Titelthema
Starker Staat durch starke Bürger
Das Grundgesetz war und ist der gelungene Gegenentwurf zu Gewaltherrschaft und Diktatur, und Politik ist und bleibt das Resultat der Willensbildung des Volkes.
I. Das Grundgesetz ist unsere Verfassung. Mit seiner Verabschiedung am 23. Mai 1949 wurde die Bundesrepublik Deutschland gegründet, dem Staat eine neue Form gegeben. Diesem Verfassungsstaat traten am 3. Oktober 1990 diejenigen Deutschen bei, denen zuvor die Mitwirkung versagt war.
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Das Grundgesetz entstand unter außergewöhnlichen Umständen. Das Reich hatte am 8. Mai 1945 bedingungslos kapituliert und stand danach unter alliierter Besatzungsherrschaft. Mit dem Aufkommen des Kalten Krieges wurde klar, dass Stalin seinen Teil Deutschlands weder herausgeben noch unter demokratische Kontrolle lassen wollte. Deshalb autorisierten die drei westlichen Alliierten am 1. Juli 1948 die bereits bestehenden, demokratisch gewählten Länderregierungen ihrer Besatzungszonen, eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Damit sollte ein handlungsfähiger demokratischer Staat gegründet werden.
Artikel 1 (1)
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
Die elf Ministerpräsidenten der westlichen Besatzungszonen waren keineswegs nur begeistert über diese Ermächtigung, weil sie mit der Staatsgründung die endgültige Spaltung Deutschlands befürchteten. Man wollte die Freiheit und die Souveränität, aber nicht unter Preisgabe der nationalen Einheit. Deshalb bezeichnete man die verfassungsgebende Versammlung nur als „Parlamentarischen Rat“ und die am 23. Mai 1949 verabschiedete Verfassung nur als „Grundgesetz“. Es sollte nach der Botschaft der Präambel lediglich ein Provisorium sein bis zur späteren staatlichen Einheit. Aber die damalige Einleitung mit der Aura des Ephemeren trügt. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben nicht an eine rasche Wiedervereinigung geglaubt. Sie verfassten deshalb ihren Text so sorgfältig, wie das in einem solchen Verfahren nur möglich war. Der Normenbestand wurde ersichtlich auf eine lange währende Zukunft angelegt und in seinen wesentlichen Grundsätzen auch noch mit einer Klausel der Unabänderbarkeit (Art. 79 Abs. 3 GG) versehen.
Auf den ersten Blick war damit eine konstitutionelle Paradoxie geboren: Unter Aufsicht der Besatzungsherrschaft wurde die souveräne verfassungsgebende Gewalt des deutschen Volkes in Anspruch genommen und ein Provisorium für die Ewigkeit geschaffen. Bei näherer Betrachtung war den damals Beteiligten ohnehin klar, dass es sich beim Grundgesetz um eine Verfassung im vollen Sinne handelte, die möglichst auch im Falle einer späteren nationalen Einheit nicht Makulatur werden sollte. In seinem Art. 23 stand lakonisch, dass es in anderen Teilen Deutschlands „nach deren Beitritt“ in Kraft zu setzen sei. Den Arbeitsalltag der verfassungsgebenden Versammlung, die bis Anfang Mai in Bonn tagte, beherrschten denn auch ganz andere Fragen. Die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren allesamt Zeitzeugen des Untergangs der Weimarer Demokratie. Sie wollten so weit als möglich Vorkehrungen treffen, dass kein zweiter Absturz in Diktatur und Gewaltherrschaft stattfindet.
II. Die moderne Demokratie in Deutschland hatte eine durchaus starke Traditionslinie, die das Grundgesetz entschieden fortsetzt. Diese schwarz-rotgoldene Linie reicht vom Aufbruch des Vormärz, vom Hambacher Fest 1832 über die Revolution von 1848, über den starken Liberalismus des späteren 19. Jahrhunderts, der zu nationaler Einheit und zum Parlamentarismus drängte, aber auch über die Beständigkeit des politischen Katholizismus und über den Aufstieg der Sozialdemokratie bis hin zur Revolution von 1918 und der Verfassung von Weimar. Doch das Grundgesetz schrieb nicht nur eine durch die Naziherrschaft brutal unterbrochene Verfassungstradition fort. Es setzte auch neue Akzente, die Fehlentwicklungen der Vergangenheit unwahrscheinlicher machen sollten.
