Europa in der Krise
Die demokratische Souveränität ist teilsuspendiert
In den 1970er Jahren war in den Kurs- und Rotbüchern der „neuen Linken“ viel von den „Legitimationsproblemen des bürgerlichen Staates und der Demokratie“ die Rede. Indes, das Gros der Wahlbürger lag seinerzeit mit der Demokratie und den staatlichen Einrichtungen der Bonner Republik keineswegs im unversöhnlichen Hader. Selbst die Parteien, das Parlament und die Bundesregierung standen nicht, wie gegenwärtig, auf den allerhintersten Plätzen der Beliebtheits- und Reputationslisten demoskopischer Institute.
In jüngerer Zeit aber haben sich die Einstellungen der Deutschen fundamental gewandelt. Die Akzeptanz vieler demokratischer Institutionen, besonders aber der Parteien und Regenten, ist nahezu erdrutschartig zusammengestürzt. So ist das Problem, das vor 40 Jahren noch keines war, derzeit zweifelsohne wirklich höchst brisant. Denn: Moderne Demokratien haben sich, gleichsam in paradoxer Reaktion auf gesellschaftliche Modernisierung und partizipatorischer Ausfächerung, mehr und mehr zu Verhandlungsexekutiven in verschlossenen Räumen und informellen Strukturen einer Oligarchie entwickelt. Die Arrangements der politischen Klassen mit anderen potenten Akteuren in Ökonomie und Gesellschaft ereignen sich zunehmend jenseits des parlamentarischen Ortes und seiner Kontrollmöglichkeiten.
Rhetorische Nebelkerzen
Erst recht gilt das für die Ebene der Europäischen Union. Dort vereinbaren die europäischen Eliten der Finanzmärkte und politischen Topetagen unter sich im Arkanum eine Politik, die sie hernach ultimativ – siehe Merkels herrisches Diktum „Scheitert der Euro, so scheitert Europa“ – als nicht erörterungsfähig gegen Kritik immunisieren. Mit ihren Fachkürzeln wie ESM oder EFSF halten sie das Volk schon semantisch auf Abstand. Selbst die Voraussetzungen und Ergebnisse der verhandlungsdemokratischen Aushandlungen werden zuletzt nicht mehr in einer agonalen Debatte der parlamentarischen Arena ausgetragen und dem Säurebad kontroverser Diskussionen ausgesetzt. Die zentralen Orte der repräsentativen Demokratie, die nationalen Parlamente, haben durch die Eurokrise ein weiteres Mal an Durchschlagskraft und Macht verloren. Die demokratische Souveränität ist teilsuspendiert, auch wenn das Bundesverfassungsgericht im Urteil über den Europäischen Stabilitätsmechanismus die Rechte des Bundestages hervorgehoben hat. Die „Nehmerländer“ im Eurodrama dieser Monate werden sozial ruiniert, stehen fiskalisch und in der Architektur der Sozialpolitik unter Aufsicht von Kontrolleuren der EU-Kommissionen. Aber auch die legislativen Institute in den „Geberländern“ haben große Teile ihrer autonomen Entscheidungsräume abgeben müssen. Sie haben zu exekutieren, was transnationale Eliten – die mit immer größerer Raffinesse und rhetorischen Nebelkerzen an institutionellen Strukturen und finanzpolitischen Mechanismen modellieren, welche sich der Prüfbarkeit durch die Wählerschaft entziehen – präjudizieren. Eben das aber trocknet die Legitimationswurzeln der Demokratie aus, deren inneres Ethos sich mehr und mehr mindert.
Die Parteien in Deutschland scheinen sich dem nicht zu widersetzen. Man muss Parteitage erlebt haben, auf denen „Europa“ als einer unteren mehreren Punkten auf der Tagesordnung stand. Das war jederzeit verlässlich der Moment, in dem die Delegierten und die journalistischen Beobachter ihre Kaffeepause nahmen. Das Gros der politischen Mandatsträger hat auf dieser Ebene transnationaler Entscheidungen längst resigniert, nimmt die eigene Einflusslosigkeit widerspruchslos hin. Statt der derzeit gern postulierten Partizipation ist Depolitisierung das politische Stil- und Herrschaftsmittel der Gegenwart.
So stehen wir jetzt, zumindest im internationalen Zusammenhang, unverkennbar vor dem Abschluss der klassischen parlamentarischen Epoche. Hinreichend bewusst aber machen wir uns das nicht. Von den Grundgedanken des Parlamentarismus – Öffentlichkeit, Kontrolle, der Widerstreit großer Ideen in den die Nation prägenden Debatten – ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Politiker wie Politologen pflegen eine solche Diagnose zwar zumeist lässig mit dem Hinweis zu kontern, dass mit derartig naiven Vorstellungen frühliberaler Demokratietheoretiker und Honoratioren des 19. Jahrhunderts die Komplexitäten von Gesellschaften des 21. Jahrhunderts eben nicht zu steuern seien. Doch warum kleiden sich die Politiker dann auf der politischen Bühne der Gegenwart noch in den Kostümen des 19. Jahrhunderts, um eine Rolle zu simulieren, die offensichtlich längst nicht mehr zeitgemäß ist? Hierdurch wird letztlich beides diskreditiert: der klassische Parlamentarismus ebenso wie das neuartige, der parlamentarischen Kontrolle entzogene Exekutivmanagement in Spezialinstitutionen.
