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Politische Intellektuelle

Von Grass zum Blogger

Stecken die Dichter und Denker unserer Tage in einer Identitätskrise? Obwohl sich die Welt in einem permanenten digitalen Wandel befindet, obwohl alte politische Gewissheiten nicht mehr gelten, und obwohl die Naturwissenschaften regelmäßig neue Horizonte vermessen, gibt es kaum noch bekannte Groß-Deuter, die den Zeitgenossen den Lauf der Ereignisse erklären. Die Beiträge des Juli-Titelthemas begeben sich auf die Suche nach den Ursachen dieses Phänomens – und nach dem Platz des Intellektuellen in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts.

Franz Walter21.10.2014

Besonders erregt ist das Publikum nicht mehr, wenn ein Diskutant als Intellektueller, Querdenker, kritischer Mahner angekündigt wird. Die Pose des „J’accuse“, welche die Intellektuellen seit den Zeiten Emil Zolas bevorzugt einnahmen, war irgendwann in den 1980er Jahren, spätestens mit der Installierung von Internetforen trivial geworden. Im Netz stieß man nun Tag für Tag millionenhaft auf zornige, chronisch anklagende User. Die kritische, mindestens misstrauische Haltung, die einst couragierten Außenseitern vorbehalten war, wurde seither zur vorherrschenden Attitüde, zum rhetorischen Alltagsreflex des Mainstreams. Der anonyme Blogger ersetzte markante Typen wie Günter Grass.

An der Seite der Arbeiterbewegung

Der klassische Intellektuelle reüssierte in Zeiten, als er denjenigen mit Erfolg seine Stimme anbieten konnte, die sich zur eigenen wirksamen gesellschaftlichen Artikulation nicht befähigt hielten. Der Intellektuelle lebte in der Rolle des Sprechers der Sprachlosen auf. Daher ist es sicher kein Zufall, dass der Intellektuelle zeitgleich mit der Idee und den Institutionen (demokratischer) Repräsentation in die Krise geriet. Beide, der intellektuelle Vordenker und die parlamentarische Repräsentativität, benötigen einen Sockel an Unmündigkeit, auch an geringer Komplexität, um legitimerweise existieren und agieren zu können. Je deutlicher und in sich homogener die Interessengegensätze organisiert waren, je klarer die Trennung von oben und unten, der Gegensatz von links und rechts, von konservativ und progressiv ausfiel, je selbstverständlicher die moralische Empörung sprudeln konnte, desto einfacher hatten es parlamentarische Vertretungen, gesellschaftliche Konfliktklagen zu bündeln und zu repräsentieren. Und um so leichter fiel es intellektuellen Kadern, sozial benachteiligten Gruppen die Ursachen für ihr Übel zu deuten, große Ziele vorzugeben, eine leuchtende Zukunft in prallen Wortschöpfungen auszumalen.

Insofern fand das Gros der Intellektuellen ihre historische Rolle als Theoretiker der Arbeiterbewegung, als Hohepriester des Sozialismus. Dafür stehen noch heute Namen wie Ferdinand Lassalle, natürlich Karl Marx, auch Karl Kautsky, Eduard Bernstein, Rosa Luxemburg, zu Zeiten der Weimarer Republik etwa Hermann Heller und Rudolf Hilferding.

Die politischen Intellektuellen drängten in den Jahrzehnten zwischen 1830 und 1940 zu den Ausgebeuteten und Entrechteten. Für diese schrieben sie ihre Pamphlete und Manifeste. Dabei interessierte sich die Mehrheit der intellektuellen Revolutionäre wenig für die Alltagsnöte und Problemlösungen der unteren Schichten. Die authentische Volks- und Arbeiterkultur, mit ihren derben Sitten, oft brutalen Umgangsformen, alkoholgeschwängert, schmutzig, zotig, bereitete ihnen vielmehr Unbehagen, ja: Ekel. Die Intellektuellen dachten, wenn sie die geschichtliche Rolle der Massen priesen, rein hegelianisch, in einer abstrakten, irgendwie messianischen Teleologie.

