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Was kann Nachbarschaft?
In Zeiten anonymer Wohnformen sehnt sich der Mensch umso mehr nach Nähe. Gemeinschaft wird professionalisiert - zeigt sich aber auch im Ehrenamt
Wenn einem früher beim Kochen etwas fehlte, ging man zum Nachbarn und lieh sich das. Man hatte keine Hemmungen. Der Nachbar auch nicht. Es war ein Geben und Nehmen. Und heute? Mindestens würde man vorher anrufen. Wahrscheinlich würde man gar nicht hingehen: weil man sich nicht kennt, weil man denkt, was könnte der denken. Die Technik hat die Distanz nicht verringert, sondern vergrößert. Aber gibt es nicht eine Sehnsucht nach etwas mehr Gemeinschaft über die Familie hinaus? Gerade weil Familien oft, mindestens räumlich, auseinandergedriftet sind. Und wer kommt dann infrage? Freunde und Nachbarn werden genannt. Nachbarn, die zu Freunden werden. Aber wie anfangen, wie das Eis brechen?
Mir hat ein Gespräch mit jungen Türken geholfen, die damals noch nicht lange in Deutschland lebten. Sie kritisierten das Leben in deutschen Städten als kalt und unpersönlich. Sie hatten Sehnsucht nach ihrer Heimat. Ich war kurz zuvor in türkischen Dörfern gewesen und fragte nach, ob sie dieses Leben unter Aufsicht der Älteren, Familie und Nachbarn, vermissen. Nein, so wollten sie nicht mehr leben, keinesfalls, sagten meine Gesprächspartner. Aber wie denn dann? Wir haben uns an jenem Abend auf die Suche nach einem dritten Weg gemacht: weniger kalt, weniger unpersönlich, weniger unverbindlich auch, aber doch mit den Selbstbestimmungsmöglichkeiten der Moderne. Also irgendwas zwischen zu viel Distanz und zu viel Nähe. Was wir damals nicht bedachten: Technik hat immer zwei Seiten. Was auseinandertreibt, sollte also auch zusammenführen können. Das Beispiel heißt nebenan.de
Die Plattform Nebenan.de
2015 wurde nebenan.de gegründet, eine kostenlose, lokale Plattform zum Austausch mit Nachbarn. Ich habe mit Till Behnke gesprochen, einem der beiden Gründer. Er ist bekannt als langjähriger Geschäftsführer von betterplace.org. Er sagt: „Nebenan.de sorgt dafür, dass nicht noch mehr Lebenszeit ins Digitale abwandert. Es ist ein Werkzeug für die Anbahnung von Kontakten und Dingen, die im echten Leben passieren. Es geht auch um das gemeinsam machen, punktuell sich unterstützen mit ganz praktischen Dingen, also Tauschen, Leihen, Schenken, Verlorenes wiederfinden, und auch Gemeinschaft finden über gemeinsame Interessen, Sport, Spiel, Freizeitgestaltung, oder einfach allgemein neue Kontakte finden.“ Es gebe ein Bedürfnis nach Nähe gerade auch zu Menschen, die nicht der gleichen peer-group angehörten, meint Behnke. Der Umstand, dass man sich mit seinem echten Namen und Adresse (beides wird überprüft) anmeldet, sorge für manierliche Umgangsformen. Kurzfristig ermöglichten Unterstützer den Start, mittelfristig möchte man weder Staats- noch Spendenhilfe, sondern sich im Wesentlichen über lokale informative Werbung finanzieren. Aktuell gibt es bundesweit 2200 aktive Nachbarschaften, davon 1400 mit mehr als 100 Nachbarn, durchschnittlich sind es 250 Nachbarn pro Nachbarschaft. Die Plattform wird wachsen, da bin ich sicher. Aber wird sie das unverbindliche Nebeneinander, durchbrochen von punktueller Vorteilnahme in der Nachbarschaft, durchbrechen?
