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Entscheider-Interview

„Zu viel Wahlkampf, zu wenig Handeln“

Entscheider-Interview - „Zu viel Wahlkampf, zu wenig Handeln“
Kein Plüschsofa, keine hochwertige Kunst im Büro des Chefs der Bonner Virologie. Die Farbtupfer in Streecks Büro bilden die hängenden Masken. © Sarah Larissa Heuser

Der Virologe Hendrik Streeck sagt, was er denkt. Damit polarisiert er. Was er anders machen würde, und warum er ein neues Medikament für einen gefährlichen „Gamechanger“ im Kampf gegen Corona hält, verrät er im Interview.

Björn Lange01.02.2022

Wie eine eigene kleine Stadt thront das Universitätsklinikum auf dem Bonner Venusberg. Hat man Gebäude 63 gefunden, ist man nur noch ein Stockwerk und etwas Wartezeit von einem der derzeit gefragtesten Deutschen entfernt. Im Büro von Hendrik Streeck hängen Dutzende Coronamasken in allen Größen, Formen und Farben girlandenartig an der Wand. Streeck nimmt seinen weißen Kittel vom Konferenztisch, wirft ihn auf ein Schränkchen, dann geht’s los.

Herr Streeck, Delta ist längst nicht besiegt, da rollt Omikron über uns hinweg. War nach den Winterferien mit einem so großen Anstieg der Inzidenzen zu rechnen?

Ja, damit war zu rechnen, und zwar aus drei Gründen. Erstens kam der Anstieg, weil wir nach den Ferien wieder routinemäßig mehr getestet haben – etwa in Schulen. Zweitens, weil sich die Menschen über die Feiertage getroffen und gegenseitig infiziert haben. Und drittens haben wir Virologen ohnehin mit einer starken Welle gerechnet, weil Omikron ganz sicher die dominierende Variante werden würde. Das muss nicht so bleiben, es werden neue kommen, aber wir dürfen uns davon nicht überraschen lassen. Wie sich das genau auf die Krankenhäuser und Intensivstationen auswirken wird, können wir noch nicht sagen.

Weshalb ist die Datenlage so unübersichtlich?

Der Fehler war von Anfang an, dass wir uns keine gute Datenlage verschafft haben. Wir müssten Stichproben machen, eine echte epidemiologische Inzidenzbestimmung. Die Engländer testen einmal im Monat 150.000 Menschen unabhängig vom Impfstatus, erheben die Berufsgruppen und so weiter. Dadurch erhalten sie eine sehr genaue Datenlage. Die Protokolle, um solche Studien durchzuführen, liegen längst beim RKI in der Schublade. Niemand weiß, warum wir sie nicht umsetzen. Jetzt haben wir das Problem, dass wir von den Testungen und Testkapazitäten abhängig sind. In Deutschland werden pro Woche etwa 1,4 Millionen Menschen mittels PCR getestet, von denen sind durchschnittlich 16 Prozent positiv. Über die Weihnachtsfeiertage gab es pro Woche nur etwa 900.000 Tests, aber der Anteil der positiv Getesteten ist direkt auf 22 Prozent gestiegen. Ist das jetzt die Omikron-Welle oder wurden verhältnismäßig mehr Symptomatische getestet? Solche Fragen kann man dann nicht genau beantworten.

Wenn darüber gesprochen wird, wie Omikron in den Griff zu bekommen ist, heißt es immer: Impfen, Maske tragen und 2G- oder 3G-Regel durchsetzen. Ich stelle aber fest, dass immer weniger Menschen bereit sind, Masken zu tragen, zum Beispiel Jugendliche in öffentlichen Verkehrsmitteln. Dort wird auch kaum kontrolliert. Bahnen und Züge sind praktisch rollende Petrischalen, in denen offenbar 0G gilt. 

Das Problem ist größer und betrifft die Kommunikation. Einerseits arbeitet man immer schlechter mit Verboten anstatt mit Geboten, und zweitens hätte man die Menschen aufklären müssen in dem Sinne, dass diese Pandemie ein Langstreckenlauf ist. Da braucht es keinen erhobenen Zeigefinger, sondern „Enabling-Strategien“ und Kampagnen, wie wir sie aus der HIV-Bekämpfung kennen. Jeder kennt doch den Werbespruch: „Rita, was kosten die Kondome?“ Wenn man aber stattdessen sagt, wir müssen „noch ein paar Monate die Pobacken zusammenkneifen“, dann ist das einfach falsch. So geht man nicht durch eine Pandemie. In Schweden, wo fraglos auch Fehler gemacht wurden, haben die Leute verstanden, dass das Virus Teil des Lebens ist. Maßnahmen wurden ergriffen, eingehalten und bleiben bestehen. Daher spielt es im Alltag auch keine so eine große Rolle mehr wie bei uns. Es wäre ja schon ein Fortschritt, wenn wir einen Sommer- und Wintermodus in Deutschland hätten, ähnlich wie das Wechseln von Sommer- auf Winterreifen. 

