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Titelthema

Im chronischen Zwiespalt

Titelthema - Im chronischen Zwiespalt
Bündnis mit vielen Wurzeln: Als die Grünen 1979 entstanden, vereinten sie in ihren Reihen so unterschiedliche Charaktere wie den Künstler Joseph Beuys, die Friedensaktivistin Petra Kelly oder den konservativen Umweltschützer Herbert Gruhl © Ullstein Bild/Kucharz

Vierzig Jahre nach ihrer Gründung schwanken Europas Grüne noch immer zwischen großen Triumphen und herben Niederlagen

Franz Walter01.05.2019

Die Geschichte des 20. Jahrhunderts war seit 1973 die Geschichte einer Welt“, schrieb der Sozialhistoriker Erich Hobsbawm, „die ihre Orientierung verloren hat.“ Zumindest schwanden seither viele Gewissheiten aus den industriegesellschaftlichen Blütejahrzehnten. Denn nun bildete sich etwas Neues heraus, in der Ökonomie, in den gesellschaftlichen und kulturellen Werten und in den Formen, wie junge Menschen politisch aufbegehrten. Als Partei dieser neuen Sozialformen entstanden damals die Grünen. Im März 1979 – vor 40 Jahren also – traten sie erstmals bei einer Europawahl als Vereinigung an.

Bisher unartikulierte Probleme von historischer Reichweite (die Ökologie) tauchten auf, die von den bislang etablierten Kräften nicht rechtzeig in ihrem Ausmaß erkannt und politisch verarbeitet wurden. Die neuen Akteure kämpften (wie in der Schweiz) gegen Straßenbauprojekte oder (wie in Österreich) gegen Atomkraftwerksbauten oder (wie in Deutschland) gegen Atomwaffen und „Schnelle Brüter“. Wie die Protestbewegungen des 19. Jahrhunderts fügten sich die jungen Rebellen der 1970er Jahre zu Milieus zusammen, siedelten in besonderen städtischen Wohnquartieren, pflegten einen spezifischen Jargon und Habitus, spendeten sich gegenseitig emotionale Wärme in Wohngemeinschaften und Alternativkneipen, kauften in rot-grünen Buchläden und ließen sich bei Rechtsauseinandersetzungen von Anwaltskollektiven ihrer Couleur vertreten.

Vom Bewegungs- zum Statusmilieu
Im Laufe der 1980er Jahre wurden die Rebellen nicht nur älter, sie wechselten auch vom Studium in den Beruf, begannen Familien zu gründen und Kinder zu bekommen. Das dämpfte allmählich die wilde Protestenergie der Jugendjahre. Das Bewegungsmilieu von ehedem wandelte sich peu à peu in ein unverkennbar arriviertes Statusmilieu. Der basisdemokratische Furor der Entstehungszeit verebbte, in den 1990er Jahren lautete der Slogan jetzt: Professionalisierung von Strukturen und Entscheidungsprozessen. Auch verlor die oppositionelle Marginalität im parlamentarischen System an Reiz. Den politischen Mandateuren, beruflich mittlerweile vielfach in gehobenen, gestaltenden Positionen tätig, bereitete es kein Vergnügen mehr, folgenlose Anträge aus dem parlamentarischen Abseits zu formulieren. Sie wollten mitregieren, die politische Macht nutzen, um ihre ökologischen und bürgerrechtlichen Projekte nicht nur zu propagieren, sondern auch real umzusetzen. Als Koalitionspartner boten sich anfangs primär Sozialdemokraten, Sozialisten und Rest-Kommunisten an, welche im Laufe der 1980er Jahre ebenfalls ökologische, feministische, linksliberale Teilaspekte in ihre Programme aufgenommen hatten.

Doch die reale Rückkehr der sozialen Frage in Europa nach 1990 erschwerte zunächst den weiteren Aufschwung grüner Parteien. Sie galten zu sehr als Bürgerkinder, als Teil einer besserverdienenden, akademisch parlierenden Lebenswelt. Ihre postmateriellen und kosmopolitischen Losungen wirkten auf diejenigen, deren Jobs durch die wirtschaftliche Baisse und als Folge neuer Konkurrenz von Arbeitskräften aus Ost und Mitteleuropa verloren gegangen waren, als abgehobene Attitüde privilegierter Moralisten. Dazu: Die grüne Anhängerschaft schmollte schnell, wenn ihren politischen Repräsentanten in den Kabinetten nicht gelang, was sie zuvor oppositionell vollmundig versprochen hatten.

