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Buch des Monats

Abrechnung und spätes Leid

 Die BBC hatte für das Projekt mehrere deutsche Emigranten geprüft, Thomas Mann war der geeignetste.

Matthias Schütt01.12.2015

Den Titel ihrer Studie fand Sonja Valentin in einem Brief, in dem Thomas Mann 1943 über seine Arbeit und seine Stimmung berichtete: Mit der rechten Hand schreibe er am Doktor Faustus, mit der linken aber „werfe ich unermüdlich Steine in Hitlers Fenster“. Da war der große deutsche Schriftsteller und Nobelpreisträger bereits 68 Jahre alt  – und dann dieses Bild eines aufgebrachtenSteinewerfers.

 

Man muss die Ausnahmesituation sehen, in der sich Thomas Mann befand. Er musste 1933 Deutschland verlassen und fand in den USA zwar ein sicheres Exil, aber nicht die Muße, an seinem literarischen Werk im gewohnten Stil weiterzuarbeiten. Die Tagespolitik verlangte seinen Einsatz und Mann folgte. Immer mehr wurde er als Stimme eines besseren Deutschlands in Anspruch genommen. „Kaiser aller deutschen Emigranten“, nannte ihn Ludwig Marcuse, der deutsche Schriftsteller und Philosoph mit US-Pass. Aus diesem Renommee erklärt sich,
warum die britische Regierung damals versuchte, Mann für monatliche Radioansprachen über BBC an die Deutschen zu gewinnen. Das Angebot war verlockend, weil es Mann das geeignete Ventil bot, seinem abgrundtiefen Hass auf Hitler und dessen Entourage Luft zu machen. Das zeigen die vielen  Kraftausdrücke, mit denen er sie belegt: Kulturhenker, Mordgesindel, blutiger Schmierentrupp. Die BBC hatte für das Projekt mehrere prominente deutsche Emigranten in den USA in Erwägung gezogen, Marlene Dietrich zum Beispiel, auch Albert Einstein. Mann jedoch erwies sich als die beste Lösung, denn die NS-Propaganda konnte ihn schlecht diskreditieren, zu angesehen war er noch bei vielen Deutschen, zudem weder Jude noch Kommunist. Das hinderte den NS-Chefpropagandisten Joseph Goebbels jedoch nicht daran, wutschäumend auf Radioansprachen des „verkommenen und wurmstichigen Literaten“, so Goebbels, zu reagieren.

 

Angriff von Kollegen
Von Oktober 1940 bis November 1945 lieferte Mann 59 Texte für fünf- bis achtminütige Ansprachen, von 1941 sprach er auch selbst über die Lage an den Fronten und die NS-Verbrechen. Grundtenor war, dass Hitler den Krieg nicht gewinnen werde und die Deutschen deshalb das Regime je früher desto besser stürzen müssten. In der Analyse wird deutlich, wie sich Manns Einstellung zu seinen Landsleuten allmählich änderte: von anteilnehmender Sympathie bis zur Verbitterung darüber, dass es keine Einsicht in das Unrecht gebe und keine Taten folgten. Nach Kriegsende wuchs Manns Verbitterung noch. Autoren, die Hitler verabscheut, aber Deutschland nicht verlassen hatten, sprachen Mann das Recht ab, über die Deutschen zu urteilen, denn er habe „aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie“ nur zugeschaut, so der Vorwurf. Diese Gehässigkeit war mit ein Grund dafür, dass Mann nach Deutschland nur noch besuchsweise zurückkehrte.

Matthias Schütt

Matthias Schütt ist selbständiger Journalist und Lektor. Von 1994 bis 2008 war er Mitglied der Redaktion des Rotary Magazins, die letzten sieben Jahre als verantwortlicher Redakteur. Seither ist er rotarischer Korrespondent des Rotary Magazins und seit 2006 außerdem Distriktberichterstatter für den Distrikt 1940.