Seit Dezember sind Sie Mitglied im neu geschaffenen Expertenrat der Bundesregierung. Wie läuft so eine Sitzung ab, wer redet wie viel, wer ist wann dabei? 

Der Vorsitzende Heyo Kroemer führt durch die Sitzungen, aber über alle anderen Interna haben wir Verschwiegenheit vereinbart. Das ist auch gut so, denn wir wollen konstruktiv miteinander arbeiten und keine ungewollten Schlagzeilen produzieren.

Was sind Ihre Forderungen an die Politik?

Als Wissenschaftler kann man beraten und sagen, was man für richtig hält, aber die Politik entscheidet und muss abwägen. Da spielen oft noch andere Faktoren eine Rolle als für uns Mediziner. Aber drei Bereiche müssen ganz dringend besser werden: Erstens die Datenlage, das ist sehr einfach umsetzbar. Zweitens die Digitalisierung zur Verknüpfung der Gesundheitsämter. Das bedarf eines Kraftaktes, muss aber endlich gemacht werden. Und drittens muss das Gesundheitssystem insbesondere im Bereich der Pflege krisenresistenter werden. Die harte Arbeit muss eigentlich beginnen, wenn die Fallzahlen wieder niedrig sind. Während der Ebbe muss man sich auf die Flut vorbereiten. 

Das ist ein Vorwurf an die Politik.

Ich will es nicht als einen Vorwurf verstanden wissen, sondern als Aufruf, die Probleme zu lösen. Aber wir hatten im letzten Sommer zu viel Wahlkampf und zu wenig Handeln.

Es gibt einen alten, viel zitierten Satz von Ihnen: „Wir werden lernen müssen, mit dem Virus zu leben“. Jetzt, eineinhalb Jahre später, deutet vieles darauf hin, dass Sie damals recht hatten. Wird das Virus durch Omikron endemisch?

Sars-CoV-2 wird endemisch, ja, aber ob es Omikron wird, kann ich noch nicht sagen. Die gute Nachricht ist: Omikron bleibt eher im oberen Atemwegsbereich und dringt nicht so tief in die Lunge, was zu leichteren Verläufen führt. Wohin es sich entwickelt, wissen wir noch nicht. Entscheidend sind die virale Fitness und die Übertragungsfähigkeit der Virusvariante.

Was muss jetzt passieren, damit das Virus endemisch wird, damit es nur noch eine von vielen Viruserkrankungen ist?

Von der Familie der Coronaviren können sieben den Menschen infizieren, vier davon sind bereits bei uns heimisch. Das jüngste Virus, OC43, ist wahrscheinlich 1895 von der Kuh auf den Menschen übergegangen und hat wohl mindestens eine Million Menschen weltweit das Leben gekostet. Was unausweichlich passieren wird, ist der Kontakt mit dem Menschen. Klar ist: Irgendwann werden wir alle einmal Kontakt mit dem Virus machen, und dann ist es natürlich besser, wenn wir geimpft in diesen Kampf gehen.

Ich frage bewusst provokant: Das lässt sich doch wunderbar beschleunigen, wenn wir nun den Freedom Day ausrufen und eine Durchseuchung forcieren, oder?

Aus meiner Sicht darf es keine aktive Durchseuchung geben. Das wäre unethisch. Wir müssen die schützen, die das Risiko für einen schweren Verlauf haben. Das beste, was jeder einzelne tun kann, ist sich impfen zu lassen. Mit der Zeit passt sich das Virus an uns an, aber wir passen uns auch an das Virus an – und am besten tolerieren kann man es durch die Impfung. Wir hätten viel zu viele Todesfälle gerade im Bereich der Ungeimpften, wenn wir eine Durchseuchung planen würden.

Und trotzdem sind Sie gegen eine allgemeine Impfpflicht. 

Wir können weder die Schutzwirkung noch -dauer vor kommenden Varianten abschätzen. Sie sehen ja, dass auch die Stiko (Ständige Impfkommission, d. Red.) ihre Empfehlungen ständig anpassen muss. Die Grundvoraussetzung für eine Impfpflicht ist daher in meinen Augen nicht gegeben, allein schon, weil sich Sars-CoV-2-Erreger nicht ausrotten lassen, anders als zum Beispiel bei Polio. Außerdem: Wenn jemand seinen Impfpass verliert, lässt sich am Blut nicht der Impfstatus bestimmen, wenn wir den Impfstatus nicht mit dem Genesenenstatus gleichsetzen – der administrative Aufwand wäre insgesamt viel zu hoch.

Haben Sie das Gefühl, dass die öffentliche Debatte um die Coronamaßnahmen aus dem Ruder gelaufen ist?

