Warum die CDU den Konservatismus verliert
Modern zur falschen Zeit
Das Jahr 2014 brachte gleich zwei neue politische Kräfte hervor: Während die Alternative für Deutschland (AfD) die Parteienlandschaft durcheinander wirbelte, formierten sich auf den Straßen Dresdens und andernorts Demonstranten unter dem Namen »Pegida«. Die Beiträge dieses Magazin-Specials widmen sich – auf durchaus unterschiedliche Weise – einzelnen Aspekten dieser Erscheinungen und versuchen sich an einer Deutung ihrer Ursachen und Folgen.
Der große Gewinner in der Parteienlandschaft im Jahre 2014 war die Alternative für Deutschland (AfD). Sie wurde in kürzester Zeit zur Vertretung all jener „Wutbürger“ insbesondere rechts der Mitte, die sich im bisherigen Parteien- und Parlamentsspektrum nicht mehr vertreten sahen, jedoch auch nicht zu einer der extremistischen Parteien überlaufen wollten. Obwohl die AfD aus allen politischen Lagern Wählerstimmen absorbierte, wurde ihr rascher Erfolg vor allem dadurch ermöglicht, dass die CDU, die nach den Worten ihrer Vorsitzenden von jeweils einer sozialen, wirtschaftsliberalen und christlich-konservativen Säule getragen wird, die letztere in den vergangenen Jahren arg vernachlässigt hat.
Die Konservativen in der Bundesrepublik Deutschland (mit Ausnahme Bayerns) fanden ihre Heimat jahrzehntelang in der CDU. Allerdings sind die Christdemokraten schon lange nicht mehr sicher, ob sie überhaupt noch konservativ sein mögen. Vor allem: Sie können weder sich noch anderen plausibel erklären, was denn heutzutage die Schlüsselvorstellungen und Leitideen eines zeitgemäßen Konservatismus sind. Schon vor Jahren, in der Partyzeit des fröhlichen anything goes, fragten sie sich mindestens still und heimlich, ob konservative Politik überhaupt noch erstrebenswert sei und in der breiten Bevölkerung auf Bedarf stoße. So wurde der Konservatismus in der großen Partei des deutschen Bürgertums zur Leerstelle.
Natürlich datiert die Krise des Konservatismus nicht erst seit dem Abgang von Kohl und dem Entre von Merkel. Im Grunde hatte es diese Richtung schon in den gesellschaftlich aufgewühlten Jahrzehnten zwischen 1870 und 1945 schwer, sich als Idee und Konzept im rechtsbürgerlichen Spektrum zu behaupten. Die Nation war jung, und auch in der Gesellschaft dominierten die jugendlichen und jungerwachsenen Kohorten. Gegenüber den Massenbewegungen mit ihrem Heilsverlangen – radikale Sozialisten, aggressive Alldeutsche und Antisemiten oder exzentrische Lebensreformer – wirkte der Konservatismus verstaubt, altväterlich, behäbig, lahm. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war die bürgerliche Jugend nationalimperialistisch und später radikalfaschistisch, jedoch keineswegs konservativ.
Das Ruhebedürfnis eines erschöpften Volkes
Seine einzige Hochzeit erlebte der Konservatismus während des 20. Jahrhunderts nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus. Konservative haben es immer dann schwer, wenn der Geist der Zeit auf Zukunft, Moderne, Innovationen, Reformen usw. gepolt ist. Nach den turbulenten Jahrzehnten der sozialen Unruhen, Krisen, Vertreibungen, nach Kriegen und Vernichtungen waren die Deutschen müde und der großen Versprechen überdrüssig, zu politischen Aufbrüchen ganz und gar unwillig. Sie suchten vielmehr nach Entlastung. Deshalb überantworteten sie sich dem Patriarchen im Bundeskanzleramt, Konrad Adenauer, der Ruhe, Sicherheit, Experimentenlosigkeit und die christliche Gnade der Vergebung für schuldhaftes Verhalten versprach. Kurzum: Es herrschte ein mentaler Konservatismus eines ruhebedürftigen, politisch erschöpften Volkes; es ging nicht um großartige konservative Weltanschauungen, nicht etwa um Ideen von Preußentum, aristokratischer Kultur oder ständischer Ordnung.
Zwei Jahrzehnte später hatte der neuliberale Einstellungswechsel in der CDU und im gewerblichen Bürgertum die altkonservativen Fundamente ins Wanken gebracht. Und spätestens seit 1989 waren es nicht mehr die sozialistischen oder kommunistischen Feinde, die die konservative Lebens- und Wertewelt unter Beschuss nahmen. Jetzt waren es vielmehr die Avantgardeure des wirtschaftlichen Liberalismus im bürgerlichen Lager selbst, die den überlieferten Institutionen, Bräuchen und Kulturen unsentimental den Garaus bereiteten. Der globalisierte Kapitalismus ließ wenig Raum noch für die alten Heimaten, wenig Zeit noch für die konventionelle Familie, wenig Souveränität noch für den überkommenen Nationalstaat, wenig spirituelle Orte für das christliche Mysterium. Der bürgerliche Neuliberalismus untergrub die altkonservativen Bindungen.
