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Rotary vor 25 Jahren

Die große Stunde nach der Wende

Tausende Rotarier gestalteten die Wiedervereinigung Deutschlands mit, auch mit großem persönlichen Engagement. Das zeigen die Beispiele, die für viele geglückte Aufbauprojkete stehen.

Matthias Schütt30.09.2015

Kapitel 2

Wenn man herausfinden will, wie Rotarier die deutsche Wiedervereinigung mitgestaltet haben, kann eine Reise in den äußersten Osten des Landes aufschlussreich sein. In Ostritz bei Görlitz liegt direkt an der Neiße das Kloster St. Marienthal, der älteste seit 1234 ununterbrochen existierende Konvent von Zisterzienserinnen in Deutschland. Als die Mauer fiel, lebten dort 20 Nonnen in einer großen, jedoch weitgehend verfallenen Klosteranlage. Was daraus nach 1990 wurde, ist ein bemerkenswertes Kapitel deutscher Rotary-Geschichte.


Aus 16 Wirtschaftsgebäuden des entstand aus rotarischer Initiative ein Internationales Begegnungszentrum (IBZ) mit 250 Veranstaltungen und einem Hotelbetrieb mit bis zu 20.000 Übernachtungen pro Jahr. Ein Schwerpunkt der Veranstaltungen liegt auf Umweltbildung, und das ist hier naheliegend: Das IBZ liegt im Dreiländereck Deutschland-Polen-Tschechien, das seinerzeit berüchtigt war als „Schwarzes Dreieck“, weil die Braunkohleverstromung schwerste Umweltschäden verursacht hatte. Über rotarische Kontakte kam die damals frisch gegründete Deutsche Bundesstiftung Umwelt mit ins Boot, die dort eine besondere Vision verwirklichte: die Umwandlung von Ostritz in eine energie-ökologische Modellstadt. Wo früher der Schnee schon schwarz vom Himmel fiel, wird heute mehr Energie aus Sonne, Wind und Wasser gewonnen, als die 3000 Einwohner selbst benötigen.


IBZ und Modellstadt, beides sind Beispiele gelungener Transformation und Innovation, aber darüber hinaus auch Pfeiler einer Brücke, die dem Frieden und der Zusammenarbeit dienen soll. Nicht nur innerdeutsch, auch in Richtung Mittel- und Osteuropa. Das war die Idee hinter der Idee für Prof. Clemens Geißler, der als Experte für Raumordnung und Infrastrukturplanung das IBZ-Konzept entwarf: „Über die Begegnung zur Versöhnung und zur Zusammenarbeit zu kommen, das war unser Ziel.“ Das gelang, auch weil Rotarier Regie führten. „Das Besondere ist“, so der Leiter des IBZ, Michael Schlitt, „ dass die handelnden Personen von damals bis heute in diese Zusammenarbeit eingebunden sind.“ Von Prof. Geißler (RC Hannover-Ballhof) über Fritz Brickwedde (RC Osnabrück) damals Generalsekretär der Deutschen Bundesstiftung Umwelt, den Ostritzer Bürgermeister und späteren Landrat Günter Vallentin sowie Prof. Matthias Kramer (beide RC Dreiländereck Oberlausitz) bis zu Schlitt selbst (RC Görlitz)

Das Leuchtturm-Projekt kann nicht repräsentativ sein für den Beitrag der Rotary Clubs für den Aufbau nach der Wende. Denn zunächst ging es vielerorts erst einmal darum, die Idee von Serviceclubs bekannt zu machen. Der Leuchtturm aber zeigt exemplarisch, was Rotarier erreichen können, auch dort, wo sie nicht im Rahmen ihres Clubs tätig sind, sondern ganz privat. Den Werten von Rotary fühlen sie sich  immer verpflichtet.

