Titelthema
Politik per Klick
In der modernen Marktdemokratie erwarten die Wähler von der Politik keine Haltung, sondern die Befriedigung ihrer Bedürfnisse. Oder sie wechseln den Anbieter.
Leicht hat es die politische Klasse in diesen Jahren nicht. Im Scheinwerferlicht der TV-Gesellschaft und vor dem Diktat rigider Transparenzansprüche der Foren- und Bloggerszene entblättert sich schneller denn je die Autorität politischer Leitfiguren. Hinzu kommen die Entwicklungen aus dem Inneren der demokratischen Marktgesellschaften selbst, welche die Handlungsfähigkeiten gerade auch des Parlamentarismus zurückdrängen. Die Marktdemokratien haben die Freiheit des Konsumenten entfesselt, wodurch allerdings auch das Politische aus der Sicht von Konsumenten betrachtet wird – launisch, ungeduldig, jederzeit fordernd. Der Kunden-Bürger schaut sich in den Regalen des politischen Angebots um, wählt aus, was seine Konsumbedürfnisse rasch und preiswert befriedet. Der Zeitrhythmus von Kunden ist ein anderer als derjenige vernünftiger Politik. Sobald der Bürger in seiner Rolle als Kunde sein Bedürfnis – per Klick – geäußert hat, erwartet er auch die sofortige Bedürfnisbefriedigung durch prompte Offerte. Solide Politik dagegen ist notwendigerweise an lange Fristen gebunden, gewissermaßen auf die innere Fähigkeit zum Aufschub angewiesen. Problemfindung, Erörterung, Bündnissuche, Konfliktaustragung, Konsensherstellung und Ausgleich dauern nun mal.
Der unzweifelhaft gestiegene Wunsch nach vielfachen Beteiligungen der Bürger an politischen Vorhaben verkompliziert den Entscheidungsprozess. Das wiederum erzürnt das Gros der Bürger, deren Ansprüche auf ein rasches, konzises und effektives Regierungshandeln ebenfalls angestiegen sind, was in der Vetogruppendemokratie, zu der der Teilhabeimpetus heterogenster Gruppen unweigerlich führt, schlechterdings nicht zu realisieren ist. Der Bürger, der es in seiner Rolle als Konsument gewohnt ist, dass sein je individuelles Bedürfnis prompt befriedigt wird, reagiert politisch verdrossen, da die Politik den Bürgern nicht geben kann, was diese als Konsumenten verlangen und als zivilgesellschaftliche Forderer zugleich verunmöglichen. Zusammen: Je heterogener die Bedürfnisstruktur von Gesellschaften ohne homogene sozialmoralische Vergemeinschaftung ausfällt, desto schwieriger gestaltet sich der Aushandlungsakt von Politik, die nur noch mühselig und inkohärent zusammenbinden kann, was die aufgesplitterte Gesellschaft an unterschiedlichsten Begehrlichkeiten an sie heranträgt und ihr abverlangt.
Ein breites Angebot
Zunächst einmal ist die Bewegung zum Vielparteiensystem Ausdruck von gesellschaftlich längst zuvor vollzogener Ausdifferenzierung, Demokratie und Modernität. Der gern reklamierte „Souverän“, der wählende Bürger mithin, will es nun auch politisch so, wie er es alltagskulturell seit einiger Zeit bereits kennt und praktiziert. Er mag sich nicht mehr auf die bipolare Alternative zwischen zwei mehr und mehr blass und diffus wirkenden Volksparteien beschränken. Schließlich ist die Gesellschaft insgesamt bunter geworden, heterogener, facettenreicher. Es war letztlich nur eine Frage der Zeit, wann sich das auch im Parteiensystem widerspiegelt – ein schönes Beispiel dafür, dass Politik in der Regel nicht pionierhaft vorangeht, sondern als sanktionsfähige Nachhut ratifiziert, was bereits geschehen ist.
