Titelthema
Das Virus und wir
Braucht es angesichts steigender Inzidenzen doch eine Impfpflicht? Eine Frage wie ein gesellschaftspolitischer Sprengsatz
Die Coronapandemie hält uns gefangen. Im Sommer schienen die Aussichten gut. Aus dem Mangel an Impfstoff war ein Überangebot geworden. Die Impfquote stieg rasant. Wer zweimal geimpft war, legte im Grunde das Thema ad acta. Doch das Virus bleibt tückisch. Die zurzeit herrschende Variante ist infektiöser als sein Ursprungstyp. Die Zahl der Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, ist größer als geplant, Impfdurchbrüche sind nicht ganz so selten wie erhofft. Die Intensivmedizin kämpft wieder um das Leben vieler Menschen. Pandemie ohne Ende?
Hören Sie hier den Artikel als Audio!
Einfach anklicken, auswählen und anhören!
Die Wiederkehr einer bereits überwunden geglaubten Bedrohung verdüstert nicht nur die Stimmung. Sie lässt Spannungen wieder deutlicher werden. Das fängt an bei der Fragmentierung von Meinungsräumen, wo die einen wieder den harten Lockdown für die einzig vernünftige Antwort halten und andere sich durch keine Einschätzung des RKI von ihrer Meinung abbringen lassen, das Risiko werde übertrieben und politisch missbraucht. Die als Starrköpfigkeit wahrgenommene Haltung der „Ungeimpften“ führt auf der anderen Seite zu Forderungen, die Uneinsichtigen von jeder medizinischen Notversorgung auszuschließen. Eine Impfpflicht ließe sich bei einer Verschärfung der Lage zwar verfassungsrechtlich begründen, aber wer wollte die Durchsetzung mit dem Vollstreckungsmittel des unmittelbaren Zwangs politisch anordnen?
Fakt ist, dass Deutschland zwar einer der Ursprungsorte für einen wirksamen Impfstoff ist, aber die Impfquote im internationalen Vergleich erstaunlich niedrig liegt. Tatsache ist auch, dass Deutschland, seine Wirtschaft, seine Menschen recht besonnen durch die Krise gingen, aber am Ende doch wieder Unsicherheit herrscht. Mit der Überlastung der intensivmedizinischen Kapazitäten droht auch ein Zustand der Triage. Das Wort steht für die dilemmatische Entscheidung, wer knappe Versorgung zuerst erhält oder behält, also die Priorisierung danach, wer welche Überlebensaussichten besitzt und wer welchen Aufwand erfordert. Wäre unter diesen Umständen dann nicht doch eine partielle, berufsbezogene oder gar eine allgemeine Impfflicht gerechtfertigt?
Eine milde Form der Verhaltenslenkung
Die vom Staat als Rechtspflicht auferlegte Pflicht zur Impfung ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit. Die meisten werden dem bloßen Einstich ein solches Gewicht kaum zumessen wollen und die Veränderung im Körper durch Sensibilisierung des Immunsystems gegen das tückische Virus eher als Stärkung, denn als „Versehrung“ verstehen. Aber das Verständnis der Freiheit, die Grundrechte gewährleistet, liegt ein ganzes Stück weit in der Hand des Grundrechtsträgers. In welchem Zustand sich „mein“ Körper befinden soll, bemisst sich nicht allein nach dem Maß objektiver medizinischer Vernunft. Wer in der nützlichen Impfung eine Störung seiner körperlichen Unversehrtheit sieht, wird von der Rechtsordnung durchaus mit diesem Willen ernst genommen. Doch am Ende des Tages könnte von Gerichten der Impfeingriff doch durch überwiegende Gründe des Gemeinwohls für gerechtfertigt gehalten werden. Wenn die Pandemie außer Kontrolle gerät und Opfer fordert, die vermeidbar sind, kann auch eine Impfpflicht als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit verfassungsrechtlich gerechtfertigt sein.