Dazu zählt ein liberalisiertes Menschen- und Staatsverständnis: Der Staat ist um der Menschen willen da – nicht umgekehrt. Die Republik entsteht aus dem Willen ihrer Bürger, und sie dient deren Freiheit. Wer zuvor den Staat als Ort absoluter Vernunft oder als autoritative Quelle von Moral und Gemeinwohl überhöht hatte, dem wird eine Absage erteilt.
Der Grundklang ist nicht Unterwerfung oder Aufopferung der persönlichen Freiheit um vermeintlich höherer Ziele willen. Der freiheitliche Staat formt nicht den Menschen als Material seiner Zwecke, sondern er selbst lebt allein von der Urteils- und Tatkraft seiner Bürger. Aus dem Wissen und Gewissen des Einzelnen wächst der sittliche Horizont der res publica. Aus unserer Fähigkeit zur Selbstentfaltung stammen alle Kräfte der Gemeinschaft, auch alle Möglichkeiten zur Solidarität mit den Schwächeren und den Notleidenden. Deshalb sind die Grundrechte als Sicherung eines staatsfreien Entfaltungsraums an den Anfang der Verfassung gestellt. Das sollte man nicht vergessen, wenn in unserer Zeit von einer akuten Notlage zur anderen die Bereitschaft zunimmt, die Grundrechte immer wieder für die große Sache in Dienst zu nehmen, sie vermehrt als Schutz- und Leistungsansprüche auf staatliches Eingreifen zu deuten und sie am Ende des Weges immer weiter zu beschränken.
Auch das politische System wurde im Vergleich zu Weimar verändert. Das Grundgesetz hat sich klar gegen das Regieren unter Mitwirkung eines starken Präsidenten gestellt. Nicht mehr gewollt waren Kaiser, plebiszitärer Reichspräsident und erst recht kein „Führer“. Die Richtung bestimmen sollte allein der von der Mehrheit des Parlaments gewählte Kanzler: also klare Verantwortung für die Volksvertretung, eine Regierung zu bilden und ebenso deutliche Rückbindung allen Regierungshandelns an eine stabile parlamentarische Mehrheit. Wie auch der manchmal gescholtene Föderalismus hat sich dieses Prinzip des Regierens in 75 Jahren bewährt.
Solange ein Drei- und Vier-Parteien-System herrschte, solange die radikalen Ränder eben nur schmale Ränder waren, erwies sich das Konzept geradezu als Optimum konstitutioneller Weitsicht. Und schaut man heute auf die aktuelle Lage des US-amerikanischen Präsidialsystems, nimmt womöglich die Dankbarkeit noch zu. Doch auch die parlamentarische Kanzlerdemokratie steht längst unter Druck. Die volatile Gesellschaft fächert das Parteiensystem auf, Radikalismus und Populismus nehmen zu. Koalitionen und Regierungsbildung werden schwerer, ihre Kompromisse teurer. Das politische Klima wird giftiger.
III. Beschimpfungen, Verunglimpfungen und Hassausbrüche nehmen in der Anonymität des Netzes zu. Politiker wirken manchmal wie getrieben, ihre fachliche Eignung wird recht unver-blümt infrage gestellt. Aber umgekehrt gilt Ähnliches. Auch das Vertrauen in die Urteilskraft des Souveräns schwindet. Manche fragen schon recht vernehmlich: Erfordern die aktuellen technischen Entwicklungen und die globalen Probleme nicht längst ein ganz anders Bild vom Menschen, als das vor 75 Jahren der Fall war? Ist die Parteiendemokratie noch funktionsfähig? Brauchen wir längere Wahlperioden? Brauchen wir ausgeloste Bürgergremien, die von Sachverständigen flankiert dem Parlament Beine machen? Sind stark verstandene Grundrechte wie die Meinungsfreiheit nicht geradezu fehl am Platz in der Wirklichkeit einer digitalen Welt der spontanen oder gezielten Desinformation, der Trolle und Social Bots? Wenn künstliche Intelligenz nicht nur in unserem Auftrag rechnet und wie von uns programmiert lenkt, sondern auf eigene Faust plant und „denkt“, wenn Kreativität künftig Resultat maschinellen Lernens wird, welche Überzeugungskraft hat dann noch die Annahme einer einzigartigen Subjektqualität des vernunftbegabten Menschen, die letztlich seine Dignitas ausmacht? Und muss die Rolle des Staates nicht doch wieder viel stärker werden, wenn die globale Erwärmung aufgehalten, die Migrationsströme kontrolliert und der Weltfrieden verteidigt werden sollen? Brauchen wir nicht vielleicht sogar oberhalb des Staates eine EU- oder eine Weltregierung, möglichst von Experten sachlich bestimmt, die die „granulare Gesellschaft“ (Christoph Kucklick, 2014) in Richtung Vernunft lenkt?