Mit 1989/90 kamen im Osten des Kontinents neue ökologische Parteien mit einem ganz anderen Hintergrund von Erfahrungen und Motiven hinzu. Grün-alternative Milieus wie in den mittel- und westeuropäischen Großstädten hatten sich auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nicht entfalten können. Hier reüssierten Grüne eher in ländlich-konservativen Regionen. Gleichwohl gelang es den Grünen in einigen Ländern (Lettland, Estland u.a.), erstaunliche Ergebnisse zu erringen. Andererseits gab es auch im westlichen Europa regelrechte Diasporagebiete für grüne Bewegungen und Parteien. In Dänemark und Norwegen gelang ihnen nicht viel. In England behinderte das Mehrheitswahlrecht größere parlamentarische Erfolge. Und in den südeuropäischen Ländern wie Spanien, Griechenland und Portugal waren Umweltbewegungen auf denkbar wenig Resonanz und Interesse gestoßen. Hier blieb stattdessen der klassische Kapital-Arbeit-Konflikt höchst vital; hier sammelte sich der Protest junger Leute daher in erster Linie bei linkspopulistischen bzw. linkssozialistischen Formationen wie Syriza in Griechenland und Podemos in Spanien.

Triumphe und Abstürze
Die erfolgreichen Grünen hingegen zehrten von einem kunstvoll arrangierten Narrativ ihres Seins, gewissermaßen einer großen Erzählung, von der die klassischen Altparteien nichts mehr wissen wollten. Die Grünen boten Anhängern und Wählern nun vier Jahrzehnte lang eine Geschichte ihrer selbst, die gleichsam nach bewährten biblischen Motiven verlief und mehr und mehr als Geschichte auch der gesamten Republik erzählt wurde. Der Sündenfall: die Atomenergie. Die Propheten, die zur Umkehr aufriefen: Petra Kelly und andere. Die vielen Apostel: Bürgerinitiativen und Bunte Listen. Das Volk, das die Reise durch die Wüste der naturzerstörenden Profitwirtschaft antrat: Die Grünen. Das Kanaan: die Energiewende in einer Gesellschaft des „New Green Deal“. Solche Geschichten motivieren, binden, stiften eine unverzichtbare Aura für den politischen Erfolg. Wenn die traditionellen Parteien in Replik darauf grüne Themen adaptierten, dann – so eine neue Studie über Grünen-Formationen in 32 Ländern – verstärkte das die Resonanz grüner Parteien gar noch mehr.

Seit der Jahrhundertwende wurden auch Bündnisse mit den Liberalen und Konservativen nicht mehr ausgeschlossen. Besonders auf regionaler und kommunaler Ebene sind solche Allianzen während der letzten Jahre auf erstaunlich harmonische Weise zusammengekommen. Aber auch auf nationaler Ebene – etwa in Irland, Finnland, Tschechien, Lettland – sind Grüne bürgerlichen Regierungen beigetreten. Indes hat dies die früheren Protestparteien zugleich domestiziert, hat ihnen Kanten und Ecken genommen. Dort, wo dieser Kurs von den grünen Parteieliten zu weit vorangetrieben wurde, reagierten die Anhängerschaften nicht selten mit Abwendung oder Enthaltsamkeit im Wahlakt. So erlebten die Grünen in den letzten Jahren einige rasante Abstürze.