Ein bisschen unorthodox jedenfalls geht es unzweifelhaft in den Werte- und Mentalitätssynthesen in weiten Bereichen der deutschen Gesellschaft mittlerweile zu. Das stellt Politik sicher vor mehr Problemen als noch vor vierzig, fünfzig Jahren. Doch bleibt die Kooperationsfertigkeit konstitutiv. Nur: Die Medien sind alles andere als Freunde einer funktionierenden Kooperationskultur. Medien ist vielmehr der Stil von Konkordanz – die Aushandlung in kleinen, informellen, verschwiegenen Kreisen zum Zwecke der Konsensbildung – regelrecht ein Dorn im Auge. Denn Medien brauchen für ihre Präsentation die Atmosphäre einer permanenten Kampfarena, sie brauchen Sieger und Verlierer, benötigen Gute und Böse, zelebrieren den (zwischenzeitlich) brillanten Helden und stellen die tragisch Gescheiterten ins Schaufenster. Die Logiken der Medien und der Kooperationsdemokratie laufen diametral auseinander: Medien lechzen nach dem Gewinner; in einer Koalition darf es jedoch den einen Gewinner im unverzichtbaren Kompromissbildungsprozess gar nicht geben, sonst scheitert das Bündnis. Es basiert auf einer Kultur der Einsicht, dass der Erfolg des anderen zwingend auch die Voraussetzung für den eigenen Erfolg ist, dass die beiderseitigen Anhängerschaften Opfer und Lasten des Regierens symmetrisch zu tragen haben.
Jetzt sind es bemerkenswerterweise die Granden der Wirtschaft, die rhetorischen Propagandisten ökonomischer Deregulierung und kräftig entbundener Freiheiten, die mit den neuen Komplexitäten in der Politik hadern und einförmigen Machtstrukturen hinterher jammern. In einer Gesellschaft indessen, in der die Rollen multipler werden, sich oft verschränken, eher kombinieren als ausschließen, in der viel darauf ankommt, dass man verschiedene Bereiche auf Zeit vernetzt und verwebt, Kommunikation zwischen den jeweiligen Systemen und Lebenswelten herstellt, für eine solche Gesellschaft taugt eher die Idee des komplexen Bündnisses als die der vermeintlich eindeutigen Politik aus einem Guss und nach einem Prinzip.
Notwendige Bündnisse
Doch ist es bislang nicht zu einem multiplen Bündnis in Berlin, in der Bundesregierung gekommen. Immer noch fiel etwa Ende 2017 hierzu der Satz, dass die „kulturellen Differenzen“ zu groß gewesen wären – als würde man eine gesinnungsbasierte Wohngemeinschaft beziehen wollen oder zusammen im Urlaub in inniger Verschmelzung miteinander auskommen, während politische Bündnisse doch eine aufgabenorientierte Zweckallianz zu sein haben. In Deutschland wurde Koalitionsbildung über Jahrzehnte als Allianz der verschiedenen Lebenswelten lediglich eines Lagers verstanden, als eine Art von Binnenintegration, nicht als die strategische Möglichkeit, komplementäre soziale und – ja – kulturelle Kräfte neu zu bündeln. Auch das wird in Zeiten, da Wähler früher noch als ehern erschienene Bindungen im Wahlakt sprengen, sich verändern – im politischen Raum indessen, wie ausgeführt, als Nachhut.
Freilich: In Bündnissen jenseits der Lager stecken auch erhebliche Aporien. In einer solchen Bündniskultur müssen die Parteien noch stärker ihre Eigenarten und Unterschiede abschleifen, werden sie sich noch weiter annähern, diffuser und unschärfer werden. Parteien und Politik könnten dadurch vollends ihre orientierende Kompetenz und Funktion einbüßen. Es weitet sich fortan erst recht das Feld für Propheten und Trompeter des hitzigen Appells, der sorglosen Heilsverkündung. Die Kumulation in der Mitte reproduziert unweigerlich den Bedarf nach politisch scharfkantigen Flankenparteien. Ein Vielparteiensystem verstetigt sich so.