Und noch aus einem anderen Grund verlor der Konservatismus in der CDU in den letzten zwei Jahrzehnten mehr und mehr an Boden. Die neue, nachgewachsene christdemokratische Parteielite goutierte nunmehr – wie die stets beneideten 68er – auch die Vorzüge lockerer Individualität. Man wollte sich eben auch als christdemokratischer Regierungschef trauen, was in der rheinisch-katholischen Bonner Republik noch schlechterdings undenkbar gewesen wäre: zum Beispiel sich stolz mit einer neuen Lebensgefährtin in aller Öffentlichkeit zu zeigen, obwohl die vorangegangene Ehe – der „Bund fürs Leben“, wie es früher gerade im christdemokratischen Lager hieß – noch gar nicht offiziell geschieden wurde.
Angst vor den Grundsatzfragen
Ferner wollten auch nicht wenige Christdemokraten am Sonntagmorgen gern länger schlafen, selbst wenn das Glockengeläut zum Kirchgang rief. So verlor der Konservatismus in der CDU mehr und mehr an Boden. Für genuine Konservative und streng gläubige Katholiken kamen schwere Zeiten auf. Sie sollten einer Partei die Treue halten, die sich zunehmend selbst säkularisierte und von zahlreichen Traditionen gelöst hatte.
Mochte eine solche Liberalisierung der Partei für viele Mitglieder und Wähler fällig gewesen sein, führte dies doch zu einer spirituellen Leere. Deshalb aber scheut die CDU entscheidungsorientierte Diskussionen über die konstitutiven und hochumstrittenen Wertefragen von Politik und Gesellschaft. Sie fürchtet die Sprengkraft, wenn sich Konservative und Liberale, Traditionalisten und Modernisierer, Globalisierer und Heimatmenschen, Verlierer und Gewinner im Klein- und Großbürgertum über Normen und Ethiken des künftigen Zusammenlebens, also gleichsam auf ein gemeinsames Sinn-Menü, einigen müssten. Denn zu einer solchen Werteintegration ist das mehrheitlich verweltlichte und individualisierte Bürgertum in Deutschland kaum mehr in der Lage. Der große Konrad Adenauer fürchtete sich zum Ende seines Lebens genau davor: „Entweder wir sind eine weltanschaulich fundierte Partei“, mahnte er die Mitglieder des CDU-Bundesvorstandes im Juni 1965 beschwörend, „oder wir gehen heute, morgen oder übermorgen auseinander.“
Gewiss, mit der neuen demonstrativen Laxheit gegenüber kirchlich-christlichen Geboten schmiegte sich die CDU in den gesellschaftlich-kulturellen Gesamttrend ein. Denn insgesamt haben sich die nachwachsenden Generationen den institutionellen, kulturellen und normativen Prägungen der christlichen Großkirchen entzogen. Das wird in den nächsten zwei bis drei Jahrzehnten auch politisch und gesellschaftlich durchschlagen. Unter den 50- bis 59-Jährigen gibt es heute noch 30 Prozent, denen die christliche Orientierung einer Partei wichtig ist, bei den 16 bis 25 Jährigen sind das weit unter 10 Prozent. Gut jeder dritte Deutsche ist mittlerweile sowieso konfessionslos. Insofern muss die CDU auf Gebote und Mahnungen des institutionalisierten Christentums nicht mehr besonders viel Rücksicht nehmen – und sie tut es auch nicht.
Das gilt auch für die Repräsentanten der Wirtschaft, die sich selbst gern als Globalisierungselite verstehen. Konservativ ist diese Neubourgeoisie nicht. Aber auch nicht sonderlich politisch, vor allem nicht sonderlich treu gegenüber der Partei ihrer Eltern. So haben sich die Sphären der bürgerlichen Eliten aufgespaltet; ökonomische und politische Führungskräfte treffen sich nicht mehr in der gleichen Partei, im gleichen Verein, in der gleichen Geselligkeit; man teilt auch nicht mehr die gleichen sozialmoralischen Einstellungen und sozialethischen Auffassungen.
Verpasste Chance
Indes, seltsam ist das alles schon. Denn der Konservatismus in Deutschland verliert die Schlacht gegen den Modernismus in einer Zeit, in der dieser kulturell an Flair, Zauber und Attraktivität massiv einbüßt. In den Tiefenschichten der Gesellschaft wachsen die Bedürfnisse nach Bindung, Zuordnung, Sicherheiten, wenn man denn so will (der Verfasser will es nicht): nach Fahnen, Wimpeln, Gesang und Gemeinschaft. Kaum einmal in den letzten vierzig Jahren war das kulturelle Terrain infolgedessen günstiger für einen expliziten, selbstbewussten, aber auch klugen Konservatismus in Deutschland. Doch weiß die klassische Partei des Konservatismus damit nichts mehr anzufangen. „Jeder, wie er es für richtig hält“, heißt das schlichte Credo in Kreisen der Union. Reichen wird eine solche, ziemlich in die Jahre gekommene wurschtige Nonchalance für die Turbulenzen und Wertekonflikte der nächsten Jahre und Jahrzehnte nicht. Und daher wird die Union so schnell auch die Debatte mit neuen Parteien und Bürgerbewegungen, die danach suchen, was die Union nicht mehr geben kann und will, nicht mehr los.
Prof. Dr. Franz Walter ist ein deutscher Politikwissenschaftler und leitete von 2010 bis 2017 das Göttinger Institut für Demokratieforschung. 2018 erschien „Die SPD. Biografie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles" (Rowohlt Verlag).
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