 


Unterschiedliche Lebensentwürfe
Mancherorts wird in diesem Jubiläumsherbst daran erinnert, wie das damals war, als die neuen Bundesländer rotarisch erschlossen wurden. Dabei mussten die neuen Clubs die schwierige Aufgabe meistern, Mitglieder mit völlig unterschiedlichen Lebensläufen und Vorstellungen  zu integrieren. Der Vorteil war, dass Rotary wie keine andere soziale Einrichtung die Menschen jenseits von Wirtschafts- und Arbeitswelt privat zusammenführte — in der Wahrnehmung vieler Clubgründer: auf Augenhöhe. Im Spannungsfeld von zu großen Erwartungen im Osten und zu großen Vorbehalten im Westen wurden die entstehenden Rotary Clubs zu Treffpunkten, an denen sich die neuen Entscheidungsträger direkt und persönlich austauschen konnten, wie sich Past-Gov. Friedrich Perker (RC Brandenburg/Havel) erinnert. „Das Hauptverdient Rotarys“, so fasst er seine Erfahrungen zusammen, „war das, was man eine innerdeutsche Völkerverständigung nennen könnte. Und bewirkt hat das die Präsenzpflicht, die uns regelmäßig zusammenführte.“


Die passende Form dafür war nicht der Club, sondern der Rotary-Tisch, den Peter Kellerhof (RC Berlin-Süd) für den Anfang vorzog. „Ein solcher Tisch“, sagte der Bankdirektor aus Berlin in einem Vortrag, „bildet einen ersten Kristallisationskern, der ganz zwanglos das Hinzutreten von Interessenten erlaubt. Man spricht miteinander, man lernt sich kennen, man kommt wieder oder auch nicht.“ Damit vermied man, wovor Kellerhoff nur dringend warnen konnte: eine Einmischung von außen in die Frage, wer Mitglied werden dürfe und wer nicht. Für den Berliner konnte ein Club nicht einfach eingesetzt werden, er müsse vielmehr wachsen aus dem lebendigen Austausch der künftigen Clubmitglieder.


Eine zentrale Frage war natürlich immer wieder die DDR-Vergangenheit der Kandidaten. Für Past-Gov. Siegfried Harms (RC Stralsund-Hansestadt) war bei einer Verstrickung kein Kompromiss möglich – und ist es bis heute nicht. „Über die einfache Mitgliedschaft in der SED brauchen wir nicht zu reden, aber wer grundlegende Menschenrechte missachtet hat, kann nicht bei Rotary sein. Sonst werden wir eine Organisation wie Tausende andere“, betont Harms. „Für unsern jungen Club waren deshalb die Vier-Fragen-Probe und der Rotary-Ehrenkodex der entscheidende Maßstab bei Neuaufnahmen.“


Aber auch ohne diese Einschränkung war die psychologische Hürde, so einem Club beizutreten, für manchen Interessenten durchaus ein Problem, wie Friedrich Perker sich erinnert: „Es gab in der DDR ja keine Bürgergesellschaft nach westlichem Muster. Man war vielmehr eingeordnet in ein strenges, vertikal gegliedertes Gesellschaftssystem. Erst Rotary brachte die notwendigen horizontalen Strukturen.“ Darauf spielte auch der ehemalige Hamburger Bürgermeister Peter Schulz (RC Hamburg-Wandsbek) an, der zum 10. Gründungstag des RC Rostock meinte: „Rotary kann durch seine Arbeit dazu beitragen, die Lebenshaltung zu stärken, auf der Demokratie beruht, und damit die Demokratie zu stabilisieren.“


Rostock ist ein gutes Beispiel für eine Clubgründung, die eventuell noch vorhandenen Denkschablonen nicht standhält – von einer Westgründung konnte keine Rede sein. Zwar gab es einen Anstoß aus der Partnerstadt Bremen, aber dabei blieb es auch. Von 29 Gründungsmitgliedern kamen gerade mal zwei aus dem Westen. Unter diesen Umständen, so der Hamburger Festredner Schulz, einen von Anfang an funktionierenden Club aufzubauen, das war schon eine Leistung und nur möglich, „weil die Aktiven über ungewöhnliches Engagement und ruhiges, unaufgeregtes Selbstbewusstsein verfügten.“ Weiter sagte Schulz: „Der nur Westdeutsche wird die hier vollbrachte großartige Leistung wohl nie wirklich nachvollziehen können, weil für ihn zwei Dinge im Wortsinn unvorstellbar sind: einen Rotary Club zu gründen dort, wo es auch nicht die leiseste Spur einer rotarischen Tradition gab; und vor allem: einen Rotary Club zu gründen, wo die Schicht, die von Anfang an für Rotary typisch und wesensbestimmend war, so gut wie nicht existierte: der unternehmerische Mittelstand. Eine kluge Aufnahmepolitik hat mit dem Schwerpunkt Hochschullehrer und Wissenschaftler eine tragfähige Brücke geschaffen.“


Nach den Erinnerungen des früheren Präsidenten des brandenburgischen Verfassungsgerichts, Peter Macke, der vom RC Karlsruhe-Schloss zum RC  Brandenburg/Havel wechselte, entstanden im Osten  der Republik Clubs, die „hoch interessant und anregend heterogen zusammengesetzt und, hiervon ausgehend, durch freundschaftliche Unvoreingenommenheit geprägt“ waren. Sie lebten die Einheit „als Selbstverständlichkeit; erst wo sie selbstverständlich ist, ist Einheit gelungen“.