Jeder braucht eine Frau Soller
Die französische Journalistin Pascale Hugues schreibt in ihrem Buch „Ruhige Straße in guter Wohnlage“ über das gegenwärtige und das vergangene Leben in einer kleinen, aber ehedem feinen Straße in Berlin, der Straße, in der sie nun seit einigen Jahren in einer schönen Gründerzeit-Wohnung lebt. Und da kommt eine Frau Soller vor, die im ersten Stock des Hauses lebte und „unsere gute Fee“ war. Als sie altersbedingt auszieht, „hat sie eine Leere hinterlassen, die unsere kleine Gemeinschaft plötzlich um eines ihrer Hauptglieder amputierte.“ Hugues beschreibt, was diese Frau Soller für ihre Hausgemeinschaft bedeutete. Sie hatte, so erfahren wir, die Schlüssel sämtlicher Hausbewohner und goss bei Abwesenheit der Nachbarn deren Pflanzen, leerte die Briefkästen, fütterte die Katzen, Kanarienvögel, Goldfische und Wüstenmäuse. „Manchmal, wenn man abends nach Hause kam, lächelte sie einem hinter ihren Blumenkästen zu, und dann fühlte man sich von einem sanften Kokon eingehüllt. Ja, Frau Soller war da, man war angekommen, und die Welt war in Ordnung.“
Aber was macht man, wenn man keine Frau Soller mehr hat oder nie hatte? Gleich zwei Regierungskommissionen haben sich mit dieser Frage beschäftigt. Natürlich lautete der Auftrag jeweils imposanter als „Wo eine Frau Soller hernehmen?“, nämlich „Sorge und Mitverantwortung in der Kommune – Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften“ (7. Altenbericht) und „Demographischer Wandel und bürgerschaftliches Engagement: der Beitrag des Engagements zur lokalen Entwicklung“ (2. Engagementbericht). Beide Berichte sind in Kurz- und Langfassung im Netz.
Sorgende Gemeinschaft?
Warum dieser Aufwand an Nachdenken und Recherche führender Wissenschaftler wie Prof. Andreas Kruse (Universität Heidelberg), Prof. Elke Pahl-Weber (TU Berlin) oder Prof. Thomas Klie (Ev. Hochschule Freiburg) und Prof. Michael Hüther (Institut der deutschen Wirtschaft, Köln)?
Die Vision einer funktionierenden Inklusionsgesellschaft in der Form einer aktiven Nachbarschaft, einer sorgenden Gemeinschaft also, treibt Politik und Zivilgesellschaft gleichermaßen voran. Die Hoffnung besteht darin, mehr Lebensqualität bei bewältigbarem finanziellen Aufwand des Staates zu schaffen, in dem eine geradezu wundersame Vermehrung der Frau Sollers gelingt, die den Zaudernden und Zögernden als nachahmenswertes Vorbild erscheint. In der trockenen Fachsprache des Altenberichts liest sich dies so: Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft im Kleinen: „Ausgehend vom Grundsatz der Subsidiarität ist zu fragen, inwieweit es gelingen kann, die Selbstorganisations- und Sorgefähigkeit der ,kleinen Lebenskreise‘ – der Familie, Angehörigen, Nachbarn, Bekannten und darüber hinaus engagierten Frauen und Männer – zu würdigen, zu stärken und in neuen Formen zu initiieren. Professionelle Fachkräfte haben in einem solchen Verständnis eine dienende, unterstützende und anleitende Funktion gegenüber der Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft im Kleinen.“
Diese „Selbstorganisationsfähigkeit der Gesellschaft im Kleinen“ verdeutlicht sich als „stilles Engagement und alltägliche Solidarität“ und dies sei nach der Familie die zweitgrößte Ressource. Davon unterscheidbar ist die formal organisierte Nachbarschaftshilfe. Und hier kann die Kommune etwas tun, indem sie Anlaufpunkte im Quartier schafft und die Vernetzung aller Akteure fördert.