Dagegen fiel ihnen der praktische Gang schwer. Zog es die Intellektuellen doch einmal in die Politik, dann machte es sie in der Regel unglücklich. Sie zauderten, wenn zupackende Tatkraft gefragt war. Und stets versuchten sie die Vielzahl an Ereignissen und Informationen mühsam in ein theoretisches System einzugliedern und zu bändigen. Sie übersahen dabei im Korsett ihrer konzise zurechtgeschnittenen Lehren regelmäßig politische Handlungsräume, zeigten sich schier unfähig zur taktischen, raffinierten Rochade. Sie konnten nicht schmeicheln, nicht täuschen, nicht camouflieren. Denn das alles wäre Verrat an Weltanschauung und Endziel gewesen.
Indes: Die grausamste Zeit des Intellektuellen kam immer dann, wenn die Bewegung, der er sich verschrieben hatte, Erfolge bilanzierte, wenn sie peu à peu die sozialen Bedingungen verbesserte. Der Intellektuelle brauchte die gewaltige Spannung, den fundamentalen Gegensatz, die tief empfundene Empörung – nur dann machte und verschaffte der flammende Appell, die revolutionäre Pose oder das romantische Pathos Sinn. Der praktische Reformismus entzog dem kritischen Intellektuellen aus der frühen Arbeiterbewegung Zug um Zug den Boden.

Eine zumindest in der Retrospektive etwas merkwürdig überschwängliche Renaissance der Begegnung zwischen Intellektuellen und Sozialdemokratie ereignete sich in den frühen 1970er Jahren. Die ersten Schritte dazu erfolgten bereits im Herbst der Ära Adenauer. Zuvor, in den 1950er Jahren, hatten sich Schriftsteller, Dichter und Regisseure von der Parteipolitik weitgehend ferngehalten. Die früheren politischen Extreme, ob völkisch oder kommunistisch begründet, denen die Sympathien gerade von Intellektuellen zugeflogen waren, hatten sich bekanntlich bis 1945 gründlich diskreditiert. Und so stand Politik ganz generell nicht hoch im Kurs bei den Denkern in der deutschen Gesellschaft. Doch Anfang der 1960er Jahre mehrte sich die Kritik aus dem Feuilleton an der Kanzlerschaft Adenauers, an der Hegemonie der „Schwarzen“, an der „Politik der Restauration“. Aus der Distanz zur strukturellen Staatspartei entwickelte sich peu a peu eine Nähe zur chronischen Oppositionspartei – eben abermals zu den Sozialdemokraten.

Mit Grass für Brandt

Der Mann, der diese Annäherung stärker als jeder andere vorantrieb, war der schnauzbärtige Dichter der „Blechtrommel“, Günter Grass. Seit Mitte der 1960er Jahre rief der gebürtige Danziger bei Bundestagswahlen – politische Skrupel hin, programmatische Differenzen her – in schöner Regelmäßigkeit zum Votum für die SPD auf. Er wurde zu einem nimmermüden Wahlkämpfer, reiste über Wochen, ja Monate landauf, landab, um für die Partei seiner ebenso intimen wie schwierigen Zuneigung die Trommel zu schlagen. Im neuen Bürgertum der Bundesrepublik stieß er damit bald auf beträchtliche Resonanz. Diese Lebenswelt gab sich seinerzeit modisch linksliberal, rümpfte ein wenig blasiert die Nase über die Konservativen und schwärmte für Willy Brandt. Wie Pilze in feucht-warmen Spätsommernächten schossen die sozialdemokratischen Kultur- und Intellektuelleninitiativen überall in der Bundesrepublik aus dem Boden.

Es war gleichsam der politische Frühling der Intellektuellen, eine Zeit des Willy-Enthusiasmus. Von einer Symbiose zwischen Geist und Macht sprach man in jener Pfingstzeit des frühen Sozialliberalismus. Indes war die Euphorie vieler Intellektueller nachgerade irrational. Sie brachte eher eine Belastung denn eine Unterstützung für die Sozialdemokratie. Der idealistische Überschwang der Literaten überfrachtete die Partei mit Erwartungen, die von der Politik nicht zu erfüllen waren, was dann rasch zu Enttäuschung, Frustration, Resignation oder gar Nihilismus führen musste. Umgekehrt hat die oberflächliche Politisierung der Prosa jener Jahre das Niveau der bundesdeutschen Literatur wohl nicht angehoben, da holzschnittartige Parteinahmen und Gesinnungskitsch mitunter mehr zählten als Imagination und sprachliche Ausdruckskraft.

