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Renaissance der LP

Die Welt ist eine Vinyl-Scheibe

Nach Jahrzehnten der nahezu vollständigen Digitalisierung des öffentlichen Lebens wächst vielerorts wieder die Sehnsucht nach bewehrten analogen Dingen. Zum Beispiel nach Büchern mit Leinen und Lesebändchen oder nach Schallplatten mit ihrem unverwechselbaren Klang. Die Beiträge des Mai-Titelthemas zeigen, dass dieser Trend keinsfalls nur in den Medien
stattfindet, sondern in zahlreichen Bereichen unseres Alltags –
bis hin zur Politik.

Martin Hoffmeister15.05.2014

Das Versprechen der digitalen Welt ist so vielgesichtig wie atemberaubend, die Totalität ihrer vermeintlichen Vorteile scheint erdrückend. Positiv konnotierte Signal-Termini aus dem Marketing-Jargon wie „Verfügbarkeit“, „Effizienz“, „Geschwindigkeit“, „grenzenlose Kommunikation“– und selbst „Kontrolle“– prägen und leiten dabei einen Diskurs, der sich zunehmend zu verselbständigen scheint: „Digital“ ist zu einem Zauberwort für Milliarden geworden. Im sinn(en)frei-autistischen Spiel mit den „unendlichen Möglichkeiten“ des digitalen Kosmos dominieren Gier und Omnipotenz-Phantasien ebenso wie Bedenkenlosigkeit und narzisstische Demenz. Frei von Verantwortlichkeit und – vorderhand – ohne Nebenwirkungen, wird ausgekostet, was die Realität nicht bereithält. Wo aber digitale Simulations-Welten zum Korrektiv für mentale und emotionale Vakua avancieren, ist das Elend programmiert. Schein-Identität verliert sich in Sucht oder hysterischer Selbstbezogenheit. Wer noch bei Sinnen ist, lebt analog – Recherche ausgenommen.

Bereits seit digitalen Früh-Zeiten lassen sich deren implizite Chancen und Gefahren beispielhaft an Umgang und Geschäft mit der Musik ausmachen. Im Verein mit einem steten Abgleich analoger und digitaler Verfahrensweisen konnte zudem sukzessiv das Nutzerverhalten im Umgang mit den unterschiedlichen, zum Teil diametralen, Welten untersucht werden. Am Ende einer (noch lange nicht abgeschlossenen) Entwicklung steht die wenig überraschende Erkenntnis: Der kontinuierliche digitale Umgang mit Musik desavouiert nicht allein das Bewusstsein für deren Wert, auch der Faktor Digitalität selbst unterminiert deren natürliches Distinktionspotenzial.

Unwahrscheinlich jedoch bleibt die Annahme, dass der kritische Digital-Diskurs auch nur geringste Auswirkungen auf den Gang der Dinge haben könnte. Denn weit mehr als nur zu perfektionierende Option ist Digitalität bereits Gesetz. Einlassungen zum Thema fungieren vor diesem Hintergrund allenthalben als Korrektiv.

EIN BEGEHRTES KULT-OBJEKT

Durchaus bemerkenswert im Kontext der Digital-Analog-Diskussion sind die jährlichen Statistiken des Bundesverbandes Musikindustrie. So weist die letzte veröffentlichte Erhebung aus dem Jahr 2013 im Digital-Segment (Download, Streaming) einen Umsatzanteil von 22,6, im Bereich physische Tonträger (DVD, Blu-ray, Vinyl, CDs) einen Anteil von 77,4 Prozent aus. Innerhalb des Segments physische Tonträger dominiert mit 69 Prozent des Umsatzes weiterhin die CD; auf die nach und nach wieder Marktanteile generierenden Vinyl-Alben entfallen bereits zwei Prozent; nicht berücksichtigt dabei sind die kräftigen Umsätze des Second-Hand-Handels. Wer angesichts solcher Zahlen allerdings eine ablehnende Haltung des Kunden gegenüber den einschlägigen digitalen Angeboten vermutet, irrt, denn die Zahl der legalen Downloads steigt kontinuierlich. Bereits heute sagen daher Insider den Tod der CD in spätestens zehn Jahren voraus. Als erste Vorboten gelten globale Überkapazitäten, massiver Preisverfall und die Schließung von CD-Werken.

