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Zivilgesellschaft versus Staat

Forum - Zivilgesellschaft versus Staat
Steine des Anstoßes: Entwurf für den „Bibelturm“ genannten Erweiterungsbau des Mainzer Gutenberg-Museums © Gutenberg-Museum

Was sich aus dem überraschenden Ausgang eines Mainzer Bürgerentscheides lernen lässt

Henning von Vieregge01.06.2018

"Wir müssen die Bürgerinnen und Bürger mitnehmen", ist eine vielgehörte Floskel der Politik. Dass Bürger auch außerhalb von Wahlen auf die Idee kommen könnten, Politiker mitzunehmen, also den Spieß umzudrehen, kommt erst allmählich ins Bewusstsein. Auf Konfliktvermeidung innerhalb der Parteien im Rathaus angelegte Kommunalpolitik gerät – ob zu Recht oder zu Unrecht – in das Blickfeld kritischer Bürger.

Die Instrumente der Infragestellung heißen Bürgerbeteiligung, Bürgerbegehren und Bürgerentscheid. Jüngst lieferte ein Mainzer Bürgerentscheid, mit der ein Beschluss des Stadtrates gekippt wurde, neuen Stoff zu dieser Diskussion. Was die einen als Sieg des Bürgers feiern, ist für die anderen der Graus von gefühlsgesteuertem, sachfremdem Volkshandeln: direkte versus repräsentative Demokratie, Zivilgesellschaft versus Staat.

Die in dieser Frage zuständigen Landesparlamente erhöhen die Erfolgsaussichten und damit die Wahrscheinlichkeit von mehr Bürgerentscheiden (z.B. in Rheinland-Pfalz wurde das Zustimmungsquorum von 30 Prozent in 2010 auf 20 Prozent seit Mitte 2016 auf 15 Prozent abgesenkt). Man erfährt aus dem letzten Bürgerbegehrensbericht der Nichtregierungsorganisation „Mehr Demokratie“, dass es zwischen 1956 und 2015 knapp 7000 Verfahren auf kommunaler Ebene gab, von denen etwas weniger als die Hälfte in einen Bürgerentscheid mündeten.

Wer nun glaubt, links regierte Bundesländer marschierten bei dieser stets umstrittenen Bürgerbeteiligungsmöglichkeit vorneweg, irrt. Der Löwenanteil der Verfahren insgesamt und auch der Bürgerentscheide entfällt ausgerechnet auf die Bundesländer mit der bestflorierenden Wirtschaft, nämlich Bayern, gefolgt von Baden-Württemberg. In Rheinland-Pfalz, so rechneten die Verfasser des Berichts aus, müssten Bürger „durchschnittlich 268 Jahre warten, bis in ihrer Gemeinde ein Bürgerbegehren oder Ratsreferendum stattfindet“.

Die Lehren aus Mainz
In Mainz hat man nun auf einen Schlag beides zum Thema gemacht. Eine Bürgerinitiative hatte Unterschriften gesammelt und die ausreichende Zahl von mindestens fünf Prozent der Wahlberechtigten zusammenbekommen, aber den Abgabetermin (drei Monate zwischen Entscheid und Abgabe) verfehlt. Der Stadtrat verwarf in ein- und derselben Sitzung den Antrag der Bürgerinitiative aus formalen Gründen und entschloss sich zu einem eigenen Bürgerentscheid in einem Überbietungswettbewerb von Ratsmehrheit und Opposition, obwohl sie vorher mit großer Mehrheit genau dieses Bauprojekt „Bibelturm“ beschlossen hatten.

Die Begründung: Ein Bürgerentscheid biete die Chance, das Projekt im Bewusstsein der Mainzer zu verankern und eine solide Basis für die weitere Entwicklung des Gutenberg-Museums zu legen. Man wolle auf diesem Weg Frieden stiften. Beides ist nicht eingetreten: keine Befriedung und keine Legitimation für den Bibelturm. Das Vorhaben „Wir nehmen unsere Bürger mit“ scheiterte krachend. Die Befürworter des Projekts – Teile der Stadtpolitik und der Stadtverwaltung, das Museumsteam, die Gutenberg-Stiftung und eine Bürgerinitiative „Mainz für Gutenberg“, die wochenlang in den Straßen der Stadt Überzeugungsarbeit leisteten – sahen sich düpiert.

Das Ergebnis lieferte somit ein weiteres Beispiel dafür, dass mittels Bürgerentscheid Vorhaben der repräsentativen Politik und der Verwaltung mit großer Mehrheit gestoppt werden können. Dies lädt zu der Erkenntnis ein, dass die Balance zwischen direkter und repräsentativer Demokratie auf lokaler Ebene sorgfältiger Justierung bedarf. Wenn 64.218 Abstimmungsberechtigte (40 Prozent!) zur Wahlurne gehen, mehr als zur zweiten Runde der letzten Oberbürgermeisterwahl in der Stadt, dann ist das erklärungsbedürftig. Wenn dabei 77,3 Prozent gegen eine zuvor vom Stadtparlament mit großer Mehrheit gewünschte Bauabsicht votieren, dann sollte die Stadtspitze die Niederlage eingestehen und echte Lernbereitschaft zeigen.

