Zur Darstellungsmisere der Sozialwissenschaften in Deutschland
Aseptisch gegenüber Leid und Glück
Woran liegt es, dass Philosophen so wenig Gehör finden? An einer ignoranten Umgebung? Oder nicht doch an Akademikern, die sich in Sprache und Habitus längst von ihrer Umgebung verabschiedet haben?
Wer kennt schon, wer liest noch Bücher von universitären Politologen? Auch Publikationen aus der Soziologie sind in der Regel nicht gerade Bestseller auf dem Büchermarkt der Republik. Etwas besser stehen die Historiker da. Hier hat sich der Anspruch der Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, verbindliche Deutungen der Vergangenheit zumindest für die bürgerlichen Schichten zu verfassen, gehalten, auch wenn die sozialgeschichtlich-theoretische Ära der 1960er bis 1980er Jahre die Leseneigung eines keineswegs kleinen Publikums zwischenzeitlich arg strapaziert und irritiert hatte.
Aber selbst der Doyen der bundesdeutschen Sozialgeschichte, Hans-Ulrich Wehler, ist – wenn er will – ein begnadeter polemischer Essayist. In den vergangenen Jahrzehnten ist das nicht selten vorgekommen. Und der historische Großinterpret des „Weges nach Westen“, Heinrich August Winkler, hat in einem wunderbaren Interview über seine geschichtsdidaktischen Anstrengungen als Lehrender an der Universität erklärt:
„Ich versuche in meinen Lehrveranstaltungen den Studierenden klarzumachen, dass sie stets so formulieren sollten, dass sie auch von Laien verstanden werden, und dass sie eines scheuen müssen wie der Teufel das Weihwasser, und das ist der Fachjargon (...) Im Übrigen beweisen uns angelsächsische, französische und italienische Historiker durch ihre Veröffentlichungen, dass Lesbarkeit in keiner Weise den Tiefgang einer Darstellung gefährden muss. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Verständlichkeit der Darstellung eher dafür spricht, dass ein Autor versucht hat, ein Problem zu Ende zu denken.“
»?Knecht der Mechanismen?«
Die Sozialwissenschaften hingegen sind überwiegend nicht so. Hier herrscht Abkapselung, eine fast sektenhafte Pflege und Dogmatisierung des eigenen Jargons. Das Gros der Sozialwissenschaften unterwirft sich seltsam devot, wie ein „Knecht der Mechanismen“ (Helmuth Plessner), den Imperativen der Methodik und theoretischen Ansätzen. Politikwissenschaftler insbesondere interessieren sich nicht für die möglichen Adressaten ihrer Untersuchungsresultate. Und so werden politologische Fachzeitschriften weder von Politikern noch von politischen Analysten und Kommentatoren anspruchsvoller überregionaler Zeitungen, schon gar nicht von politisch Interessierten, der Fachwissenschaft indes fern stehenden Bürgern gelesen. Man kann diese jedoch alle getrost beruhigen: Viel verpassen sie nicht.
Einige wenige nur haben die Misere in den letzten Jahrzehnten beklagt, besonders bitter Wilhelm Hennis, der fast verzweifelt die Frage aufwarf, warum wissenschaftliche Sprache „aseptisch gegenüber Leid, Schmerz wie Glück und Hochgefühl“ sei. Eine Antwort erhielt er von den übrigen Wortführern seines Fachs nicht. Währenddessen leugnen die Historiker gar nicht mehr, dass Geschichte nur anschaulich erzählen, begreifen und erklären kann, wer über Gespür und sprachliche Ausdruckskraft für Leid und Glück verfügt. Aber auch dort ist auffällig, dass es über rund zwei Jahrzehnte vorwiegend die Außenseiter ohne universitären Lehrstuhl waren, die das nötige Assoziationsvermögen besaßen, welche die Kunst der Literatur nicht aus der wissenschaftlichen Darstellung banden, für die der Klang und die Melodie eines Satzes nicht peripher war, für die sich im Stil auch die Substanz des Inhalts ausdrücken muss. Darin lag der bemerkenswerte Erfolg der Bücher von Joachim Fest, Sebastian Haffner oder Golo Mann begründet. Die Fachwissenschaft hielt ihnen gegenüber zu Lebzeiten erkennbar Abstand. Aber im kleinen Kreis, wenn man gleichsam „entre nous“ sprach, war Respekt und Anerkennung wohl zu vernehmen. Und man sah sich einiges von der Art ab, wie die Feuilleton-Historiker auch Strukturen der Geschichte über Schicksale, Ereignisse, Dramen sowohl ausleuchteten wie lebendig erzählten.
Die Politikwissenschaft und (weniger) die Soziologie blieben weiterhin bei ihrem Kult des Szientismus, fanden mehr und mehr Gefallen an der quantifizierenden Handwerkelei, schlimmer noch: an den mathematischen Modellen, die zeitgleich auch die Volkswirtschaftler zunächst faszinierten und schließlich blamierten. Ernsthafte Forscher zählten in aufwendigen, üppig ausgestatteten Verfahren, unter welchen Bedingungen nach Wahlen sich Koalitionen bilden würden. Nach Jahren intensiver serieller Datenerhebung konnte man stolz vermelden, dass Parteien sich dann zu Regierungsallianzen zusammenschließen, wenn sonst keine von ihnen am Wahlsonntag eine absolute Mehrheit erzielt. Und weiter: Größen des Fachs hatten mit streng empirischer Sorgfalt die Programme der Parteien durchforstet, um am Ende einer methodisch höchst elaborierten Studie als Befund zu verkünden, dass – etwa – die Grünen auffällig stark die Umweltpolitik betonen, die PDS – welche seinerzeit noch existierte – die Interessen der Bürger der neuen Bundesländer signifikant ins programmatische Visier genommen hatte. Die vordersten Plätze auf den Rankinglisten vermeintlicher Exzellenz sind einem mit dergleichen Trivialitäten gewiss.