Für Analytiker des Betriebs nicht ganz unerwartet korreliert das langsame Verschwinden der Compact Disc mit einer nachhaltigen Renaissance der Langspielplatte. Vor gut 30 Jahren im Zuge der CD-Euphorie schon vermeintlich „auf ewig begraben“, gilt sie zahllosen Musikliebhabern heute wieder als begehrtes Kultobjekt. Bereits vor zwei Jahren gingen weltweit rund acht Millionen LPs über die Ladentheken – Tendenz steigend. Die Gründe dafür dürften so vielschichtig wie komplex sein. Eines allerdings sind sie gewiss nicht: indifferenter Sentimentalität geschuldet. Der Vinyl-Käufer ist Kenner und/oder Freak. Bei ihm genießt Musik, welcher Provenienz auch immer, höchste Priorität.

Rückblende: Erinnern wir uns zunächst an die Zeiten des Übergangs, an die jahrelange Ablösungsphase der LP durch die CD. Was für ein Versprechen erwartete uns damals! Ein neues, trendiges, zumal platzsparendes Medium mit, so schien es, endlosen Möglichkeiten der Klangoptimierung und -verfeinerung, unempfindlich zudem gegen Beschädigungen jeglicher Art. Man konnte sich nicht satthören an gewonnener Tiefenschärfe und -luzidität, an der auratisch-suggestiven, nicht zuletzt störungsfreien Klangopulenz. Auch die effizientere Handhabe sprach für die CD: kein lästiges Seitenwechseln mehr, längere Spieldauer, Track-Navigation auf Knopfdruck. Stets verdrängt wurde auf Grund der sinnfälligen Vorteile der polierten Scheibe die Frage nach der Haltbarkeit.

Heute, rund drei Jahrzehnte später, müssen wir konstatieren, dass sich die Beschichtungen der ersten CD-Generation langsam abschälen. Wissenschaftler behaupten zudem, dass CDs jüngeren Datums, je nach Fertigungsqualität, bereits nach sechs bis 15 Jahren unbrauchbar zu werden drohen. Mag die Tatsache für den Konsumenten schnellebiger Pop-Produkte eher marginal sein, so gereicht sie den Sammlern von Klassik- oder Jazz-Alben zum langfristigen Ärgernis. Apologeten der Langspielplatte quittieren solches Malheur zumeist mit mildem Lächeln. Für sie steht ohnehin fest, dass allein die Scheibe aus Polyvinylchlorid die Zeiten überdauern wird.

RITUAL UN MAGIE

Als Übergangsmedium zwischen LP und digitalem Premiumprodukt (Download, Streaming) erlangte die CD nur für wenige Jahre Kultstatus. Schnell gerieten die Vorteile des Mediums zur Selbstverständlichkeit. Business as usual bestimmte eine Szene, die das Produkt CD akzeptierte, ohne es zu lieben. Wie auch sollte ein Stück Plastik nachdrücklich Emotionen generieren. Mehr noch: Die aseptische Neutralität der Verpackung übertrug sich subkutan auf die Rezeption der Musik, die wiederum ihrerseits vermittels fokussierter Strahlkraft eine Klangwelt simulierte, die allein das Aufnahmestudio ermöglicht. Dass in digitalen Welten die Unterschiede zwischen Authentizität, Simulation und Fake sich bisweilen überlagern und allenfalls gradueller Natur sind, zählt mittlerweile zu den Binsenweisheiten des Betriebs. Dass aber mit seiner akustischen Aufrüstung ein rapider Werteverfall des Mediums CD einherging, war nicht abzusehen. Der mit der Digital-Analog-Dialektik eingehend vertraute Musikliebhaber aus den 50plus-Generationen ist eine beneidenswerte Figur. Mit zahllosen Anderen seines Alters teilt er ein schwindendes Wissen um Musik und Musikerfahrung, das weiterzutragen sich lohnte. Erinnern wir uns: Zu den vorzüglichen Regeln nachhaltigen Musikgenusses in der Jugend gehörte die unbedingte Einhaltung diverser Rituale, die vor, während und nach dem Niedersenken des Tonarmes zum Tragen kamen. Am Beginn stand das nicht selten Minuten andauernde Entlangstreifen am LP-Schrank des väterlichen Arbeitszimmers, verbunden mit dem (zumeist umständlichen) Herausziehen einzelner Scheiben. Es folgten gründliche Begutachtung, besonders der Interpreten-Photos, schließlich die Entscheidung: Ob für Stefan Askenases Aufnahme der Chopin-Nocturnes, Guldas Lesart zweier später Mozart-Konzerte, spanische Lieder des 19. Jahrhunderts mit der Caballe oder „Bill Evans Trio live in Montreux“.