Das Erstaunliche ist doch: Es ging hier lediglich um einen ersten Bauabschnitt für ein Museum, um einen Betrag von gerade mal fünf Millionen. Der Betrag sollte, so der Siegerentwurf des Hamburger Architektenbüros DFZ, nicht nur zur Teilsanierung des Haupthauses des Gutenberg-Museums genutzt werden, sondern es sollte listigerweise etwas Neues, etwas Vorzeigbares, ein Zeichen für das Museum und die Stadt entstehen: der Bibelturm, platziert in Form einer Patrize auf einem der beliebtesten Plätze von Mainz gegenüber vom Dom gelegen, des Liebfrauenplatzes. Genau das war aber der Casus belli.

Die Befürworter führten mehrere Gründe für das Bauwerk ins Feld. Alle gipfelten in der Hoffnung, mit dem ersten Bauabschnitt endlich den Einstieg in eine über die Stadt hinaus erweiterte Trägerschaft hinzubekommen und Spender und Sponsoren für das deutlich in die Jahre gekommene Museum zu begeistern. So könnte man dem Anspruch, Weltmuseum der Druckkunst zu sein, näherkommen. Der Bürgerentscheid hat dem einen kräftigen, wenn nicht endgültigen Stoß versetzt. 

Der verkannte Bürgerwille
Die Frage drängt sich auf, wie beim Bürgerentscheid die hohe Beteiligung von 40 Prozent und die außerordentlich hohe Ablehnungsquote von nahezu 80 Prozent zu erklären sind und warum die Stadtpolitik sich so verschätzte. Stimmt es, was die FAZ vermutet? „Offenkundig sind Parteien immer weniger in der Lage, Wünsche, Ansichten und Kritik der Bürger zu hören, geschweige denn diese so zu kanalisieren, dass Entscheidungen von einer breiten Basis getragen werden.“

Da es zum Mainzer Bürgerentscheid keine Begleitforschung gab, ist man bei der Suche nach Gründen der Ablehnung auf die Erfahrungen aus den Bürgergesprä- chen angewiesen. Es rächte sich, dass der Bürgerentscheid zwar von der Stadtpolitik gewollt wurde, die Stadt aber gleichwohl unvorbereitet traf. Es gab keine Strategie, wie den Einwänden der Bürgerinitiative, die seit Monaten Unterschriften gesammelt hatte, begegnet werden sollte. Kommunale Kommunikation ist in solcher Auseinandersetzung übrigens weitgehend entbehrlich: zwar korrekt, aber immer zu spät, selten empfängerbezogen, von „Framing“ keine Spur.

Die vom Bürgerentscheid überraschten Befürworter innerhalb der kulturaffinen Bürgerschaft mussten sich erst zusammenfinden und verloren wertvolle Zeit. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich viele Bürger bereits unumkehrbar festgelegt. Selbst bei kulturaffinen Menschen stieß das Bibelturm-Projekt nicht selten auf Skepsis und Ablehnung, wie bei einem Vortrag vor rotarischen Freunden zu bemerken war. Das gerenderte Anschauungsmaterial der Architekten, für die Fachleute der Jury geschaffen, das in den ersten Wochen der Auseinandersetzung kursierte, hat großen, offenbar irreversiblen Schaden angerichtet.

Der Bibelturm als hässliches Monstrum auf einem der schönsten Plätze der Stadt, dazu noch weitgehend nutzlos („umbautes Treppenhaus“), so lauteten die Bedenken, und dabei fiel schon auf, dass Argumentation durch Emotion überrollt wurde. Da es gute Argumente für das Projekt des Turms am Rande des Liebfrauenplatzes mit unterirdischer Anbindung an das Museum gab, konzentrierten sich die Befürworter auf diesen Ansatz. Dabei blieben aber die anderen Ablehnungsgründe weitgehend unbeackert.

Man muss sich klarmachen: Bürgerentscheide sind eine Art Ventil. Dabei hätte man mit mindestens zwei weiteren Ablehnungsgründen rechnen können, ja rechnen müssen: Denkzettel und Tradition. Den Traditionalisten ist jede Veränderung ein Gräuel, insbesondere wenn sie im Gewand der Modernität daherkommt. Alle diese Quellen einer Ablehnung, die beim einzelnen Bürger in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen latent vorhanden sind und nur geschickt ausgelöst werden müssen, dürften bei jedem Bürgerentscheid eine Rolle spielen. 