Wäre eine Impfpflicht, notfalls mit Verwaltungszwang durchgesetzt, auch eine kluge und effektive Maßnahme? Gerade in den neuen Bundesländern kursieren ohnehin Ressentiments gegen einen Staat, der nicht als liberal, sondern als autokratisch und paternalistisch wahrgenommen wird. Man muss hier kein Öl in die Flammen gießen. Erste Erfahrungen mit der 2G-Regelung in Sachsen deuten darauf hin, dass es auch anders geht. Indirekt. Zutritt zum öffentlichen Begegnungsraum nur für Geimpfte oder Genesene. Notwendige Auffrischungsimpfung vielleicht schon mitgedacht. Damit wird ein Anreiz zur Impfung gesetzt, ohne Zwang auszuüben, eine Art „Nudging“. Vor allem in den USA kursiert Nudging als verhaltenspsychologisches Konzept, als milde Form der Lenkung zum richtigen Leben mit einem kleinen Stups, einem Anstoß – ohne gleich das Recht zu einem anderen Lebensentwurf zu beschneiden. Solche sympathischen Konzepte sind verfassungsrechtlich gar nicht so einfach zu beurteilen. Wer sich partout nicht impfen lassen will, sieht hier nur den faktischen, den unausweichlichen Zwang, will er nicht vom sozialen Leben ausgeschlossen sein. Doch für viele, die lediglich zögern, ist die 2G-Regel der Anstoß, das Impfangebot anzunehmen.
Schwierig wird es, wenn der Staat uns im Übermaß oder unerkennbar lenkt und schubst, denn der Mensch mit seiner Urteilsfähigkeit muss Subjekt der Rechtsordnung bleiben und insofern auch Adressat von nachvollziehbaren Geboten oder Verboten sein – schon damit er mit dem Wahlzettel in der Hand dafür Quittungen ausstellen kann. Jenseits der Coronapandemie wird längst mit Konzepten eines sanften Dirigismus gearbeitet und damit verstärkt an Kommendes gedacht. Eine liberale Gesellschaft, die es ernst meint mit der Klimaneutralität steht vor einem gewaltigen Steuerungsproblem, das manch einem so recht erst in der Regierungsverantwortung bewusst wird. Man könnte natürlich hingehen und den Autoverkehr in Innenstädten verbieten und so E-Autos und Lastenrädern freie Fahrt geben. Aber wäre das nicht ein politischer Sprengsatz? Also geht man dazu über, den Verkehr mit Verbrennungsmotoren zu „vergrämen“ und Elektromobilität zu prämieren: Tempo 30, verengte Fahrwege, Reduktion des Parkraums, höhere Gebühren. Auch diese vorgeblich sanften Wege können fühlbare Grundrechtseingriffe bedeuten, aber ihre Rechtfertigung verläuft häufig nach dem Bewegungsverlauf des Spiels über die Bande. Das erschwert die traditionelle Grundrechtsprüfung, die nach legitimen Gründen für Eingriffe in die Freiheit fragt.
Das bekommen Verfassungsgerichte vermutlich in den Griff. Nicht so leicht in den Griff bekommen wir die zunehmende Kluft zwischen großen politischen Steuerungszielen – pandemisch, städtebaulich oder ökologisch – auf der einen Seite und der psychosozialen Mentalität einer zunehmend volatil werdenden Gesellschaft auf der anderen Seite. Viele sind sich in den Zielen einig, aber wollen oder können ihr individuelles Leben nicht konsequent verändern.
Wie gemeinsame Ziele erreichbar sind
Das betrifft gerade auch die oberen Schichten der Gesellschaft, die Nachhaltigkeit als Begriff sehr gerne verwenden, aber individuell einen deutlich größeren ökologischen Fußabdruck hinterlassen als die Bezieher kleiner Einkommen, einfach weil auf absehbare Zeit höherer Konsum und Lebensstandard nicht klima- und ressourcenneutral zu haben sind. Wohlhabende können den Lenkungsimpulsen auch besser ausweichen. Aus der Pandemie können wir lernen, dass gemeinsame Ziele sehr wohl erreichbar sind. Es klappt aber nur, wenn eine leistungsfähige, innovative Wirtschaft, eine moderne, gut geordnete Verwaltung und eine funktionsfähige öffentliche Infrastruktur auf eine Mehrheit von Menschen treffen, die es verstehen, ihre eigene Entfaltung mit der Einsicht in Notwendiges zu verbinden.
Weitere Artikel des Autors
5/2024
Starker Staat durch starke Bürger
11/2018
Die Zeit des Rechts
3/2017
Neufundierung einer erfolgreichen Idee
11/2015
» Uns fehlt es an Selbstgewissheit «
12/2014
Ein wertvoller Freiheitsraum
6/2014
Warum auch eine aufgeklärte Demokratie Transzendenz braucht
2/2011
Vertrauliches Handeln
Mehr zum Autor