Die Politik hat es bis jetzt nicht wirklich geschafft, die Leute auf diesen Langstreckenlauf mitzunehmen. Sie sagt einerseits: Jetzt noch kurz durchhalten, dann ist es geschafft, baut dann aber immer wieder eine neue Drohkulisse auf. Das kommt in der Gesellschaft nicht an. Wir brauchen einen konstanten Modus Operandi, mit dem wir in der Gesellschaft leben und planen können. Wir müssen wissen, wie gut einzelne Maßnahmen funktionieren. Im Einzelhandel von 3G auf 2G zu gehen, hatte wahrscheinlich keinen nennenswerten Effekt, aber dazu liegt evidenzbasiert nichts vor. Hingegen wird das Maskentragen in der Omikronwelle noch viel wichtiger als bisher, weil die Generationszeit der Variante verkürzt ist. Das jetzt genau zu erklären, würde aber das Interview sprengen.

Weil Sie weniger alarmistisch auftreten als etwa Christian Drosten und Lothar Wieler, werfen Ihnen manche Menschen eine Nähe zu Querdenkern vor: Sie würden das Virus verharmlosen. 

Sie hören es selbst, das ist schlichtweg Unsinn. Ich habe als Arzt gelernt, dass man die Menschen mitnehmen muss. Ich weise daher lieber konstant auf die wichtigsten Maßnahmen hin, vergesse aber nicht die anderen Bereiche des Lebens. Gesundheit ist nicht nur der Schutz vor einem Virus. Das Leben geht ja weiter. In der Humanmedizin müssen wir die Menschen überzeugen, aus sich selbst heraus das richtige zu tun.

Warum wird denn diese Debatte so hochideologisch geführt, ohne dass Argumente der Gegenseite überhaupt noch gehört werden?

Ich glaube, wir haben uns zu früh darin gefangen, dass wir dieses Virus wieder komplett aus der Gesellschaft vertreiben können. Und die Hilflosigkeit, am Anfang der Pandemie weder ein Medikament noch eine Impfung zu haben, hat zu extremen Emotionen und dadurch letztlich zu Ideologien geführt. Hätten wir von Anfang an gesagt, dass es ab jetzt zum Leben dazugehört, wären wir pragmatischer damit umgegangen. Denn – und da wiederhole ich mich gerne – eine dauerhafte, absolute Kontrolle des Virus ist zwar eine schöne Idee, aber schlichtweg nicht mehr möglich.

Es hat Drohungen gegen Sie gegeben. Können Sie sich in Bonn noch frei bewegen?

Ich werde erkannt und angesprochen, aber die allermeisten Menschen sind sehr nett zu mir. Ja, es gab Morddrohungen, und in Berlin wurde ich von einem Querdenker einmal heftig angepöbelt. Aber es hat meine Freiheit in der Bewegung und im Denken nicht beeinträchtigt.

Was halten Sie von der Corona-Tablette Paxlovid, die Ende letzten Jahres in den USA eine Notfallzulassung bekommen hat?

Das wird spannend werden, Paxlovid kann meiner Meinung nach wirklich ein Gamechanger sein. Es setzt die schweren Verläufe um bis zu 90 Prozent herunter. Wenn aber nicht verantwortungsvoll damit umgegangen wird, wird das Virus mutieren und auch dagegen resistent werden. Sie müssen wissen: Im Rachen eines Infizierten sind geschätzt einige 100 Millionen Viren zu finden, die nicht selten kleinere Mutationen haben. Und dann wird eine gegen Paxlovid resistente Variante herauswachsen, ganz nach dem Prinzip des survival of the fittest. Das ist nichts anderes als Evolution.

Was hat Sie dazu bewogen, Rotarier zu werden?

Es war 2015 als ich Mitglied im RC Essen-Centennial wurde. Ich war zuvor für längere Zeit im Ausland und hatte dieses Netzwerk in verschiedenen Ländern erlebt. Zwei Dinge haben mir sehr gefallen, erstens das Knüpfen neuer Kontakte, und zweitens etwas für einen guten Zweck zu tun. Seit 2020 bin ich Mitglied im RC Bonn. 

Wie erleben Sie das Clubleben, erhalten Sie nur Zustimmung oder gibt es auch Gegenwind?

Ich diskutiere mit Clubfreunden, aber aggressive Töne gab es eigentlich nur einmal. Bei einem Vortrag vor einem Starnberger Club fing ein Zuhörer an, mich wüst zu kritisieren. Ich habe ihn dann erkannt, weil er mich zuvor schon auf Twitter beleidigt hatte. Ich habe ihn zur Rede gestellt und gefragt, ob er sein Verhalten mit den rotarischen Grundwerten vereinbaren kann. Er hat sich daraufhin vor versammeltem Plenum entschuldigt, und später haben wir sogar noch einmal telefoniert.


Zur Person:

Prof. Hendrik Streeck (RC Bonn) ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn und Mitglied im neu geschaffenen Corona-Expertenrat der Bundesregierung

ukbonn.de/virologie

Björn Lange
Björn Lange arbeitete seit April 2019 zunächst als stellvertretender Chefredakteur des Magazins im Rotary Verlag. Seit Juli 2020 ist er Chefredakteur des Rotary Magazins. Zuvor war er unter anderem Redaktionsleiter des Pressedienstleisters Rheinland Presse Service in Bonn und des B2B-Wirtschaftsmagazins inside B in Offenburg.