Das sagt sich leichter, als es oftmals war. Denn die vielfältigen wirtschaftlichen Probleme in den Anfangsjahren der wiedervereinigten Republik, als die Landschaften partout nicht blühen wollten, schlugen natürlich auch bei Rotary durch. „Zur Einheit gehört“, so Macke weiter, „das ist wie in einer guten Ehe, dass Probleme nicht unter den Teppich gekehrt werden, sondern erörtert und nach Möglichkeit bereinigt, zumindest aber namhaft gemacht werden. Auch dies hat in den hiesigen Rotary Clubs stattgefunden. Jeder Club hier war und ist so etwas wie ein Workshop auch für die Probleme im Gefolge der Wiedervereinigung.“


Paten und Ko-Paten
Ansprechpartner aus dem Westen gab es jedenfalls genug, denn an Clubs, die sich in der ehemaligen DDR engagieren wollten, war kein Mangel. Oft waren es alte Beziehungen, die wiederbelebt werden sollten, oder persönliche Kontakte oder auch Kontakte aus Städtepartnerschaften, wie im Fall Bremen–Rostock. Das alles kulminierte in einer regelrechten Gründungswelle: Bereits im ersten Jahr entstanden 49 Clubs, quasi jede Woche einer.


Als organisatorisches Gerüst hatte der Deutsche Governorrat drei (grenznahen) Leitdistrikte benannt, die den Aufbau Ost dirigieren sollten: 180, 188 und 189. In Österreich übernahmen die Distrikte 191 und 192 dieselbe Aufgabe für Ungarn, die Tschechoslowakei und die ehemaligen Teilstaaten Jugoslawiens. Da manche Gründerclubs mit ihrer Aufgabe schwer gefordert waren, rief der Deutsche Governorrat Clubs in ganz Deutschland zu „Ko-Patenschaften“ auf. Die Idee war, weitere Clubs zu finden, die in den Anfangsjahren etwa die Abonnementsgebühren für den Rotarier übernahmen oder den neuen Clubs bei der Grundausstattung unter die Arme griffen.


Einer, der daraus bis heute enge Bindungen zu seinem „Patenkind” pflegt, ist der RC Cloppenburg-Quakenbrück, der ab 1992 den RC Grevesmühlen in Nordwest-Mecklenburg begleitete. Es gab regelmäßige Besuche und auch die Unterstützung einiger sozialer Projekte. Aber im Vordergrund standen immer die persönlichen Kontakte, die zu festen Freundschaften wurden. Sie halten bis heute, auch wenn Past-Präsident Karl Meiners bedauert, dass „die Jüngeren nur noch schwer den Wert dieser besonderen Kontakte erkennen“.


Die Aufbauarbeit beshränkte sich nicht auf den Osten Deutschlands. Die Annäherung an Polen war ebenfalls, wie Friedrich Perker betont, eine wesentlich von Rotary bewirkte Entwicklung. In der DDR hatte es große Vorbehalte gegeben, dank Rotary wurden auch diese Mauern eingerissen. Wer den Beitrag der deutschen Clubs zur Überwindung der alten Blöcke messen will, muss die Projekte in Mittel- und Osteuropa einbeziehen, zum Beispiel die Viadrina- Stipendien im Distrikt 1940 für polnische Studenten. In 17 Jahren wurden 482 junge Menschen mit 847.750 Euro gefördert.


So wirken viele Impulse fort, die seit Anfang der 1990er Jahre zum Aufbau Rotarys und zur Verbreitung rotarischer Werte im Osten geführt haben. Sicherlich gibt es 25 Jahren nach dieser Stunde Null im deutsch-deutschen Vergleich noch Unterschiede zwischen West und Ost – auch bei Rotary. Das darf aber nicht den Blick auf das Wesentliche verstellen. Entscheidend war und ist das Angebot, das Rotary macht und das gern angenommen wird: Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfe unter einem Dach zusammenzuführen. 

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.