Ohne Spuren in der politischen Landschaft

Allerdings behielten listige Parteimanager, fortan aller Lager, die prominenten Figuren aus den kulturell-kreativen Abteilungen der Gesellschaft weiterhin im Visier. Zumal in Wahlkampfzeiten, so das Kalkül, ließ sich mit Kandidaten, die aufsehenerregende Bücher geschrieben hatten, die im Feuilleton oder Wirtschaftsteil eine meinungsführende Rolle spielen, die als ausgewiesene Experten und Sachverständige weithin geachtet sind, eine hohe Aufmerksamkeit erzielen – und die Aura von Unkonventionalität, Ideenreichtum und externer Inspiration geben.

Ein früher Seiteneinsteiger war der Ordinarius für Grundbau, Tunnelbau und Baubetrieb Hans Leussink als Bundesminister für Bildung und Wissenschaft im ersten Kabinett von Willy Brandt; ebenso der Rechts- und Sozialphilosoph Werner Maihofer, von 1974 bis 1978 Bundesminister des Innern. Auch Ralf Dahrendorf durfte man dazu zählen, im Übergang von den 1960er zu den 1970er Jahren kurzzeitig Landtagsabgeordneter und Bundestagsabgeordneter, dann Staatssekretär der FDP mit unverhohlenen Ambitionen gar auf die Kanzlerschaft. Zu einer Seiteneinsteigerin dieser akademischen Provenienz ließ sich ebenfalls Ursula Lehr rechnen, eine höchst geachtete Professorin für Gerontologie und Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit in der Regierung Kohl von 1988 bis 1991; dann der Professor für Staats- und Verwaltungsrecht Rupert Scholz, der unter Kohl ein Jahr lang das Bundesverteidigungsministerium leitete. Kurzeitig in die Politik und für die PDS in den Bundestag verschlug es Mitte der 1990er Jahre überdies die Schriftsteller Stefan Heym und Gerhard Zwerenz. Traurig endete bekanntlich auch die kurze politische Episode von Paul Kirchhof, den Gerhard Schröder im Wahlkampf 2005 mit einer kalt berechneten anti-intellektuellen Häme gegen den „Professor aus Heidelberg“ ohne die Anstrengung einer ernsthaften steuerpolitischen Auseinandersetzung zur Strecke brachte.

Bemerkenswerte Spuren hat niemand von ihnen in der politischen Landschaft hinterlassen. Dabei waren sie durchaus so, wie sich das Volk seine politischen Repräsentanten regelmäßig wünscht: kluge, gebildete, energische, in ihrem Sachgebiet höchst kompetente Menschen. Mehr noch: Die meisten dieser Quereinsteiger waren wahrscheinlich weit intelligenter als – schätzungsweise – 95 Prozent der Parlamentarier im Deutschen Bundestag. Und doch endete die politische Karriere der Neu-Politiker aus Wissenschaft und Literatur ganz überwiegend deprimierend kläglich. Nur: Warum?

Zweierlei Welten

Nun: Auch Politik ist eine eigene Profession, die man dann doch gründlich gelernt haben muss und deren Code nicht mit dem der Intellektuellen oder Wissenschaftler übereinstimmt. Politiker müssen Meister der Verknüpfung verschiedener Informationen aus mannigfaltigen Bereichen der Gesellschaft mit ihren je eigenen Logiken sein. Sie brauchen dazu Geduld, müssen Leerlauf aushalten, Positionen blitzschnell räumen. Ihnen muss es oft genug genügen, Ergebnisse zu erzielen, die ein beträchtliches Stück vom intellektuellen oder wissenschaftlichen Optimum entfernt liegen. Geistesmenschen ohne alle diese Erfahrungen erleiden in aller Regel einen schlimmen Erlebnisschock, wenn sie mit einem solchen politischen Alltag konfrontiert werden. Nichts geht dort geradlinig, konsistent, intellektuell redlich zu – und kann es auch nicht.

Um es zuzuspitzen: In der Politik geht es um Macht, nicht um Sinnstiftung, nicht um Identitätswahrung, nicht um intellektuelle Brillanz, nicht um programmatische Kohärenz oder gar narrative Originalität. Je komplexer moderne Politik ausfällt, je mehr heterogene Interessen zu vermitteln und Kompromisse auszuhandeln sind, desto mehr stören gar die gedankliche Schärfe und der wertebasierte Rigorismus des Intellektuellen in der Politik.