Die freien Demokraten und das deutsche Bürgertum
Getrennte Wege?
So sehen Sieger aus“, sang am Abend des Bundestagswahlsonntags 2009 in Berlin die siegestrunkene freidemokratische Anhängerschaft in den eigens angemieteten Räumen des „Römischen Hofs“, als Guido Westerwelle die Bühne betrat. An den Tresen und Stehtischen der Lokalität herrschte rundum Zuversichtlichkeit, dass schon am Montag eine neue Politik ordnungspolitisch stringenter Marktwirtschaftlichkeit einsetzen würde. Denn nun war endlich die „Wunschkoalition“, das Mehrheitsbündnis von Bürgertum und Mitte, erreicht. Schon bald darauf indes war den bürgerlichen Menschen der Republik nicht mehr nach Triumphchorälen zumute. Vielmehr galt jetzt wieder das alte Lied vom Katzenjammer, der unweigerlich dem Rausche folgte. Soeben noch himmelhochjauzend duckten sich die Freien Demokraten nun zu Tode betrübt, da Mokanzen aller Art über sie, die jetzt als „Mövenpick-Lobby“ und „Null-Themen-Partei“ allseits verhöhnt wurden, hereinprasselten. Nur: Weshalb hatte sich das Bürgertum hierzulande überhaupt in eine solche Euphorie hineinsteigern können, weshalb hatte man all die Deformationen im Liberalismus der letzten Jahre ausgeblendet, zumindest verniedlicht? All diese dröhnenden Exzesse, welche die FDP in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts überreichlich bot? Der große Historiker und Publizist Joachim Fest hatte in seinen Auseinandersetzungen mit den Vertretern der 68er-Generation immer an der Tugend der Skepsis, der Ernsthaftigkeit und des Maßes als elementare Kernbestandteile von Bürgerlichkeit gegen jede Form der Überspanntheit festgehalten. Folgte man Fest darin, dann ließ sich die FDP seit den spaßgesellschaftlichen Eskapaden des früheren Vorsitzenden Westerwelle im Grunde schwerlich noch als bürgerliche Formation begreifen. Mithin: Die FDP konnte allein dank der bemerkenswerten politischen Unreife des gewerblichen Bürgertums – und mit Verlaub: unter den 6,3 Millionen Wählern der FDP von 2009 dürften auch nicht wenige Rotarier zu finden gewesen sein – in Deutschland so weit nach vorne kommen. Hernach war den Honoratioren ihr eigenes Tun und Handeln oftmals peinlich.
Verlust der Bürgerlichkeit
Vielleicht ist es tatsächlich der Schwund der traditionellen Bürgerlichkeit in der Gesellschaft schlechthin, welcher die FDP auf Abwegen gebracht hat. Zwar konnte man in den Feuilletons deutscher Gazetten während der letzten Jahre regelmäßig Beiträge über die „Renaissance der Bürgerlichkeit“ lesen. Doch mindestens ebenso viel sprach und spricht dafür, dass sich das Bürgertum, wie man es gekannt hatte und wie es über vierzig Jahre in der Bundesrepublik politisch prägend war, als eindeutig charakterisierte Sozialformation eher in einem Auflösungsprozess befindet. Als politische Einheit wurde dieses Bürgertum lange geformt und zusammengehalten durch die antibürgerlichen Gegner – überwiegend im Spektrum der radikalen Linken. Hinzu kamen kulturell einheitsstiftende Werte wie Fleiß, Arbeitsdisziplin, humanistische Bildung, Distinktion, Diskretion, Sparsamkeit, auch die Orientierung auf die Familie, die Nation, lange auch das Protestantische, zuweilen regional auch ein Schuss Laizismus. Diese Bürgerlichkeit ist weitgehend Vergangenheit. Der alte linke, militant agierende Gegner ist fort; die herkömmlichen bürgerlichen Werte sind durch eine amorphe und instabile Neumittigkeit ersetzt, in der weder Diskretion noch humanistische Bildung, weder Heimat noch Religion eine tragende Rolle spielen. Renate Köcher hat vor einiger Zeit bereits auf den grundlegenden Wandel der Interessenorientierungen im Generationenwechsel hingewiesen: Nahezu alles, was „mit dem klassischen Bildungskanon“ verbunden sei, finde „heute weniger Aufmerksamkeit“, während das, was „zur Optimierung von Beruf, Kaufentscheidungen und Privatleben“ beitrage, verstärkt auf Interesse stoße. In einer solchen Schwundstufe überlieferter Bürgerlichkeit konnten Schaumschlägereien à la Westerwelle, hemmungslose Regelverletzungen à la Möllemann, lässige Arbeits- und Berufsprinzipien à la Koch-Mehrin reüssieren.
Einige Jahre schien ausgerechnet all dies, Voraussetzung für einen neuen, weniger an traditionellen Formen orientierten Liberalismus zu sein. Nur: Die nachwachsenden, von der herkömmlichen Sozialmoral entbundenen Bürger dieser Façon taugen nicht recht für die verbindliche, zähe, langwierige Politik, zumindest nicht für Parteien. Denn Parteien bedürfen fester Rituale, benötigen verbindliche Normen und basieren auf gemeinschaftlichen Strukturen. Der entbundene Bürger und der auf ihn setzende Neuliberalismus gibt sich jedoch durch und durch individualistisch. Insbesondere innerhalb der jungen ökonomischen Führungsgruppen existieren jedenfalls nicht mehr viel Sinn oder Verständnis für die politischen Anstrengungen der Integration, für die Mühen und Zeitaufwendigkeit der Kompromissbildung. Die Parteien agieren ihnen zu langsam, zu umständlich, zu inkonzise, zu konsensdurchwirkt. So aber konnte und kann nicht heranwachsen, was die Freien Demokraten am dringendsten benötigen: eine neue liberale, in außerpolitischen Berufen gestählte und erfahrene, im übrigen (endlich) auch erheblich femininere Führungsschicht in der Politik.
