Titelthema Nordkorea
Helene Fischer als Wunderwaffe gegen Propaganda
Eine zweiwöchige Reise 2019 unter falschen Angaben durch Nordkorea wenige Monate vor der Grenzschließung offenbart die Vorzüge der Einsamkeit.
Da stehe ich nun. Vor mir der gigantisch wirkende Hauptbahnhof von Peking. Der Abschied von meinem Fahrer, der mich hierher brachte, verlief zügig, zumal der ältere Mann kein einziges Wort Englisch verstand. Ihn zu fragen, was mich jetzt im Hauptbahnhof erwartet, was ich beachten muss – das wäre sinnlos gewesen. Weit komme ich eh nicht. Kaum habe ich die Vorhalle betreten, blicke ich auf Sicherheitsschleusen. Die kenne ich von Flughäfen zu genüge, aber von Bahnhöfen? Ich steuere auf eine Schleuse zu und präsentiere einer Mitarbeiterin mein Zugticket. Meine Begrüßung auf Englisch wird nur mit einem Lächeln erwidert. Verstanden. Auch sie kann nicht mit mir auf Englisch kommunizieren. Per Handbewegung gibt sie mir zu verstehen, dass ich meine Gepäckstücke, ein großer Trolley und ein Rucksack, auf das Förderband eines großen Scanners legen soll. Routine, denke ich. Was soll schon passieren?
Kaum sind meine Gepäckstücke durchleuchtet, öffent die Mitarbeiterin meinen Trolley. Sie gibt mir zu verstehen, dass ich etwas herausholen soll. Sie deutet auf einen Bildschrim. Etwas längliches hat ihre Aufmerksamkeit geweckt. Das wird mein Haarspray sein, bin ich mir sicher, krame es heraus und zeige es ihr. Sie nickt freundlich und gibt mir zu verstehen, dass ich es abgeben muss. Ich versuche ihr zu erklären, dass es völlig harmlos ist und ich es nur für meine Frisur benötige. Das versteht sie nicht. Mit ihr zu diskutieren, bringt nichts. Wie soll sie mich verstehen? Muss ich mir in Nordkorea ein neues Haarspray kaufen. Glücklich, dass es sonst nichts zu beanstanden gibt, nehme ich meine Gepäckstücke.
Ich blicke mich um und suche eine Anzeigetafel. Zu welchem Gleis muss ich nun? Auf der Anzeigetafel erkenne ich die Zugnummer K27. Doch anstelle einer Gleisnummer werde ich zu einer großen Wartehalle geführt. Anders als in Deutschland, warten die Zugreisenden in verschiedenen Wartehallen, in denen dann die Züge aufgerufen werden und man erst dort das Gleis erfährt. Ich setze mich also neben vielen anderen Menschen, augenscheinlich fast nur Chinesen, in eine der Wartehallen und blicke ungeduldig auf die dortige Anzeigetafel. Auch wenn mein Zug erst in zwei Stunden abfahren soll, macht sich eine Unruhe in mir breit. Kann das Abenteuer nicht Nordkorea nicht endlich starten? Ich hole einen MP3-Player hervor und höre Musik. Es dauert gefühlt eine Ewigkeit, ehe mir angezeigt wird, dass der Zug nach Pjöngjang von Plattform Sieben abfährt. Schnell schnappe ich mir mein Gepäck und mach mich auf dem Weg. Die Plattform habe ich schnell gefunden und ein Schaffner, der dort schon wartete, zeigt mir mein Schlafabteil. Ich stelle meine Gepäckstücke ab und setzte mich. Tief durchatmen. Das Abteil hat für mich den Charme eines alten DDR-Zuges, wenngleich ich nie in einem solchen saß. Aber das Interior verbinde ich irgendwie mit Sozialismus, vielleicht auch, weil mein Reiseziel Nordkorea heißt.
Nun packt mich die Neugier. Wie wird der Rest des Waggons aussehen? Alle anderen Abteile sind leer. Will sonst niemand nach Pjöngjang? An einem Ende entdecke ich die Tür zu einer Toilette. Jedenfalls halte ich den kleinen Raum für eine Toilette. Statt einer Toilettenschüssel gibt es nur ein Loch im Boden und zwei Griffe an den Seiten zum Festhalten. Das scherzhaft gebrauchte Wort Abenteuer scheint doch seine Berechtigung zu haben. Ich kehre zurück in mein Abteil, lege mich auf meine Liege, und höre über meinen mitgenommenen CD-Player ein Hörspiel. Ich tauche im Zug nach Pjöngjang für eine Stunde in die Welt von Sherlock Holmes ein. Es ist inzwischen 19 Uhr und der Zug rollt irgendwo durch China. Eineinhalb Stunden später esse ich etwas und putze dann auf der Toilette meine Zähne, ehe ich mich müde vom stressigen Tag, wieder auf der Liege ausbreite und die Augen schließe.