In Schweden war der „Miljöpartiet de Gröne“ 2010 noch gelungen, zur drittstärksten Partei im Reichstag zu avancieren. 2015 trat sie erstmals der Regierung (mit den Sozialdemokraten) bei, geriet dann aber in den Strudel von Krisen und landete bei den Reichstagswahlen 2018 bei lediglich 4,4 Prozent. Noch herber gerieten die französischen Grünen, die mit ihrer Führungsfigur Daniel Cohn-Bendit 2009 bei den Europawahlen glänzende 16,3 Prozent der Stimmen erzielt hatten. 2012 konnte die Partei nach den Wahlen 17 Abgeordnete in die Nationalversammlung entsenden und für zwei Jahre Minister im Kabinett mit den Sozialisten stellen. Nach den letzten Parlamentswahlen aber lag das Fundament der „Europe Écologie Les Verts“ ziemlich in Trümmern. Mit 2,9 im ersten und 0,13 Prozent im zweiten Wahlgang blieb den Grünen nur noch ein Parlamentssitz. Und im Vereinigten Königreich ist, seitdem alle über den Brexit reden und sich über die Zukunft von Wirtschaft und Wohlstand sorgen, die Bedeutung des Umweltthemas in der gesellschaftlichen Agenda drastisch gesunken– und dadurch auch das Interesse der Menschen an grüner Politik.

Auch in Deutschland hatten die temporären Höhenflüge bislang keine festen Fundamente. Im Oktober 2010 hatten die Grünen in den Umfragen der demoskopischen Institute schon bei 25 Prozent gelegen, Mitte März 2011 war dieser Anteil auf 15 Prozent zusammengeschmolzen, Anfang April dann auf 28 Prozent wieder hochgeschnellt. Einige Monate später pendelten sich die Werte dann bei rund 13 Prozent ein; die Bundestagswahlen 2013 trugen der Partei gerade 8,4 Prozentpunkte ein. Danach kletterte die Partei wieder rasch und für drei Jahre in den zweistelligen Bereich, bis der kurze Hype um Martin Schulz die zuvor zu zuversichtlichen Grünen demoskopisch auf sieben Prozentpunkte zusammenschmelzen ließ. Eine vergleichbar hohe Volatilitätsrate wiesen währenddessen nicht einmal die für solcherlei Schwankungen chronisch anfälligen Freien Demokraten auf. Insofern sollte man besser nicht so laute Gesänge über eine künftige glorreich grüne Volkspartei anstimmen.

In der Schweiz gingen in den letzten Jahren zwei von Grünen auf den Weg gebrachte Volksinitiativen – diejenige „Für eine nachhaltige und ressourceneffiziente Wirtschaft (Grüne Wirtschaft)“ sowie die „Für den geordneten Ausstieg aus der Atomenergie (Atomausstiegsinitiative)“ – verloren. Dramatisch nach unten verlief die Entwicklung in Österreich. Nach harten Wahlkampfmonaten feierten die Grünen dort im Dezember 2016 die Wahl ihres langjährigen Sprechers und parlamentarisch Klubobmanns Alexander van der Bellen zum Bundespräsidenten. Kaum ein Jahr später taumelten die Grünen durch die allertiefsten Täler. Von 12,4 Prozent im Jahr 2013 war die Partei im Oktober 2017 bei den Nationalratswahlen auf 3,8 Prozent der Wählervoten abgesunken und flog nach 31 Jahren aus dem Parlament.

Vorliebe für das Besondere
Doch auf eine generelle, gar künftig stetige Tendenz grüner Dezimierung weisen diese Beispiele nicht hin. So stiegen in den letzten Monaten die Umfragewerte grüner Parteien in Finnland, Belgien und auch der Schweiz wieder erheblich an. Vor allem erlebte die Niederlande mit ihrem dreißigjährigen Spitzenmann Jesse Klaver von GroenLinks einen neuen, smarten Shootingstar in der nationalen Parteienlandschaft, den holländischen Trudeau, wie es in der medialen Berichterstattung gern und oft hieß. Galt die grüne Partei zuvor schon als fast erledigt, konnte sie im März 2017 nach einem munteren, unkonventionellen Wahlkampf ihre Parlamentssitze nahezu vervierfachen. Im März 2018 wurde GroenLinks erstmals stärkste Partei in Amsterdam. Ein Jahr danach, im März 2019, konnte die Partei Klavers bei den Wahlen für die Provinzparlamente ihre Mandate mehr als verdoppeln und durfte sich neben der neuen Rechtspartei des Shooting Stars Thierry Baudet als Gewinner des Wettbewerbs im holländischen Vielparteiensystem fühlen.

