Editorial
Ins Licht
Mit Litauen begann der Marsch nach Osten
Erst wenige Tage sind vergangen, seit staatliche Institutionen und Medien in ganz Europa an den Überfall von Nazi-Deutschland auf die Sowjetunion erinnerten. Das „Unternehmen Barbarossa“ begann vor 80 Jahren. Doch die allermeisten vergaßen zu erwähnen, was wir immer vergessen: Litauen. Denn nicht mit der Sowjetunion begann der Marsch nach Osten, sondern mit Litauen, unserem vergessenen kleinen Nachbarn, der zu diesem Zeitpunkt als Folge des Hitler-Stalin-Paktes von 1939 von sowjetischen Truppen besetzt war.
Angesichts der Tatsachen, dass Litauen einst für mehrere Jahrhunderte ein Großfürstentum bildete, das in seiner größten Ausdehnung von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte, dass wir zahlreiche spannende Berührungspunkte in Geschichte und Kultur haben, dass es seit 17 Jahren Teil der EU und der Nato ist, dass Litauen nicht nur aus geopolitischer und geostrategischer Sicht eine immer wichtigere Rolle in der Welt einnimmt, sondern sich auch immer mutiger in der Weltpolitik positioniert – zuletzt gegen China und Russland –, erstaunt es doch, wie wenig wir uns mit unserem aufstrebenden Nachbarn im Osten beschäftigen. Zum Auftakt unserer Titelstrecke zeichnet der renommierte litauische Historiker Vejas Gabriel Liulevicius den langen Weg zur Freundschaft nach. Sein Beitrag schließt mit dem Hoffnung stiftenden Ausblick, der Geist der deutsch-litauischen Beziehungen sei noch nie so positiv und vielversprechend gewesen wie heute.
Das wohl dunkelste Kapitel der gemeinsamen Geschichte bildet das der litauischen Juden. Litauens Hauptstadt Vilnius galt noch vor 100 Jahren als Jerusalem des Nordens, hier schlug das Herz des intellektuellen Judentums Osteuropas. Doch dann kamen die Sowjets, die Deutschen und wieder die Sowjets – und Hunderttausende Juden fielen den Regimen zum Opfer. Über die Schuldfrage des Holocausts auf litauischem Boden und über die Frage, welchen Anteil die litauische Bevölkerung selbst daran hatte, werden bis heute heftige erinnerungspolitische Debatten geführt. Alvydas Nikžentaitis und Joachim Tauber schreiben über das jüdische Litauen, über den Partisanenkrieg, der bis in die 1950er Jahre andauerte, über Narrative des Widerstands und die langen Schatten des Holocausts.
30 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung, der zweiten nach 1918, deutet vieles im Land auf eine positive Zukunft hin: Gerade in den Großstädten Vilnius und Kaunas ist der Geist einer aufstrebenden, selbstbewussten Generation nicht zu übersehen, wovon Literatur, Musik, zeitgenössische Kunst und Design eindrucksvoll zeugen. Juste ̇ Jonutyte ̇, eine junge Kuratorin aus Vilnius, beschreibt die neue Avantgarde: Mit einer neuen Generation von Künstlern, Designern und Köchen könne sich Litauen zu einem Kreativzentrum Europas entwickeln.
Marei Aljasem ist endgültig angekommen in Deutschland. Er hat deutsche und arabische Freunde, ist verlobt, spricht beinahe fließend Deutsch, hat die Kultur aufgesaugt, kann guten von schlechtem Wein unterscheiden und – nimmt wie selbstverständlich an rotarischen Meetings und Clubreisen teil. Doch bis hierher war es ein weiter Weg. Als er im Oktober 2015 im Alter von 17 Jahren auf abenteuerliche Weise von Syrien nach Deutschland kam, brauchte er Glück, einen eisernen Willen und Volker von Courbière vom RC Köln-Bonn-Millennium, um Fuß zu fassen. Glücklicherweise ist Mareis Märchen kein Einzelfall. Dank des großherzigen und nachahmenswerten Engagements vieler einzelner Rotarier, Clubs und Distrikte erhielten weitere junge Menschen eine zweite Chance. Sechs ausgewählte bewegende Schicksale finden Sie in unserem Fokus.
Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Björn Lange
Chefredakteur
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