Ich schrecke auf und bin sofort hellwach. Licht dringt in mein Zugabteil. Zwei dunkel gekleidete Männer kommen herein. Ich kann ihre Gesichter nicht erkennen, hebe meinen Kopf und blicke sofort zu meinem Gepäck. Dann: Erleichterung. Trolley und Rucksack stehen noch immer am Fußende in der Ecke. Im Rucksack sind das Zugticket für Nordkorea und mein Reisepass. Die Angst, mir könnte jemand beides stehlen, ist groß. Denn dann wäre meine Reise zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat.
Ich liege noch immer im Nachtzug, der mehr als 1300 Kilometer zurücklegen wird, um mich und mehr als hundert weitere Passagiere in 24 Stunden von Peking in die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang zu bringen. Doch nun steht er. An irgendeinem Bahnhof. Nachts um 3.40 Uhr.
Ich bin 34 Jahre alt, Journalist und neugierig auf das Land, über dessen Politik ich regelmäßig berichte – Nordkorea. Für knapp zwei Wochen habe ich jedoch meinen Beruf gewechselt. Offiziell bin ich nun Marketingmitarbeiter einer kleinen Firma mit sechs Mitarbeitern, die Wochen- und Monatskalender herstellt. Als Journalist darf ich nicht nach Nordkorea einreisen – als Mitarbeiter dieser kleinen Firma schon.
Gedanken rasen durch meinen Kopf. Zusteigende Passagiere, erneute Passkontrolle oder Festnahme wegen versuchter illegaler Einreise nach Nordkorea – was passiert hier gerade? Die beiden Männer stellen wortlos zwei Trolleys sowie einen großen Karton unter den kleinen Tisch in die Mitte des Abteils und schließen die Tür. Mich würdigen sie keines Blickes. Ich erkenne im Dunkeln schemenhaft, wie einer der Männer noch seine Hose auszieht, ehe er sich auf die Liege mir gegenüber legt und einschläft. Beruhigt lege ich mich wieder hin und drehe meinen Kopf zur Wand. Trotz der Anspannung bin ich so müde, dass ich schnell wieder einschlafe.
Ich höre Stimmen im Halbschlaf. Habe ich es doch nicht geträumt? Ich reibe mir die Augen, öffne sie und erblicke einen Mann im dunklen Anzug, der mir gegenüber sitzt und sich unterhält. Auf der Pritsche über mir liegt sein Gesprächspartner. Es ist sieben Uhr morgens. Beide haben einen Becher Instant-Nudelsuppe in der Hand – ihr Frühstück. Später entdecke ich am Ende des Zugwaggons einen Wasserhahn, aus dem das für diese Suppen benötigte heiße Wasser kommt.
Nordkorea: "Nein, sorg dich nicht um mich"
Im Verlauf der weiteren Fahrt stellt sich heraus, dass es sich bei meinen Mitreisenden um zwei Nordkoreaner handelt, die mit Diplomatenpässen unterwegs sind. In einem unbeobachteten Moment kann ich einen genaueren Blick auf ihre Ausweise werfen, die auf dem kleinen Tisch in der Mitte unseres Zugabteils liegen. Aber schon der Blick auf ihre Jackett-Anstecker hätte gereicht, um zumindest auf ihre Nationalität zu schließen. Darauf zu sehen sind die Porträts von Staatsgründer Kim Il-Sung und seinem Sohn Kim Jong-Il.
Meine beiden Mitreisenden sprechen kaum Englisch, sodass wir mit Handbewegungen kommunizieren. Sie geben mir zu verstehen, dass sie gern meinen Reisepass sehen möchten. „Deutsch?“ fragt der über mir liegende, als er meinen Pass in den Händen hält. Er wird sich später als Han Bo vorstellen. Ich bejahe, sie lächeln freundlich. Han Bo blättert staunend durch meinen Pass und zeigt seinem Kollegen das nordkoreanische Visum, das sich darin befindet. Ich erkläre auf Englisch, dass ich zwölf Tage in Nordkorea als Tourist verbringen werde. Wieder lächeln sie zustimmend. Nach dem Gespräch höre ich Musik. Herbert Grönemeyer, Helene Fischer und Andrea Berg. Ich habe bewusst keine US-amerikanische Musik dabei, denn ich will keinerlei Risiko bei meiner Reise eingehen. Während ich Liedzeilen wie „Nein, sorg dich nicht um mich“ lausche, blicke ich aus dem Fenster.
