Argentinien
Dem Himmel so nah
Vier Wochen Group Study Exchange (GSE) der Rotary Foundation in Argenti-nien. Ein Erfahrungsbericht über unbeschreibliche Armut, tiefe Einblicke in die argentinische Arbeitswelt, eine sagenhafte Medienpräsenz und Rotary-Meetings bis spät in die Nacht
Mit Reißzwecken nagelt Yolanda ein kleines weißes Stück Plastik an ihre Regalwand im Wohnzimmer. Der Handbeamer projiziert etwas unscharf unsere Präsentation an die gerade eingerichtete Leinwand. Auf der schweren tief braunen Couchgarnitur gegenüber sitzt eine Reihe Rotarier und schaut erwartungsvoll in unsere Richtung. Es ist 23.30 Uhr, und beim Meeting des RC Perico in der Provinz Jujuy hoch im Norden von Argentinien halten wir unseren ersten Vortrag. Den werden wir während der gesamten Tour insgesamt 14 Mal wiederholen und schon bald im wahrsten Sinne des Wortes im Schlaf können. Denn in Argentinien beginnen die regulären Rotary-Meetings unter der Woche in der Regel mit einem ausgiebigen Essen erst gegen 22 Uhr.
Yolandas Wohnzimmer dient gleichzeitig auch als Clublokal – die Atmosphäre ist ausgesprochen familiär. Auch ihr Sohn nimmt am Meeting teil. René Macina ist Governor des Distrikts 4835. Für seine Clubbesuche hat er bisher seit seinem Amtsantritt vor zehn Monaten 70.000 Kilometer zurückgelegt und noch immer nicht alle 62 Clubs im Distrikt besucht. Wenn er erzählt, werden uns zum ersten Mal die unendlichen Weiten des
Landes bewusst. Später auf unserer Tour durch den Dis-trikt werden wir es noch direkt erfahren. Dann, wenn der Bus von einer Stadt in die nächste fünf Stunden nur geradeaus fährt. Wenn einem der Himmel so greifbar nah erscheint und der Horizont so unendlich weit weg. Allein von der geografischen Grundfläche her ist der Rotary-Distrikt 4835 doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Insgesamt besuchen wir 14 verschiedene Städte. In fast jeder begrüßt uns bei der Einfahrt ein großes Rotary-Rad am Eingang der Stadt. Schnell entsteht der Eindruck: Die Menschen auf der Straße dort kennen Rotary. Sie leben mit Rotary. Und umgekehrt Rotary mit ihnen.
Medienpräsenz
Nicht zuletzt ist das festzumachen an einem enormen Aufkommen an Journalisten, die in jeder noch so kleinen Stadt Interviews mit dem GSE-Team führen. Insgesamt sind es um die 27 – für Tageszeitungen, Radio und Fernsehen. Und es ist einmalig zu beobachten, wie die Rotarier vor Ort die Gelegenheit beim Schopfe packen und im nächsten Atemzug nach dem Thema GSE auch gleich noch die zentralen Ziele von Rotary und ihre lokalen Projekte unterbringen. Der fast tägliche Kontakt mit Journalisten ist eine einmalige Chance, in vielen Zeitungsredaktionen, Radio- und TV-Stationen hinter die Kulissen zu schauen, um einen fundierten Überblick zu bekommen, wie die Medien in Argentinien funktionieren. Fazit: Die Journalisten dort arbeiten ausgesprochen nah am Menschen, ja mit den Menschen.