Gewiss, unmittelbare Panik muss das nicht auslösen. Ein solches System ist – nochmals – Spiegel der sozialen und kulturellen Parzellierung, ist Ausdruck einer gewandelten Demokratie. Dabei erleben die Deutschen gerade eine demokratische Paradoxie. Und sie tun sich nicht leicht damit. Sie genießen, auf der einen Seite, die gewachsene Vielfalt an Marktoptionen und individuellen Rollenentscheidungen. Aber sie reagieren, auf der anderen Seite, verunsichert darauf, dass sich die gesellschaftliche Enthomogenisierung nun auch in das Parteiensystem übersetzt. Denn zersplitterte Parteiensysteme erschweren Kooperation und Koalition, auf deren Gelingen aber gerade fragmentierte Gesellschaften elementar angewiesen sind.
Die parlamentarischen Anführer in derartigen Breitbandregierungsbündnissen werden noch farbloser sein, werden noch weniger Kanten und Biss aufweisen, als es schon jetzt der Fall ist. Sind sie anders, wie es Christian Lindner gerne wäre, dann zerschlägt das solche Bündnisse mitunter (siehe die Jamaika-Verhandlungen 2017), bevor sie überhaupt zusammengefügt worden sind).
So paradox geht es im Politischen zu. Wir sind Zeitzeugen des evidenten Verfalls der politischen Großformationen. Die Bürger wollen sich dort nicht mehr einfügen, treten aus, kündigen ihre Gefolgschaft auf, fühlen sich von den weit geschnürten Politikpaketen der einst dominanten Volksparteien nicht mehr repräsentiert. Parteien haben in diesem Prozess bekanntlich an Ansehen erheblich verloren, die Gattung des Parteifunktionärs darf allzu viel Reputation nicht mehr erwarten. Aber gerade deshalb sind sie – und nicht die Bürger – für Regierungsbeteiligung und -ausübung noch ein Stückchen wichtiger geworden. Denn die vom Wahlbürger gewollte und durchgesetzte Zerfransung des Parteiensystems führt zu schwierigen Bündnisbalancen, die durch willensstarke, zielsichere, gar visionäre Charismatiker nicht zusammengehalten werden können. Stattdessen braucht man meist die leisen, elastischen, programmatisch durchaus indifferenten Mittler der Politik, die das tägliche Geschäft emsiger Kompromissbildung und geräuschloser Ausgleichshandlungen bereits früh in den Nachwuchsverbänden ihrer Parteien gelernt haben. Auch das ist so ein typisches Paradoxon. Die Relevanz der politischen Jugendverbände innerhalb der realen Jugendkohorten der europäischen Nationen ist im letzten Vierteljahrhundert drastisch zurückgegangen. Aber die Bedeutung der Herkunft aus den Führungsetagen dieser Jugendorganisationen für die Abgeordnetenkarrieren hat ebenso drastisch zugenommen.
Doch gerade deshalb wird das charismatische Bedürfnis aus den Gesellschaften nicht verschwinden, gerade da die Verhältnisse stets verwirrender, fortlaufend unübersichtlicher werden und weil ein Überangebot an Konvergenz den Bedarf nach Divergenz nun einmal fördert. Das erklärt den wachsenden Zuspruch für forsch auftretende, der Behäbigkeit der alten Parteistrukturen entstiegene Heilsgestalten zuletzt in etlichen Teilen Europas und weit darüber hinaus. Figuren und Formationen solcher Art werden somit künftig in schöner Regelmäßigkeit auftauchen, auch erhebliche Resonanz finden – aber dann verlässlich quer zu den prosaischen Ebenen des Regierungsalltags in heterogenen Kabinetten stehen. Das stimmige Projekt, die brillante Blaupause, der fulminante Chor des großen gesellschaftlichen Auf- und Umbruchs können daraus nicht hervorgehen, sondern oft genug disharmonische Vielstimmigkeit, die Wurstelei. Die Wähler selbst bewirken das, auch wenn sie ihr eigenes Geschöpf dann mit großem Missfallen betrachten und bekritteln.
Prof. Dr. Franz Walter ist ein deutscher Politikwissenschaftler und leitete von 2010 bis 2017 das Göttinger Institut für Demokratieforschung. 2018 erschien „Die SPD. Biografie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles" (Rowohlt Verlag).
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