In der Zwischenzeit ist einer der Diplomaten mit seinem Smartphone beschäftigt. Er öffnet eine Abdeckung und nimmt die SIM-Karte heraus, die er in einer Kaugummi-Dose verschwinden lässt. Diese steckt er in sein schwarzes Jackett, woraus er anschließend eine neue SIM-Karte holt und ins Smartphone einsetzt.
Plötzlich hält der Zug an und der Schaffner kommt ins Abteil. Ich verstehe kein Wort, aber hastig ziehen meine nordkoreanischen Mitreisenden ihre Mäntel an, packen ihre Wasserflaschen weg und schieben ihre Trolleys in den Gang. Verunsichert blicke ich in das Gesicht eines der Männer. Per Handbewegung gibt er mir zu verstehen, dass auch ich meine Sachen packen und den Zug verlassen muss. Aber warum?
Wir haben Dandong erreicht, den letzten chinesischen Bahnhof vor der Überfahrt nach Nordkorea. Ich halte mich an die beiden aus meinem Abteil, die sich wiederum weiteren Diplomaten angeschlossen haben. Darunter eine junge Nordkoreanerin in einer teuren Outdoor-Jacke und einem Smartphone der neuesten Generation in der Hand. Hightech aus Südkorea.
Im Bahnhofsgebäude dürfen wir an einer langen Schlange von wartenden Reisenden vorbei. Erst jetzt sehe ich, dass mehr als 100 Chinesen mit nach Nordkorea reisen wollen. Das Gepäck der Diplomaten und somit auch meines wird als erstes gescannt. Ich zeige Reisepass und Zugticket.
In einem Duty-free-Shop nach der Kontrolle deckt sich die Diplomatengruppe noch mit einigen Stangen Camel-Zigaretten ein. Ich überlege kurz, ob ich mir auch eine Stange kaufen sollte, um sie bei Ankunft in Pjöngjang den Diplomaten zum Dank für ihre Hilfe und Freundlichkeit zu schenken. Doch in dem Moment, als ich mich auf den Weg machen will, spricht mich die Nordkoreanerin der Diplomatengruppe auf Englisch an. Ich schätze sie auf Anfang 30, etwa 1,60 Meter groß mit kurzen, schwarzen Haaren. Sie fragt, ob ich Urlaub in Nordkorea machen möchte. Ich bejahe und lächle sie dabei freundlich an. Dann fragt sie mich, ob ich alleine durch das Land reisen werde. Allein? Ich stutze. Weiß sie etwa nicht, dass Touristen nicht alleine durch Nordkorea reisen dürfen? Ich erkläre, dass ich auf meiner zwölftägigen Reise begleitet werde. Sie nickt und gibt mir zu verstehen, dass wir zurück in den Waggon steigen müssen.
Der Zug fährt auf der chinesisch-nordkoreanischen Freundschaftsbrücke über den Yalu-Fluss und erreicht direkt im Anschluss den nordkoreanischen Bahnhof von Sinuiju. Ich stehe nun am Fenster des Waggonflures, um eine gute Sicht zu haben. Die nordkoreanische Diplomatin fotografiert mit ihrem Handy gen China. Auf dem Bahngleis von Sinuiju steht auch schon das Begrüßungskomitee: ein Offizier und mehrere Soldaten. Kaum angehalten, versperren Soldaten die Türen des Waggons und der Offizier betritt den Zug. Im Flur überreicht einer aus der Diplomatenrunde ihm eine Stange Camel-Zigaretten. Die Personen- und Gepäckkontrolle beginnt.
Zwei Formulare muss ich mit Angaben zu meiner Person sowie zu meinem Gepäck ausfüllen. Ich soll sogar angeben, wie viel Geld ich in welchen Währungen einführe. Ich beginne, das Geld zu zählen, da gibt mir einer der nordkoreanischen Diplomaten zu verstehen, dass ich nicht so viel angeben soll, wie ich tatsächlich einführe. Hastig stecke ich das Geld wieder ein und trage einen niedrigeren Betrag ein, ehe der Offizier ins Abteil zurückkehrt.