Berufstage
Generell vermitteln die Berufstage während unseres Aufenthalts einen wertvollen Einblick in den Arbeitsalltag und das berufliche Leben der Argentinier. Neben diversen Redaktionen steht eine Vielfalt an Unternehmensbesichtigungen auf dem Programm. Wir besuchen etwa eine Baumschule für Zitrusfrüchte, eine Blumen-, eine Zitronen- und Limonenplantage, verschiedene Schulen, ein Krankenhaus, Autohäuser und Personalabteilungen, Betriebe für Tomaten-, Milch-, Werkzeug- und Möbelerzeugung sowie Zuckerrohrfelder. Denn die berufliche Bandbreite des GSE-Teams ist breit gefächert und reicht von einem Ingenieur und Doktoranden im Bereich Maschinenbau über den Geschäftsführer eines Autohauses, die Leitung einer Personalabteilung bis zur Redakteurin sowie einem pensionierten Marineoffizier als Teamleiter, der von 1999 bis 2003 als Verteidigungsattaché an der Deutschen Botschaft in Buenos Aires war. Wir lernen schnell, dass die Argentinier in der Regel mehr als eine Arbeitsstelle haben. So treffen wir zum Beispiel auf einen Anwalt, der außerdem sein Geld als Universitätsprofessor verdient, einen Tangolehrer, der tagsüber Maler ist, oder eine Bekleidungsverkäuferin, die nach Feierabend Tanzkurse gibt. Der Kombinationskreativität sind keine Grenzen gesetzt; die persönlichen Fähigkeiten werden pragmatisch genutzt, um ausreichend Geld zu verdienen.
Distriktkonferenz
Im größten Thermalbad der Welt, Las Termas de Rio Hondo, treffen wir viele alte Bekannte aus den vergangenen Tagen wieder. Von nah und fern haben sie sich zum Teil Hunderte von Kilometern zur Distriktkonferenz auf den Weg gemacht. Yolanda und René Macina sind selbstverständlich auch unter ihnen. Am nächsten Morgen soll die Konferenz um neun Uhr beginnen. Im typisch argentinischen Zeitverständnis eröffnet Governor Macina die Veranstaltung in aller Ruhe um zehn Uhr. In Argentinien fängt der frühe Vogel eben nicht den Wurm. Immer wieder werden wir unterwegs mit dieser Erkenntnis konfrontiert. Zeit spielt häufig nur eine untergeordnete Rolle – Herzlichkeit und eine besondere Fröhlichkeit dafür eine übergeordnete. Die erfahren wir auch, als wir am selben Nachmittag das argentinische GSE-Team kennenlernen. Es sind fünf Männer, keine Frau. Der Teamleiter Randy Hoffmann hat deutsche Wurzeln und spricht perfekt Deutsch. Noch zwei Wochen, dann brechen die jungen Leute auf in das Abenteuer Deutschland. Geschlossen als Team sehen wir sie später auf der Distriktkonferenz von D 1890 in Wedel wieder. Dann werden sie schon Hamburg und Teile Schleswig-Holsteins kennengelernt und einen Ausflug nach Föhr hinter sich haben und eingetaucht sein in eine für sie völlig neue Welt zwischen den Meeren.
Uns geht es genauso, hoch im Norden eines Landes, das kulturell und landschaftlich so anders ist als unsere Heimat. 11.500 Kilometer von zu Hause ist Herbst bei 25 Grad. Die Sonne gibt fast durchgängig einen aus. Gleichzeitig sind die Blätter bunt verfärbt und fallen von den Bäumen. In der ersten Zeit bilden die Ausläufer der Anden eine atemberaubende Naturkulisse. Ein Abstecher zum Berg der sieben Farben in Purmamarca ermöglicht einen Blick auf die sicher beeindruckendste Bergkulisse im Nordwesten des Landes. Weiter südlich wird die Landschaft flacher und weitläufiger. Fast steppenartige Felder ersetzen die Berge.
Armut
Unterbrochen wird die Schönheit der Natur immer wieder vom Anblick der Armut, die ebenso zu diesem Land gehört. Wir passieren unzählige „Wohnsiedlungen“, deren Hütten nur aus maroden Utensilien wie Holz, Plastik oder Pappe, eventuell aus etwas Beton, spärlich zusammengebaut sind. Eine große Anzahl der Menschen dort ist bettelarm. Einer der Rotarier erzählt uns, viele würden im Norden wohnen, weil dort das Klima das ganze Jahr über am angenehmsten sei, um mehr oder weniger unter freiem Himmel zu leben.