Weltoffen und demokratisch stabil
Die liberale Botschaft der Grundrechte und das Ansehen der repräsentativen Demokratie scheinen keine Konjunktur zu haben. Ein neuer Hang zum Dirigismus und zum Etatismus scheinen auf dem Weg. Die Klage über bürokratische Gängelung ist unüberhörbar, die Verflechtungen und das enge Korsett rechtlicher Bindungen im europäischen System der vielen Handlungsebenen lassen Politik immer undurchschaubarer oder im Durchsetzungsvermögen immer schwächer wirken. Aber wir sollten nicht einer Täuschung aufsitzen. Das Bonner Grundgesetz wollte keinen schwachen Staat. Im Gegenteil: Das im Jahr 1949 neu entworfene Deutschland sollte weltoffen, im Innern demokratisch stabil sein und eine wichtige internationale Rolle in einem vereinten Europa spielen. Große Richtungsentscheidungen wie die Westbindung, die Einführung der sozialen Marktwirtschaft oder die europäische Integration wurden denn auch von einem Staat getroffen, der angesichts der Vergangenheit erstaunlich selbstbewusst auftrat. Die Verfassung will auch keine gefesselte und gelähmte Politik, sie will keinen reinen Dienstleistungsbetrieb oder bloßen Vollstrecker des fachlich Notwendigen. Verhindert werden sollte ein paternalistischer, ein autoritär anmaßender Staat, der alles besser weiß, der in moralischen Fragen mehr gilt als das Gewissen des Einzelnen.
Mit anderen Worten: Politik ist und bleibt das Resultat der Willensbildung des Volkes. Wir alle entscheiden mit unserem Tun oder Unterlassen, im Alltag oder in der Wahlkabine. Das Grundgesetz setzt kluge Spielregeln, ist aber kein Drehbuch für richtige Politik. Seine Staatsziele und Schutzpflichten dürfen von der Rechtsprechung nur zurückhaltend zur Geltung gebracht werden, weil Politik von Gerichten zwar kontrolliert, aber nicht „gemacht“ wird. Der politische Gestaltungsspielraum des demokratischen Gesetzgebers darf nicht zu einer Worthülse in Urteilsbegründungen, sondern muss wieder stärker ernst genommen werden. Das setzt aber auch voraus, dass zu jeder Zeit neu das sachlich Notwendige im politischen Prozess diskutiert, erkannt und festgelegt wird. Nur dann kann sich ein Gesellschaftsmodell auch unter Angriffen von außen und innen behaupten, eine Verfassungsordnung, die sich persönliche Freiheit, die Achtung von Würde und Leben, aber auch von Sicherheit und Wohlstand auf die Fahne geschrieben hat.
IV. Das Grundgesetz war und ist der gelungene Gegenentwurf zu Gewaltherrschaft und Diktatur, gegen Kollektivismus und Unterdrückung. Die Werteordnung der Grundrechte hat eine klare Botschaft. Sie ist das gleichheitsgerechte Versprechen auf den Raum zur Entfaltung der eigenen Persönlichkeit und des Respekts im Umgang miteinander. Diese Werteordnung bleibt allen technischen oder geopolitischen Zäsuren zum Trotz universell gültig, solange wir eine Kultur der Freiheit wollen und alltäglich leben. Es hängt deshalb nicht so sehr von Veränderungen im Verfassungstext ab, ob das schwarz-rot-goldene Grundgesetz eine stabile Zukunft hat, sondern von unserer Bereitschaft, für die Freiheit und Demokratie einzutreten, den öffentlichen Meinungsraum lebendig und fair zu halten und unter Druck auch Opfer zu bringen. Die globale Dominanz der westlichen Demokratien schwindet. Europa verliert ein Stück seiner wirtschaftlichen und technologischen Stärke, zeigt wenig Fähigkeit, sich militärisch ohne Hilfe der USA zu behaupten. Die westliche Führungsmacht aber strauchelt, das Ausbleiben der dringend notwendigen Ukraine-Hilfe könnte einen bedrohlichen Wendepunkt im nordatlantischen Bündnis markieren. Die Lage ist gewiss nicht schlechter als in der Geburtsstunde des Grundgesetzes. Die Ressourcen sind heute weitaus größer, doch der Kompass muss auch in Richtung selbstbestimmter Freiheit zeigen. Eine gute Verfassung altert nicht, sie ist das beständige institutionelle Gedächtnis von Humanismus und Aufklärung, ein Regelwerk, das jede Gegenwart mit Leben erfüllen wird.
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