem Klick auf den nächsten in die Fänge technisch versierter Cyberkrimineller geraten. Es überrascht kaum, dass der Innenminister die aktuellen Zahlen zum Anlass nahm, erneut die Einführung der von Datenschützern kritisierten Vorratsdatenspeicherung zu fordern. Angesichts der universalen Verfügbarkeit und Kopierbarkeit digitaler Daten ist allerdings fraglich, ob das World Wide Web überhaupt noch mit traditionellen Methoden nationalstaatlicher Überwachung und Verfolgung kontrolliert werden kann. Die Musikindustrie weiß ein Lied davon zu singen, sie hat den Kampf gegen Raubkopierer bereits verloren gegeben und sich auf neue Geschäftsmodelle einstellen müssen. Auch in England hat die Justiz gerade die Erfahrung machen müssen, dass dem anarchischen Netz mit traditionellen Mitteln nicht beizukommen ist. Prominente können dort mit Hilfe sogenannter „super injunctions“ nicht nur die Berichterstattung über außereheliche Affären unterbinden, sondern auch darüber, dass überhaupt eine Klage erwirkt wurde. Als im Mai ein anonymer Nutzer auf der Internet-Plattform Twitter die Identitäten der Betroffenen enthüllte, wurden sie in Windeseile von zehntausenden Nutzern weiterverbreitet. „Es ist offensichtlich nicht machbar, 75.000 Menschen einzusperren“, kommentierte ein britischer Unterhausabgeordneter den virtuellen Volksaufstand gegen die Knebelverfügungen. Die Moral von der Geschichte könnte lauten: Wer sich bereitwillig in den Scheinwerferkegel der Öffentlichkeit begibt, sollte sich nicht wundern, wenn dieser ihm auch in dunkle Ecken folgt. Das gilt ebenso für den gemeinen Internetnutzer, der sein Privatleben auf sozialen Netzwerken, in Blogs und Chatforen ausbreitet. Gier und Neugier locken so manchen in die virtuellen Bahnhofsviertel, wo er seinen Computer dann mit Schad- und Erpressersoftware infiziert. Wer Vorsicht walten lässt und Verschlüsselungstechnik nutzt, hilft sich selbst am besten und braucht keinen staatlichen „Cyber-Babysitter“. Denn Umsicht und ein dickes Schloss sind die einfachsten Mittel, um sich vor Diebstahl zu schützen. Deutschlands Fahrradfahrer haben es bereits begriffen.
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