Mit Rotariern aus dem RC Fernandez besuchen wir eine Familie in einer kleinen Wohnsiedlung am Ortsrand. Zusammen mit der Kirche haben die Rotarier Hütten für insgesamt zwölf Familien gebaut. Der Vater ist Tagelöhner auf dem Feld, die Mutter Haushaltshilfe. Sie versorgen außerdem eine eigene große Kinderschar. Immer wieder schiebt eines von ihnen den Stoffvorhang zur Seite, der als Eingangstür dient, und beäugt die Gäste. Drinnen ist es stockdunkel, Kinder schreien – wie viele es sind, ist schwer zu sagen. Es müssen eine Menge sein den Stimmen nach. Höflich werden wir draußen vor der Hütte empfangen. Herein bittet uns niemand. Es gibt selbst gebackenen Fladen und Mate-Tee, der im traditionellen Mate-Gefäß in der Runde von einem zum anderen gereicht wird. Eine merkwürdige Mischung aus Scheu, Skepsis und Dankbarkeit liegt in der Luft. Geredet wird nicht viel. Während sie Brot und Tee verteilen, lächeln sie ab und zu. Dann gehen wir bald wieder. Zum Nachdenken bleibt kaum Zeit. Das Programm ist dicht getaktet. Das nächste Projekt, in das wir einen Nachmittag hineinschauen, wartet. Es ist eine Berufsschulstiftung, in der junge Leute, zum Teil ohne Schulabschluss, in handwerklichen Berufen ausgebildet werden und dort gleichzeitig leben und essen können. Es ist das Lebenswerk eines deutschen Einwanderers. Seine Erzählungen voller Herzblut motivieren und erinnern daran, im Sinne Rotarys, nicht wegzuschauen, sondern jede noch so kleine Chance zu nutzen, Armut einzudämmen. Die Eindrücke vom Tag sind immer wieder aufs Neue überwältigend. Es gibt kaum Gelegenheit, sie zu verarbeiten. Nur manchmal spät in der Nacht nach den Meetings, in einem der vielen verschiedenen Gästezimmer, beginnen die Gedanken zu kreisen. Insgesamt wohnen wir in neun unterschiedlichen Familien – meistens zu zweit, manchmal alleine. Im Laufe der Zeit bekommen wir Einblick in zahlreiche Betriebe und die politischen Strukturen des Landes, aber auch in die höchst unterschiedlichen Lebensweisen der rotarischen Gastgeber und die doch so andere argentinische Rotary-Welt. Jeder von uns nutzt täglich die wertvolle Gelegenheit, mit unseren Gastgebern zu diskutieren und die unterschiedlichen Perspektiven aufzunehmen.
Rotary-Meetings
Im Schnitt an jedem zweiten Abend nehmen wir an einem offiziellen Rotary-Meeting teil, das traditionell mit dem Hissen verschiedener Flaggen beginnt. Häufig ist anlässlich unseres Besuches auch die deutsche Flagge dabei. Der Club-präsident wählt Mitglieder aus, die sie zu Anfang unter anfeuerndem Klatschen der anderen Meeting-Teilnehmer hissen, und andere, die sie zum Meeting-Ende wieder herablassen. Es ist eine besondere Ehre, so lassen wir uns erklären, wenn Gäste zum Hissen der Flaggen aufgerufen werden. Umso mehr schätzen wir, dass auch dem GSE-Team öfter diese Aufgabe zuteil wird. Im Vergleich zu Deutschland bietet sich hinsichtlich der Geschlechterstruktur häufig ein höchst ungewöhnliches Bild. Überraschenderweise besuchen wir mehrfach Clubs, in denen ausschließlich Frauen Mitglied oder Frauen deutlich in der Überzahl sind. Immer wieder hören wir auf unsere neugierigen Nachfragen hin: „Wir wollen Männer aufnehmen, aber finden keine.“ Auch der Austausch der Clubwimpel spielt eine wichtige Rolle. Genauso viele Wimpel wie wir aus unseren entsendenden Clubs im Distrikt 1890 mitgebracht haben, nehmen wir aus den argentinischen Clubs als Souvenir für die Clubs zu Hause wieder mit. Nach einem Monat geht es über Buenos Aires zurück nach Hamburg – an jedem Wimpel hängen Erinnerungen an all die Rotary Clubs und seine Mitglieder, die das GSE-Team so herzlich aufgenommen, kulturellen und beruflichen Austausch und unzählige persönliche Begegnungen ermöglicht haben, die einmalig sind und unvergessen bleiben.
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