Heimatlosigkeit und Misstrauen
Der Zeitgeist ist dabei in zwei Ausprägungen zurzeit besonders wirksam. Es gibt ein, wie der Spiegel unlängst in einer Titelgeschichte herausstellte, „grassierendes Gefühl von Heimatlosigkeit“. Das hat verschiedene Gründe, von Globalisierung bis Flüchtlingskrise. In dieser Situation ist das Bedürfnis nach einer Geborgenheit stiftenden Heimat ausgeprägt und der Ärger über die Führungsgruppe „bessergestellter Kosmopoliten“, wie sie die Soziologin Cornelia Koppetsch im Spiegel beschreibt, die von all dem persönlich nicht betroffen sind und dafür umso vehementer die Moralkeule schwingen, groß.

Ihr Kollege Thomas Druyen nannte in einem ZEIT-Interview die Deutschen veränderungsfähig, aber nicht veränderungsbereit. Dass ohnehin schwer durchsetzbare moderne Architektur es in so einer kollektiven Gefühlslage noch schwerer als üblicherweise hat, dürfte einleuchten. Auch besteht die Furcht, dass bei wachsenden Städten wie Mainz jede Lücke, auch Plätze, die geliebt werden, zugebaut werden sollen. Ein weiteres Ablehnungsmotiv ist das fehlende Vertrauen in insbesondere die finanzielle Seriosität öffentlichen Handelns. Dieses grundsätzliche Misstrauen von Bürgern gegenüber staatlichen Akteuren dürfte in Mainz besonders ausgeprägt sein.

Es gibt eine Lücke zwischen einer großen Liebe zur Stadt, in jeder Fastnacht hundertmal besungen, und dem Misstrauen gegenüber der Stadtpolitik: Der Bürger verteidigt seine Heimatstadt gegenüber den von ihm gewählten Repräsentanten. Er wählt sie, aber er vertraut ihnen nicht. Die Mainzer wissen um die gewaltige Verschuldung der Stadt von über einer Milliarde, für die, teilweise zu Unrecht, fast ausschließlich kommunale Fehler (Misswirtschaft und Größenwahn) vergangener Jahrzehnte verantwortlich gemacht wird.

So eine Last trägt sich nicht durch einige Jahre besseren Regierens ab, zumal wenn kein Plan vorgelegt wird, der die Stadt aus den Fesseln ihrer Aufsichtsbehörde befreit. Die engagierte Arbeit der Bürgerinitiative für den Bibelturm war mit ihrer sachbezogenen Kommunikation nicht nur chancenlos, sondern sie hat ganz gegen ihren Willen die Wahlbeteiligung über das notwendige Quorum von 15 Prozent für Ja oder Nein hochgetrieben. 

Erkenntnisse
Was folgt? Notwendig ist eine Diskussion über Bürgerentscheide in Abwägung mit Bürgerbeteiligung. Und zwar grundsätzlich und bundesweit. Bürgerentscheide erzwingen ein Ja oder ein Nein, sie lassen weder Aushandlung noch Kompromiss zu. Sie führen zu Unfrieden, nicht zu Befriedung. Sie verschärfen die Auseinandersetzung und führen nicht selten, so in Mainz, zu verbrannter Erde. Anders ist es bei der Bürgerbeteiligung, für die es freilich eindeutiger Regeln bedarf, an die sich dann auch alle Beteiligten zu halten haben.

Kommt es doch zu Bürgerentscheiden, ist es ungemein wichtig, vor der Ausrufung eine zwingend vorzuschreibende Verhandlungszeit zu setzen. Hier könnte man von den Tarifpartnern lernen, die vor Streik und Aussperrung immer Verhandlungen führen. Auch sollte Verpflichtung sein, allen Bürgern die offizielle und neutrale Information über den Streitfall ins Haus zu schicken, wie es in einigen Landesgesetzen schon Vorschrift ist. Zivilgesellschaft, wie sie sich in Mainz gezeigt hat, ist für jede herkömmliche Politik gewöhnungsbedürftig. Sie liefert nicht automatisch bessere Ergebnisse, aber auch nicht automatisch schlechtere.

Sie ist als Herausforderung wertvoll, wenn sie von vornherein in die Entscheidungen der repräsentativen Demokratie eingepreist wird oder, wenn dies nicht geschehen ist, im Nachhinein intensiv und glaubwürdig einbezogen wird. Repräsentative Demokratie, die dies nicht berücksichtigt, wird wie in Mainz noch manch unangenehme Überraschung erleiden. Wundern kann sich dann aber niemand mehr.

Ob das Gutenberg-Museum, um dessen Zukunft es ja eigentlich ging, noch hoffen darf, ist ausgerechnet im Jubiläumsjahr des Namensgebers fraglich geworden. Das weitaus trostloseste Szenario ist leider nicht das unwahrscheinlichste: Stadt und Land, beide klamm und hauptsächlich von der gleichen Partei regiert, werden so lange Hoffnung verbreiten, bis in zwei, drei Jahren die Kommunal- und die OB-Wahlen vorbei sind. Dann wird das Schild „Weltmuseum“ abgehängt.