Im Kommissionsdeutsch: „Das Ineinandergreifen von familiären, nachbarschaftlichen, beruflichen, professionellen und freiwilligen Formen der Hilfe – unter Einbeziehung lebensdienlicher Technik – bildet die Grundlage für einen tragfähigen, Teilhabe fördernden und ökonomischen Hilfe-Mix.“
Auf falschem Kurs
Wer die Vision von der Nachbarschaft als sorgende Gemeinschaft umsetzen will, das jedenfalls macht der gerade zitierte, mit Substantiven reichlich gefüllte Satz hinreichend klar, setzt auf enorme Veränderungen. Nehmen wir nur die Kirche(n): Beide, Protestanten und Katholiken, ziehen sich angesichts Mitgliederschwund und insbesondere bei der katholischem Kirche eklatantem Priestermangel trotz aller internen Proteste und Bedenken immer stärker aus der Fläche heraus, machen also gerade das Gegenteil von dem, was in den Kommissionsberichten gefordert wird. Und dass die Vielzahl kirchlicher Institutionen, zu nennen sind insbesondere Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie einerseits und die Kirchengemeinden andererseits, besser zusammenarbeiten sollten, ist eine alte Forderung, deren Berechtigung nicht abnimmt.
Die Organisationslogiken sind wohl zu unterschiedlich. Die einen müssen profitabel sein, die anderen geben Kirchensteuergeld aus. Dabei wäre in der sorgenden Gemeinschaft eine Nachbarschaft der Platz für Nächstenliebe an Leib und Seele. Zentralisierung statt Dezentralisierung, da stehen auch Kommunen nicht nach. Die Wege zum zuständigen Bürgerbüro werden immer länger. Ein Publizist der FAZ forderte angesichts dieser Entwicklung die Umkehr mit der Formulierung: „Im Kirchturmdenken liegt die Zukunft.“ Liest man den Beitrag genau, versteht man, dass es um ein Plädoyer für Wettbewerb zwischen Gemeinden statt Eingemeindungen geht. Gleiches gilt dann auch für die Kirche selber. Das ist kein Hohelied für Engstirnigkeit und Abschottung. Denn man könne doch, meint Autor Manfred Köhler, „vom Kirchturm aus neugierig schauen, wie es die Nachbarn anstellen“.
Flüchtlingshilfe zeigt, dass es geht
Die Hilfe für Flüchtlinge zeigt, was in einer Nachbarschaft möglich ist. Ehrenamtliche Nachbarschaftshilfe für Flüchtlinge „ist nicht länger als bloße Zutat zu verstehen, sondern (…) ein Schlüsselfaktor bei der Bewältigung der dringlichsten Anforderungen.“ Das meint Adalbert Evers, einer der Mitglieder der erwähnten Engagementkommission. Und das, was im Altenbericht noch als Forderung besteht, ist für Evers schon Realität: Die „traditionellen Grenzziehungen zwischen Professionellen und Engagierten verwischen.“ So verlebendigte Nachbarschaften machen das Leben lebenswerter, nicht nur für den, der die Hilfe erhält. Ich zitiere aus einer Mail eines Gutsiebzigers, dem ich zum Geburtstag gratuliert hatte: „Rosina und ich stecken so tief in unserer Flüchtlingsarbeit drin, dass wir kaum Zeit für was anderes aufbringen. Aber es macht uns Freude zu sehen, wie sie Fortschritte machen und eine herzliche Beziehung wächst zu denen, die regelmäßig zum Deutschunterricht in unsere Gemeinde kommen. Und so haben wir eben auch in diesem Kreis meinen Geburtstag gefeiert.“ Was hier geschildert wird, könnte man auch Beheimatungsprozess nennen. „Making Heimat 2“ – so der Name des deutschen Beitrag bei der letztjährigen Architekturbiennale, ist eben nicht nur eine Aufgabe, die Vertriebene bewältigen müssen, sondern auch diejenigen, die schon da sind.
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