Ein hinter ihm stehender Soldat will meinen Pass sehen. Während er damit das Abteil verlässt, hebt der Offizier bei der nun beginnenden Gepäckkontrolle jedes einzelne T-Shirt von mir im Trolley hoch. Im Menü meines Fotoapparates sucht er vergeblich nach einer GPS-Funktion. Mehrfach fragt er nach „GPS“, mehrfach verneine ich. Als er meine kleine Tasche mit Hörspiel-CDs entdeckt, schaut er sich jede einzelne CD genau an. Auf eine CD der „Drei Fragezeichen“ blickt er besonders lange. Sollte ich nun wegen eines Hörspiels Schwierigkeiten bekommen? Gespannt warte ich auf Nachfragen, doch der Offizier legt die kleine CD-Tasche schließlich wortlos beiseite. Es kommt mir wie eine Ewigkeit vor, ehe er mir per Handbewegung signalisiert, dass ich alles wieder einpacken kann. Wenig später steckt ein Soldat seinen Kopf durch die Abteiltür und reicht mir meinen Reisepass. Mein Puls sinkt. Ich will mir meine Erleichterung aber nicht anmerken lassen und verziehe keine Miene.
Der Offizier hat sich inzwischen einem der nordkoreanischen Diplomaten in meinem Abteil zugewandt. Er fordert ihn auf, sein Smartphone zur Kontrolle abzugeben. Der Diplomat tut dies ohne zu zögern und nimmt sich lächelnd aus seiner Dose einen Kaugummi. Seine Kollegen im Abteil nebenan, die Laptops dabei haben, müssen ihre Mailprogramme öffnen, damit die Soldaten die Mails einsehen können. Nachricht für Nachricht wird geprüft. Letztlich gibt es aber bei niemandem etwas zu beanstanden und der Zug fährt nach drei Stunden weiter gen Pjöngjang.
Bei 40 Kilometern pro Stunde wird die Fahrt durch Nordkorea bis zur Hauptstadt zur Quälerei. An den Fenstern ziehen Äcker und kleine Dörfer vorbei. So ist es wohl: Wir denken, ein unbekanntes Land muss schon beim Anblick aufregend sein. Und dann: Häuser. Felder. Monotonie. Das letzte Teilstück der Reise, bis wir endlich den Hauptbahnhof von Pjöngjang erreichen, kommt mir wie eine Ewigkeit vor. Ich teile das Glücksgefühl meiner Mitreisenden, die mit ihren Smartphones am Fenster stehen, als in der Ferne die nordkoreanische Hauptstadt zu erblicken ist. Sie machen eifrig Fotos und lächeln. Ein paar Minuten später stoppt der Zug, wir müssen alle raus.
Ich blicke mich hilflos um. Der Bahnsteig ist kaum beleuchtet. Hunderte Menschen steigen eilig aus dem Zug. Schnellen Schrittes verschwinden sie im Dunkel. Nur ich weiß nicht wohin. 24 Stunden war ich im Nachtzug von Peking nach Pjöngjang unterwegs und hatte mehr als 1300 Kilometer zurückgelegt. Pünktlich um 18.30 Uhr war der Zug in den Hauptbahnhof von Pjöngjang eingefahren. Nun stehe ich mitten auf dem Bahnsteig und warte auf jemanden, dem ich nie zuvor begegnet bin, dessen Name ich nicht einmal kenne.
Plötzlich höre ich eine Stimme auf mich zukommen. „Florian Quanz?“ „Ja, hier“, antworte ich zögerlich. Ein Nordkoreaner im schwarzen Anzug kommt auf mich zu und reicht mir die Hand. Er stellt sich als mein Reiseleiter vor, ohne seinen Namen zu nennen, und bittet mich, ihm zu folgen. Ich schaue mich dabei um und erkenne jetzt erst, dass es nur zwei Gleise zu geben scheint – wir sprechen vom Hauptbahnhof einer Millionenstadt.
An meiner Seite sind drei Nordkoreaner
Zwei Nordkoreaner warten an einem Auto auf uns. Während der eine mich mit einem stechenden Blick mustert, lächelt der andere freundlich und nimmt mir mein Gepäck ab, was er im Kofferraum verstaut. Das muss der Fahrer sein, denke ich. Und der andere? Der ist Kollege meines Reiseleiters. Seine Aufgabe ist es, darüber zu wachen, dass ich mich an die Regeln halte – und mein Reiseleiter. Der wiederum wird mir auf meiner Reise alles erklären und übersetzen. Er wird auch derjenige sein, der die Kontakte zu den Menschen knüpft – ich als Ausländer darf hier niemanden ansprechen. Während meiner Tour durchs Land werden also drei Nordkoreaner an meiner Seite sein. Der Staat sorgt für seine Bürger. Und für seine Besucher.