Aber zurück zur Sprache der Sozialwissenschaften. Es ist gewiss recht fade, abermals eine Philippika gegen die 68er zu verfassen. Doch gerade sie, die sich doch als sehr links verstanden, haben den überlieferten Bildungsdünkel und das Distinktionsgebaren gegenüber den „unteren Schichten“ noch verstärkt. Darin waren sie ihren Vätern, mit denen sie Ende der 1960er Jahre im offenen Clinch lagen, keineswegs unähnlich. Die 68er liebten die Schriften von Adorno bis Marcuse, ebenso wie ihre Väter dem eigenbrötlerischen Philosophen der „Holzwege“, Martin Heidegger, den Altar bereiteten. Die raunende, esoterische, labyrinthische Sprache der „Frankfurter“ und „Freiburger“ gab ihnen, jung oder alt, das erhabene Gefühl apostolischer Eingeweihtheit. Der Dutschke-Generation bot die Beherrschung des Vokabulars der „Kritischen Theorie“ die Legitimation für den Avantgardeanspruch gegenüber dem profanen Rest „eindimensionaler“ Menschen. Mit dergleichen „pseudomagischen Schlüsselwörtern“, lautete bereits vor Jahrzehnten die Kritik von Jean Améry, versah man sich selbst mit der Allüre vermeintlicher Tiefsinnigkeit.
Verständliche Sprache
Demgegenüber wird man an den Philosophen und Nobelpreisträger Henri-Louis Bergson erinnern dürfen, der sehr eindringlich darauf bestanden hat, dass es keine noch so subtile philosophische Idee gebe, „die man nicht in einer jedermann verständlichen Sprache ausdrücken“ könne – und müsse. Doch hierzulande macht sich kaum jemand Gedanken darüber, wie man die Ergebnisse sozialwissenschaftlicher Projekte in zumindest gebildete Alltagskommunikation übersetzen kann. Didaktik hat an deutschen Universitäten keinen hohen Stellenwert. Nur wenige halten es für nötig und zweckmäßig, sich in die Lage, Mentalitäten, Erwartungen von möglichen Adressaten jenseits des Fachs hineinzufühlen, um so die eigenen Überlegungen zu verbreitern, früher hätte man gesagt: zu demokratisieren. Dergleichen gilt nachgerade als wissenschaftlich unwürdig. Nichts illustriert diese Gleichgültigkeit in Fragen der Didaktik und Vermittlung deprimierender als die Veröffentlichungen in sogenannten wissenschaftlichen Fachverlagen: Man hält viel billiges, eng beschriebenes Papier zwischen zwei unendlich tristen Buchdeckeln in den Händen. Gestaltung, Ästhetik, Anschaulichkeit – nichts davon interessiert. Und niemand stört sich daran, dass die verkaufte Auflage irgendwo zwischen 100 und 200 Exemplaren liegt, die dann ganz überwiegend unnachgefragt in Universitätsbibliotheken vor sich hin stauben.
Wir alle wissen, wie außerordentlich diffizil es ist, wissenschaftliche Komplexität didaktisch wirksam, zielgruppengerecht, dabei nicht zulasten der fraglos unverzichtbaren Differenzierung zu vermitteln. Diese – im Übrigen auch intellektuelle – Fertigkeit sollte mithin schon in der Wissenschaftsausbildung der Universitäten bewusst gepflegt werden, was allerdings partout nicht geschieht. Dabei müsste man mindestens darüber nachdenken, ob beispielsweise Promovierende nicht als Teil ihres Ausbildungsgangs bei Buchverlagen, Wissenschafts- oder Feuilletonressorts im medialen Bereich hospitieren sollten. Das würde jungen Wissenschaftlern übrigens auch die extreme Einseitigkeit ihrer Qualifikation nehmen, würde vielleicht den Horror mildern, der fast jeden Nachwuchswissenschaftler im Laufe der quälend einsamen Schreibtischjahre ereilt, irgendwann als schon mittelalter Mensch die ersehnte Professur nicht zu bekommen, im Grunde aber dann für alle anderen diesseits der Universität ganz und gar nicht zu taugen.
Zusammen: Es ist nicht gleichgültig, wie man als Forscher des Politischen schreibt. Es mindert nicht die Wissenschaftlichkeit, wenn die Zahl der Leser sich vermehrt. Es verringert nicht den Erkenntnisraum, wenn man neugierig schauend ins gesellschaftliche Feld geht, ohne stets ein bereits festes Analyseraster im Gepäck mitzuführen. Es kann frei machen, wenn man sich um „Anschlussfähigkeiten“ an „herrschende Lehren“ nicht schert. Und: Erkenntnisgewinn lässt sich nicht allein aus der Empirie seriell gewonnener Zahlenreihen ziehen. Man sollte auch neugierig schweifend assoziieren, sollte sich ruhig trauen, selbst nach Mentalitätsströmen in den Untergründen des gesellschaftlichen Fortgangs zu suchen, die man zunächst oft nur ahnen, ungefähr beschreiben, plausibel vermuten, nicht jedoch bereits final beweisen kann.
Prof. Dr. Franz Walter ist ein deutscher Politikwissenschaftler und leitete von 2010 bis 2017 das Göttinger Institut für Demokratieforschung. 2018 erschien „Die SPD. Biografie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles" (Rowohlt Verlag).
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