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Regelmäßig fordern Politiker die Mitwirkung der Bürger ein – doch mitzubestimmen haben sie wenig

Die Zivilgesellschaft kommt nicht auf Kuschelkurs

Henning von Vieregge27.09.2011

Deutschland ist zwar keine Wüste des Bürgerengagements, aber der Weg bis zu der von Staat, Wirtschaft und Hauptamtlichen in allen Institutionen ernstgenommenen Zivilgesellschaft ist noch weit. Beispiele dafür, wie guter Bürgerwille verpufft oder abgeschmettert wird, gibt es leider viele. Königstein im Taunus zum Beispiel hat ein wohlanständiges Publikum einen überaus wohlanständigen Stadtverordnetenvorsteher und einen freundlichen Bürgermeister. Im Stadtteil Schneidhain sollte ein Sportplatz in ein Wohngebiet und ein Ladenzentrum umgewidmet werden, der neue Sportplatz sollte auf der gegenüberliegenden Straßenseite entstehen. Durch den Grundstückshandel ist ausreichend Geld da für ein besseres Fußballfeld, ein besseres Sportlerheim, einen neuen Kinderspielplatz, ein Kleinfußballfeld und eine Rollschuhbahn. Das ist, sollte man meinen, eine großartige Chance, die Bürger vor Ort in das Projekt einzubeziehen. Was für eine Art Ladenzentrum wollen wir haben? Was nicht? Was geschieht mit dem existierenden kleinen Laden, der jetzt im Dorf gewissermaßen die „Linde“ ist, bei der sich alle treffen? Wie kommen Kinder und Lehrer, die jetzt den nahen Sportplatz nutzen, zukünftig mit dem weiteren Weg zurecht? Wer kümmert sich um einen Kinderspielplatz, der auch angenommen wird? Und so weiter und so weiter.

Fehlender Wille

Nun, die Leser dieses Textes wohnen nicht in Königstein und haben wohl auch nicht vor, dort hinzuziehen. Es geht ja auch nicht um Planungsdetails. Es geht um das Prinzip einer Lebensqualitätsverbesserung durch Bürgerengagement. Und da sieht es bescheiden aus: Eine sogenannte Bürgerversammlung, die Halle ist gut gefüllt: Der hochwohlanständige Stadtverordnetenvorsteher wird nicht müde zu betonen, dass die Bürger fragen dürfen, aber bitteschön keinen Meinungsstreit austragen sollen. Oder ungefragt Antworten geben. Das sei nicht die Aufgabe einer Bürgerversammlung. Er nennt einen Paragraphen, aus dem das klar hervorgeht. Alternativen zur Planung seien bereits im Stadtparlament ausgiebig und abschließend erörtert worden. Der Investor dürfe nicht verschreckt werden. Der Ortsbeirat solle hernach einbezogen werden, wenn es um die Details der Ausgestaltung der Anlagen gehe. Mit anderen Worten: Selbst bei einer fast einmütigen Zustimmung wird der Bürger nicht wirklich um seine Meinung gefragt, noch gar um seine aktive Mitwirkung gebeten. Stadtverwaltung und Repräsentativgremien haben offenbar genug miteinander zu tun, sich abzustimmen. Die Anregungen der Bürger werden in diesem Entscheidungsprozess noch nicht einmal als Meinungsäußerungen per digitaler Kommunikation erbeten. Es fehlt – und das nicht nur an diesem Ort – erkennbar der politische Wille, zivilgesellschaftliche Strukturen wirklich einzuführen. Es gibt in Deutschland ganz wenige Ausnahmen, einige Leuchttürme der Bürgerbeteiligung wie Nürtingen, ansonsten stehen wir ganz am Anfang. Das gilt auch für die ehrenamtliche Mitwirkung in Institutionen. Das Angebot unterstützender Laien verstört große Teile der Lehrerschaft. Man lese nur die Polemiken der GEW gegen Initiativen wie Ashoka und Teach First. Auch Paten für Arbeitslose haben es oft schwer. Weder die Agentur für Arbeit noch deren Bildungsträger wollen sich mit ihren bezahlten Kursen auf diesem Wege überprüfen lassen. Man kann diese Beispiele fast beliebig um weitere verlängern.

Ein Impuls aus England

Genau hier setzt die Liverpool-Rede des englischen Premierministers David Cameron vom Juli 2010 an, von der man sich wünschen würde, dass sie hier in die Debatte um Bürger- und Zivilgesellschaft einbezogen wird. Laut Cameron soll Problemlösung zukünftig nicht mehr ausschließlich „top-down“, also von oben nach unten erfolgen. Die Bürger sollen „sich frei und mächtig genug fühlen, sich selbst und ihren Kommunen zu helfen“. Das nennt Cameron „building the Big Society“, und er spricht von einem mächtigen kulturellen Wandel. Denn, so der Premier weiter, „we need to turn government completely on its head“. In Deutschland ist der Druck von unten heute wahrscheinlich noch zu schwach für eine solche Weichenstellung der grundsätzlichen Art. Politik und Administration wissen seit Stuttgart 21 nochmals aufgefrischt, dass Zivilgesellschaft eben nicht nur harmlos unverbunden neben Markt und Staat entstehen wird, sondern die bisherige Machtverteilung angreift und an den Schnittstellen erhebliche Sortierungskonflikte auslöst. Andernfalls werden die Hoffnungen auf gesteigerte Lebensqualität trotz sinkender staatlicher Ressourcen bitter enttäuscht werden. Was ist mit der 68er/Babyboomer-Generation, die jetzt langsam aus der Vollzeitbeschäftigung herauswandert? Ist sie nicht noch frisch und tatendurstig genug? Politisch durchsetzungstrainiert ist sie ja. Sie kann die Idee der Bürgergesellschaft theoretisch und vor allem praktisch voran zu bringen. Diese Generation hatte doch schließlich begriffen, dass die vielfach angewendete Ausrede aus den siebziger Jahren, erst müsse das System verändert werden, dann denke man über sich und sein Leben nach, nicht mehr zieht. Der Bürger weiß heute: Abwarten hilft nicht, Protestbriefe verändern nicht, man muss schon selber zulangen. Man kann in jede Initiative vor Ort das gesamte globale Know How reinpacken. Also Graswurzelbewegung im großen Zusammenhang.

Illusion oder Vision?

Kritiker halten Zivilgesellschaft für eine Illusion vom Himmel auf Erden, die an der egoistischen Natur des Menschen immer wieder zerschellen werde. Doch was ist schlecht an der Vision von der guten Nachbarschaft hierzulande und weltweit, die sich auch (oder gerade) in schlechten Zeiten erhält und die die wachsenden Defizite staatlicher und familiärer Strukturen ausgleicht? Macht derjenige etwas falsch, der versucht, die Idee von der aktiven Bürgergesellschaft an einem Ort, zu einem Thema zusammen mit Gleichgesinnten praktisch umzusetzen? Noch nie war eine Generation für diese Aufgabe so gut ausgebildet und verfügte über eine so lange Erfahrung in Veränderungsprozessen und hatte ein so langes Leben vor sich wie die nun im Ruhestand befindliche „68er-Generation“. Sie ist jetzt gefordert. Zivilgesellschaft muss oben und unten, lokal, national und international in Gang gesetzt werden. Sie darf keine Bewegung der Privilegierten zugunsten der Privilegierten werden. Das sind massive, aber reizvolle Herausforderungen.