Im Hotel für die internationalen Gäste, welches auf einer Halbinsel des Taedong-Flusses steht, besprechen wir nach einem mehr als reichlichen Abendessen die zweiwöchige Reise durch das Land. „Magst du ein Bier mit mir trinken?“, fragt mich mein Reiseleiter. Meine Augen beginnen zu leuchten. Gedanklich mach ich auf meiner To-do-Liste einen Haken. In all den Jahren, in denen ich mich mit Nordkorea beschäftigt hatte, war mir nicht verborgen geblieben, dass hier gutes Bier gebraut wird. Wie könnte es auch anders sein, hatte Kim Jong Un doch seine Braumeister extra nach Bayern geschickt, um dies zu lernen.
Ich lasse mir das Taedong-Bier schmecken und lausche den Ausführungen meines Reiseleiters. Ich werde durch das Diamantgebirge wandern, am Strand von Wonsan baden gehen und an der Grenze Richtung Südkorea blicken. Zufrieden genieße ich einen weiteren Schluck des Bieres.
Kaum steht die Planung, fragt mein Reiseleiter mich nach meinem Pass. Er benötige ihn, um mein Rückflugticket zu beantragen. Ich verweise auf das Flugticket, das ich von meiner Reiseagentur erhalten habe. Dies sei nur ein vorläufiges Ticket, erklärt er. Ich traue mich nicht, weiter mit ihm zu diskutieren, sondern händige ihm meinen Reisepass aus. Was machen die nun mit meinem Reisepass, frage ich mich. Kontrollieren, die jetzt nochmal genauer meine Identität? Fliege ich womöglich doch noch auf? Bin ich ab jetzt ein Gefangener?
Ohne Ausweis geht das Abenteuer Nordkorea für mich nun richtig los. Denkmäler und Statuen zu besichtigen, die zu Ehren Kim Il-Sungs oder Kim Jong-Ils erbaut wurden, gehört die ersten drei Tage zum Pflichtprogramm auf der Tour durch die nordkoreanische Hauptstadt Pjöngjang. Jedes Gebäude, jede Straße wurde nach den Ideen eines der drei Staatsführer erbaut, wie ich erfahre. Für jeden Staatsführer hat mein Reiseleiter ein Adjektiv, das er vor die offizielle Bezeichnung setzt. Staatsgründer Kim Il-Sung ist der „geliebte Präsident“, sein Sohn und Nachfolger Kim Jong-Il ist der „geschätzte General“, der jetzige Machthaber Kim Jong-Un der „hochverehrte Marschall“. Das drei Tage in Dauerschleife – unerträglich. Sich dem entziehen? Unmöglich.
Am Abend des dritten Tages wird es mir zu viel. Ich liege weinend auf dem Bett und starre an die Decke meines Hotelzimmers. Es ist der einzige Ort, an dem ich vor ständiger Propaganda geschützt bin und meine Begleiter nicht in der Nähe sind. Ich möchte nur noch weg. Doch ich kann nicht. Meinen Pass habe ich noch nicht zurückbekommen.
Am kommenden Tag starten wir bereits um sieben Uhr. Wir fahren an die Westküste. Unser Ziel ist das Westmeer-Schleusensystem in der Nähe der Hafenstadt Nampoo. Kaum sitze ich im Auto, erfahre ich, dass es die Idee des „geschätzten Generals“ Kim Jong-Il gewesen sei, die Autobahn von Pjöngjang nach Nampoo zu bauen. Die erfolgte Fertigstellung im Jahr 2000 drücke die Kraft und den Willen des nordkoreanischen Volkes aus. Wie fast jede Straße in Nordkorea hat sie einen besonderen Namen und wird als „Straße der heroischen Jugend“ bezeichnet.