Auch hier war auffällig: Gerade die Grünen, die einst mit antiautoritärer Verve sich allem Starkult verweigerten, brauchen den Charismatiker an der Spitze, um ganz große Wahlerfolge zu erreichen. Denn ihre Milieus verlangen nach dem Besonderen. Grüne Anhängerschaften aus den „kreativen Berufsgruppen“ lieben die Distinktion, zelebrieren die alltagskulturelle Differenz zum Durchschnitt, oder wie es bei ihnen heißt: zum Mainstream. Eben deshalb halten sie sich von den nivellierten, unoriginellen früheren Großparteien fern. Aber eine einfache Wählerschaft ist das für grüne Parteien nicht. Denn deren Bedürfnisse sind oft paradox genug. Sie erwarten von ihrer Partei ein bisschen Gesinnungsethik, aber nicht übertrieben viel davon. Sie finden warme Worte für die Partizipation der Basis, sind indes rasch verärgert, wenn dies zu Lasten effizienter Führung geht. Sie machen sich für eine strenge ökologische und menschenrechtliche Ethik stark, mögen mittlerweile jedoch nicht allzu gern mehr im Ruf des Moralismus und Asketentums stehen. Sie legen in ihren Äußerungen viel Wert auf sparsamen Energieverbrauch, aber als freie Individuen und Bürger beharren sie auf ihre regelmäßigen Urlaubsflüge in die fernsten Ecken dieser Welt.

Und auch das haben Werteforscher mittlerweile in der postmateriellen Klientel beobachtet: Das grüne Bürgertum hält zwar weiterhin an den Postulaten des Eigensinns, der Emanzipation, der Freiräume, der Partizipation fest, verbindet sie im familiären Alltag – gerade wenn Kinder zu erziehen sind – unterdessen mit Tugenden, die noch in den 1980er Jahren verächtlich als sekundär geschmäht wurden: Pünktlichkeit etwa und Verlässlichkeit. Der eigene Nachwuchs wird nachdrücklich zur Beachtung von Regeln angehalten.

Die Kernwählerschaft der Grünen ist sozial recht homogen, materiell arriviert, mittlerweile in die Jahre gekommen und nicht zuletzt deshalb eine gute Portion konservativer geworden. Anders als die alt-konservativen Milieus lebt die GrünenSympathisantenschaft zwar überwiegend nicht mehr auf dem platten Land und im kleinen Dorf, sondern in urbanen Siedlungsgebieten. Aber dort hat man sich gewissermaßen Dörfer im städtischen Umfeld errichtet, in denen es sich ruhig und sicher leben lässt, wo auch die besten Freunde in erreichbarer Nähe wohnen, wo sich die Geselligkeit im gewohnten, überschaubaren Raum abspielt, kurz: wo alles angenehm vertraut ist, fast wie in der guten alten Provinz. Allein für die Aura – man möchte partout nicht als Spießer erscheinen – weist man auf den großstädtischen Übergang, auf die Vielfalt, Lebendigkeit und Unübersichtlichkeit hin.

Auf schwankendem Fundament
Nur dort, „wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt“, wie ein früherer Vorsitzender einer anderen Partei gelegentlich die Schattenbereiche diesseits kosmopolitischer Schönwetteroasen charakterisierte, bezieht man lieber nicht die eigene Wohnung und schickt dort erst recht nicht die eigenen Kinder zur Schule. Insofern müssen grüne Parteien Moderatoren der Ambivalenz, auch der eigentümlichen Doppelmoral ihrer Klientel sein. Die menschenrechtliche Sonntagsrede darf nie fehlen; aber die spezifischen Interessen im Alltag der sozial privilegierten Anhängerschaft müssen dennoch beinhart vertreten, zugleich indessen mit geschickt gewundenen Sprachgirlanden bürgergesellschaftlich camoufliert werden.

Gelingt es grüner Politik nicht, diese Widersprüchlichkeiten und Selbstbetrügereien in der Lebens- und Deutungswelt ihrer Sympathisanten auszubalancieren oder zu verwischen, dann pflegen die arrivierten Libertären und Kreativen in den europäischen Metropolen sich kühl von der nunmehr als uncool betrachteten Partei abzuwenden. Mit solchem Liebensentzug ist hierzulande 2019 in einem denkbar freundlichen Medienumfeld nicht zu rechnen. Im Gegenteil. Aber das Plateau ihrer Hausse ist nicht so fest, wie manche Grünen in der gegenwärtigen Euphorie glauben.