Editorial
Virus statt Aufbruch
Vierte Coronawelle drängt Wahlkampfthemen in den Hintergrund
Noch ehe sich die neue Bundesregierung überhaupt aufgestellt hat, sind ihre Protagonisten als Krisenmanager gefragt, doch der künftige Kanzler Olaf Scholz ist nahezu unsichtbar.
Die großen Wahlkampfthemen der rot-grün-gelben Koalitionäre wie Klimaschutz, Energie, Bildung, Verringerung sozialer Ungleichheit und innere Sicherheit sind von der Wucht der vierten Coronawelle in den Hintergrund gedrängt worden, was aber nichts daran ändert, dass man sich fragt, woran sich der Fortschritt der selbst ernannten Fortschrittskoalition eigentlich bemisst. In dieser Situation das Ende der pandemischen Lage auszurufen, hat die Skepsis gegenüber der Handlungsfähigkeit der Ampel eher verstärkt. Dazu passt eine aktuelle Umfrage des Instituts für Demoskopie Allensbach, nach der die Bundesbürger zwar eine neue Regierung begrüßen, ihr aber die Lösung der drängendsten Probleme nicht zutrauen. Von einer Aufbruchsstimmung kann demnach keine Rede sein. Zum Auftakt unserer Titelgeschichte schreibt der Politikwissenschaftler und Ungleichheitsforscher Christoph Butterwegge, dass die Ampel personell eher die Spaltung der Gesellschaft widerspiegelt, als glaubwürdig für Integration, Gemeinschaftlichkeit und Solidarität zu stehen. Am Ende der Legislaturperiode werde es eher mehr als weniger sozioökonomische Ungleichheit geben, die zu verringern SPD und Bündnisgrüne ihren Wählern versprochen haben, so seine These.
Auch Sahra Wagenknecht fragt: „Wo ist der Aufbruch?“ Sie schreibt: „Die soziale Kluft wird tiefer, die Stimmung rauer, die Armut wächst“, und überrascht dann mit einer Forderung, die man von einer Linke-Politikerin zuletzt erwarten würde: „Es bräuchte einen starken Staat“. Wie viel Staat zur Bewältigung der Pandemie nötig ist, fragt Udo Di Fabio in seinem Beitrag „Das Virus und wir“. Der Jurist weiß um die gesellschaftliche Sprengkraft einer möglichen Impfpflicht und zeigt, dass es auch mit „sanftem Dirigismus“ klappen könnte.
Seit Helmut Kohls „geistig-moralischer Wende“ und dem „rot-grünen Projekt“ von Gerhard Schröder und Joschka Fischer sei nicht mehr so viel „Pathos im politischen Äther“ gewesen, schreibt Publizist Rainer Hank. Auf der Agenda der Ampel-Koalition stehe nicht weniger als eine „digitale“, eine „grüne“, eine „ökosoziale“ Revolution. Sogar von Transformation ist die Rede. Hank, Kenner der Idee der „großen Transformation“ des ungarischen Intellektuellen Karl Polanyi, unterzieht die Pläne der kommenden Regierung einem historischen Praxistest: Wie viel Polanyi steckt wirklich in der Ampel?
Es war die Nacht vom 14. auf den 15. Juli, in der sich für die Menschen im Ahrtal, in Hagen und in anderen Teilen Deutschlands und Österreichs alles veränderte. Die Wucht des Wassers traf sie völlig unvorbereitet, riss Autos, Häuser, Brücken und Menschen mit. Es ist so traurig wie üblich, dass selbst Katastrophen dieses Ausmaßes zu schnell aus den Medien und dem öffentlichen Bewusstsein verschwinden. Darum haben sich unsere Redakteure Insa Fölster und Florian Quanz auf den Weg nach Hagen und ins Ahrtal gemacht, um sich von Rotariern vor Ort über den Fortgang der Aufräumarbeiten, über die Not der Menschen, aber auch über erste Erfolge rotarischer Hilfsaktionen informieren zu lassen. Die emotionalen Reportagen erzählen nicht nur von Tod und Zerstörung, sondern auch von großer Solidarität, aufopferungsvoller Hingabe, Hoffnung und Trost.
Viel Vergnügen bei der Lektüre wünscht
Björn Lange
Chefredakteur
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