Dann wechselt er das Thema. „Hast du einen Laptop dabei?“ fragt er. „Nein“, entgegnete ich. Die Gefahr, dass auf meinem Laptop Dateien sind, die nicht nach Nordkorea gelangen dürfen, war mir zu groß. Die Frage an sich verwundert mich nicht. In den ersten drei Tagen hat er mir viel persönlichere Fragen gestellt. Mein Reiseleiter, selbst 35 Jahre alt, verheiratet und Vater eines fünfjährigen Sohnes, wollte nicht nur meinen Familienstand wissen. Meine Wohnungsgröße, die Anzahl meiner Kollegen, Hobbys, mein Lieblingsfußballverein – interessant war alles. Auch, weil ich aus einem Land komme, das er selbst nicht bereisen darf. Nur Nordkoreanern mit Diplomatenpass ist es erlaubt, das Land zu verlassen. Fast allen übrigen Menschen ist nicht nur das Reisen außer Landes verboten, auch im Land selbst kommen sie kaum herum. Wer auf dem Dorf geboren wird, stirbt in der Regel auch dort.
Leben in der Hauptstadt ist der Jackpot
Nordkorea ist ein geschlossenes System, hier werden Autos gebaut und Tabak geerntet; hier sind Fernsehnachrichten meist eine Abfolge eingeblendeter Fotos, im Abendprogramm werden sowjetische Filme aus den Siebzigern gezeigt. Wer drei Ziegen hat, gilt auf dem Land als reicher Mann. Das Leben in der Hauptstadt ist der Jackpot.
„Ich habe nur zwei MP3-Player mit deutscher Musik dabei“, erkläre ich. „Helena Fischer?“, fragt mein Reiseleiter sofort und beugt sich neugierig zu mir nach vorne in Richtung Beifahrersitz. „Die heißt Helene“, korrigiere ich lachend. „Atemlos durch die Nacht?“ „Ja, das ist auch drauf“, erkläre ich. Höflich fragt er, ob er einen der MP3-Player haben dürfe. Ich krame einen aus meinem Rucksack und reiche ihn nach hinten. Das werde ich ab diesem Moment bei jeder weiteren Autofahrt tun.
Mein Reiseleiter hört den Fischer-Hitmix in Dauerschleife und ich in dieser Zeit keine Propaganda mehr. Er bittet mich sogar, ihm die Texte von „Atemlos durch die Nacht“ und „Phänomen“ aufzuschreiben. Von da an sitzt er nun hinter mir mit meinen Kopfhörern, hört Helene Fischer und singt mit Spickzettel in der Hand leise mit.
An seine Schwäche für deutschen Schlagerpop gewöhne ich mich genauso wie an die ständigen Stromausfälle während meiner Reise. Im Hotel der Stadt Kaesong geht plötzlich abends das Licht aus, als ich gerade im Bad bin. Erst nach zwanzig Minuten habe ich wieder Strom. Tage später im Hotel am Rande des Myohyang-san, übersetzt Berg der geheimnisvollen Düfte, bleibt der Fahrstuhl stehen und es wird dunkel um mich herum. In der schwarzen Stille denke ich an die große Parade zum „Tag der Sonne“, bei der sich – wie jedes Jahr am 15. April – auf dem monumentalen Kim-Il-Sung-Platz 5000 Studentinnen und Studenten synchron zur Musik bewegten. Es gibt hier keine Individualität. Nichts, was zu Romantisieren gerechtfertigt wäre. Aber die meisten Menschen scheinen glücklich und zufrieden. Liegt das daran, dass es die Menschen hier nicht anders kennen? Oder womöglich doch daran, dass es gar nicht so viel braucht, um glücklich zu sein? – Nach zehn Minuten ist wieder Strom da, der Fahrstuhl fährt weiter, das Leben geht weiter.
Am letzten Abend meiner Reise singen wir auf der Fahrt vom Restaurant ins Hotel in Pjöngjang zusammen laut „Atemlos durch die Nacht“. Ich blicke auf die großen, spärlich beleuchteten Wohnblocks, an denen wir vorbeifahren. Der Fahrer drückt eine Taste seines CD-Players, traditionelle koreanische Musik erklingt. Offensichtlich mag er Helene Fischer nicht. Oder unseren Gesang. Das Auto fährt vor das Hotel, wir verstummen abrupt. Der Abend ist zu Ende. Morgen wird auch mein Abenteuer Nordkorea zu Ende gehen. Ich freue mich. Und könnte doch auch noch bleiben. Ich habe ja die Wahl, denke ich beim Aussteigen. Es ist gut, diese Freiheit hin und wieder so deutlich zu spüren. Diese Freiheit – vor der Reise habe ich sie viel zu wenig geschätzt.
Vorträge
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