Entflechtung von Politik und Wirtschaft
Im Gegenteil: Das junge Wirtschaftsbürgertum löst sich mehr und mehr aus der politischen Sphäre insgesamt. Ökonomische und politische Eliten verkehren infolgedessen mittlerweile in je eigenen, voneinander getrennten Lebenswelten. Über Jahrzehnte waren die Zusammenkünfte im Alltag noch vielfältig, hatte man sich in den gleichen Organisationen getroffen und ausgetauscht. In früheren Jahrzehnten konnte es sich für Männer in der Wirtschaft noch lohnen, zumindest maßvoll politisch aktiv zu sein. Doch das ist Vergangenheit. Die ökonomischen Globalisierungseliten brauchen keine Parteien als flankierende Stützen für berufliche Möglichkeiten. Überdies: Die neuen Führungsgruppen der Wirtschaft verfügen gar nicht mehr über hinreichend Zeit für Politik. An die Spitze der politischen Ortssektion kommt allein der Sesshafte, der in seiner Stadt allzeit präsent ist. Kaum ein ehrgeiziger Nachwuchspolitiker wäre daher bereit, die Heimatuniversität auch nur für ein Semester zu verlassen, weil man nach halbjährlicher Absenz sich der mühsam zusammengestellten innerparteilichen Hausmacht nicht mehr gewiss sein könnte. Zeit ist für Politik die entscheidende Quelle von Einfluss- und Machtbildung schlechthin: für den Info-Tisch, für die Ortsverbandsversammlungen, die Stadtratssitzung, die zahlreichen Kommissionen, für Schützenfeste und Wanderungen mit dem Heimatverein. Jungen Wirtschaftsbürgern fehlt es in der Regel an einem solchen üppigen Zeitbudget. Sie pendeln zwischen den „Wirtschaftsstandorten“ mit dem ICE, wenn der Ortsverband Entscheidungen trifft und im Anschluss daran zum gemütlichen Teil übergeht. Dadurch aber hat die Politik der Freien Demokraten an Flechtwerken und Erfahrungsorten in Gesellschaft und Wirtschaft eingebüßt.
Konsequenzen
Was bedeutet das nun für Deutschland und die FDP? Die linksliberale bürgerliche Mitte hält es derzeit mit der Partei der Grünen. Allerdings haben die Modernisierungsströme der letzten Jahrzehnte nicht nur links-libertäre Wertemuster begünstigt, sondern darauf reagierende, sich abgrenzende Einstellungswelten hervorgebracht. In diesen mittelständischen Milieus findet man tiefe Skepsis gegenüber den großen Volksparteien, aber erst recht großen Verdruss über Grüne und ihre Ökopredigten sowie erheblichen Ärger über hohe Abgabenlasten und den ihnen zu teuren Wohlfahrtsstaat. Die Frustrationen dort wachsen; vor allem, da sich während der letzten Monate alles um die Grünen, die Partei der höheren Beamten, drehte. Elogen auf die Grünen schüren geradezu den Unmut bei einigen Handwerkern, etlichen Kleinunternehmern, nicht wenigen Freiberuflern. Dabei sehen sich gerade die Mittelständler als die wahren Fleißigen im Land, als die Leistungsträger und Melkkühe der Republik. Als sie im Herbst 2009 den Freidemokraten ihre Stimme gaben, taten sie das gewiss nicht, um damit Karl Hermann Flach nach vierzig Jahren politisch zu rehabilitieren oder einem „mitfühlenden Liberalismus“ den Weg zu bahnen. Der freidemokratische Mittelstand votierte für die FDP, damit deren Spitzenleute aus dem Kabinett heraus durchsetzen mögen, was sie zuvor wahlkämpfend mit Aplomb postuliert hatten. Als in der Folge allerdings nichts von alledem steuer-, gesundheits- und arbeitsmarktpolitisch realisiert wurde, was zuvor angekündigt worden war, reagierten die Zahnärzte, Immobilienmakler und Finanzberater wütend mit Gunstentzug – bis heute. Der ZEIT-Autor Matthias Geis hat schon recht: Wenn die Freien Demokraten noch eine Chance haben wollen, dann liegt sie in der „seriösen Erneuerung ihres wirtschaftsliberalen Ansatzes. Im Grunde müssten sie sich nur ernsthaft und glaubwürdig auf die Daueraufgabe einer konsequenten Haushaltskonsolidierung sowie die Reform der sozialen Sicherungssysteme verpflichten. Die Originalität eines solchen Vorhabens resultierte allein aus der Energie, es wirklich umzusetzen.“
Prof. Dr. Franz Walter ist ein deutscher Politikwissenschaftler und leitete von 2010 bis 2017 das Göttinger Institut für Demokratieforschung. 2018 erschien „Die SPD. Biografie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles" (Rowohlt Verlag).
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