Post-Parlamentarismus
Die europäischen Eliten setzen unverkennbar stärker auf das „Recht“ als auf „Volkssouveränität“. Während das demokratische Projekt bislang zumindest auf den nationalstaatlichen Raum verwiesen ist, haben sich rechtsstaatliche Regelungen und Strukturen mittlerweile längst internationalisiert. Für „Demokratien“ oder das „Regieren“ in nach-parlamentarischen Gesellschaften haben wir derzeit keine überzeugende legitimatorische Idee. Wie könnte die demokratische Organisation der vielzitierten Weltgesellschaft real aussehen? Wenn sich institutionelle Strukturen und Machtressourcen nicht finden lassen – und sie sind in der Tat schwer auszumachen –, um die Entscheidungseliten in den globalisierten Netzwerken demokratisch auszuwählen, zu kontrollieren und im Bedarfsfall zu ersetzen, wird die Frage nach der Berechtigung nicht-demokratischer Obstruktion nach langer Zeit auf die Tagesordnung kommen, was nicht unbedingt zivil und friedlich abgehen muss. Zumindest geht der gesellschaftliche Trend insgesamt keineswegs zu den flacheren Hierarchien, von denen in Managementseminaren in lichtdurchfluteten Wellness-Hotels gern die Rede ist, sondern zu einer massiven Zentralisation von Entscheidungsmacht. Begründet wird dies damit, dass in der Epoche der dynamischen Beschleunigung von Informationsvermittlung, Datenübertragung, Finanztransfers etc. Zeit für ausführliche Diskussionen und für pluralismusorientierte Abwägungen kaum bleibt. Nur: Die Politik, gerade die demokratische, gerät so ins Hintertreffen. „Entscheidungen stehen unter einem immer höheren Zeitdruck, der mit den zeitintensiven Willensbildungsprozessen in den Parlamenten nicht vereinbar ist“, konstatieren die Soziologen Henning Laux und Hartmut Rosa. „So wusste im August 2008 vermutlich nur ein Bruchteil der Parlamentarier (und Bürger), was ein ‚Leerverkauf’ überhaupt ist. Es ist daher nicht überraschend, dass sich zur politischen Bearbeitung der Finanzkrise in Deutschland nur ein äußerst kleiner Zirkel in Berlin zusammengefunden hat.“
Drohender Ausnahmezustand
Historiker haben häufig darauf hingewiesen, dass Transformationsprozesse kaum konstruktiv zu steuern sind, wenn sich die großen gesellschaftlich-politischen Herausforderungen in einen engen Zeitraum miteinander verschürzen. Als negatives Vorbild fungierte bei ihnen für den unglücklichen Verlauf der jüngsten deutschen Geschichte die zeitliche Überlappung von Verfassungsgebung, Nationalstaatsbildung und der Sozialen Frage im neuen Industrialisierungsprozess – alles zusammen im dritten Viertel des 19. Jahrhunderts. Ein stabiles und ruhiges Selbstbewusstsein, das in den Turbulenzen des frühen 20. Jahrhunderts hätte Halt geben können, konnte sich so nicht entwickeln.
Derzeit aber lässt sich in Europa ein ähnliches Problemknäuel erkennen, in dem sich grundsätzliche Herausforderungen, die je für sich schon der Politik gewaltige Anstrengungen und kluge Koordination abverlangen, zeitlich ebenfalls verweben und dadurch gegenseitig erschweren: Die explosiven Turbulenzen auf den Finanzmärkten, die gigantischen Lasten staatlicher Verschuldung nicht zuletzt durch exzessives Bankenversagen, der Druck hin zu einem (nochmals: aber wie?) legitimierten, transnationalen Institutionengefüge in Europa, eine denkbar komplexe und schwierige Verfassungsdiskussion hierüber, dazu die extremen demographischen Disproportionalitäten in den nächsten drei bis vier Jahrzehnten, auch: die Konfrontation heterogener Kulturen und Religionen (etwa durch Migration) etc. Nicht selten wird eine solche Konstellation zur Stunde des „Ausnahmezustandes“, an dessen ungewöhnliche Interventionsmöglichkeiten die Träger der politischen Macht sich nur zu gerne gewöhnen und den sie durch dramatisierende Rhetorik zu verstetigen versuchen. Der Exekutive werden in den Zeiten des Notfalls außerordentliche Befugnisse eingeräumt. Die sonst sperrigen Institutionen dürfen übergangen werden. Schon immer gab es in der Außenpolitik solche historische Knotenpunkte, an denen die innenpolitischen Blockademächte nicht beteiligt waren und Macht sich zentralisieren konnte. In einem solchen „Weltenmoment“, wie es der Historiker Leopold Ranke nannte, kann man dann als politischer Anführer einer Nation Geschichte machen – doch diesmal könnte es die parlamentarisch-republikanischen Einrichtungen ernsthaft gefährden.
Denn: Eine Volksvertretung, die in Kernfragen nur ratifiziert, was in transnationalen Exekutiven unter höchstem Zeitdruck mit der gebieterischen Attitüde des Alternativlosen beschließen, wäre nicht mehr das, was sie eigentlich sein sollte: Die Hauptarena der politischen Willensbildung.
Prof. Dr. Franz Walter ist ein deutscher Politikwissenschaftler und leitete von 2010 bis 2017 das Göttinger Institut für Demokratieforschung. 2018 erschien „Die SPD. Biografie einer Partei von Ferdinand Lassalle bis Andrea Nahles" (Rowohlt Verlag).
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