Drehte das Vinyl endlich und hatte sich der Tonarm – unter genauer Beobachtung – langsam gesenkt, kam die zweite, entscheidende Inspizienz des Covers: Interpreten, Aufnahmeort und -datum, Werkeinführungen. Erinnerlich sind vor allem einige Portraits, die bis heute faszinieren, Bilder etwa von Arthur Rubinstein, gehüllt in einen weinroten Satin-Hausmantel mit qualmender Zigarre vor einem geöffneten Balkon-Austritt, von Karajan mit geschlossenen Augen dirigierend, Frenis und Pavarottis Umarmung, John Coltrane mit Saxophon und Zigarette. Musik brennt sich unauslöschlich in den Kopf, wenn das Hören an solche Rituale geknüpft, wenn sie konnotiert ist mit Menschen, Räumen, Düften, Bildern oder Emotionen. Gekoppelt an Parallel-Erfahrungen schreibt sie sich umso intensiver der Erinnerung ein. Nicht zuletzt der ‚physische’ Umgang mit dem Medium lässt die Musik näher an uns heranrücken. Zunächst ist es reines Vergnügen, dann Verstehen, später die Sehnsucht, die uns freundlich aber entschieden zur Wiederholung des Genusses nötigen. Wer Musik digital per Mausklick nur abruft, bringt sich um das Wesentliche: Das Bemühen um Musik. Wer sich hingegen der Anstrengung unterzieht, weiß, dass sich die Magie der Klänge bereits vor dem ersten Ton einstellt.

EIN PARADIES FÜR 120 000 PFUND

Epilog: Auf der Suche nach Jazz-(LP-)Preziosen aus den 50er und 60er Jahren fand ich mich unlängst in einem der zahllosen einschlägigen Second-Hand-Shops nahe Londons St. Martin's Lane wieder. Der kleine, etwas schäbige Eckladen hatte mich bereits mehrfach durch sein ausgesuchtes Angebot beeindruckt und schien auch bei diesem London-Besuch ein Versprechen auf einige glückselige Momente zu sein. Außer mir befanden sich der Eigentümer und ein älterer, stilvoll gekleideter Japaner im bemessenen Raum zwischen dicht bestückten Kästen und Regalen. Um mich vor größeren Ausgaben zu schützen, hatte ich bereits auf dem Weg von Leicester Square entschieden, das Geschäft nach dem Erwerb einer (!) LP umgehend zu verlassen. Die Wahl fiel auf die Duo-Produktion ‚‚Goin’ Home“ mit Art Pepper und George Cables – nicht eben aus den 50ern, aber (zumindest) als CD nicht verfügbar. Bereits in Gedanken an einen nachfolgenden Termin und mit dem ausgepreisten Betrag in der Hand bat ich den Verkäufer um eine Tüte. Zu meiner Verwunderung und sichtbar irritiert, bat mich der Mann seinerseits, die Platte wieder an ihren Platz zu stellen, mit dem Hinweis, sie sei bereits verkauft. Konsterniert, nicht aber entmutigt, fiel meine Ersatz-Wahl auf „I Love The Life I Live“ mit dem „Mose Allison Trio“ von 1960. Mit deutlich gequältem Lächeln gab mir der Verkäufer zu verstehen, dass auch diese LP, wie übrigens der ganze Ladenbestand, bereits verkauft sei – und zwar an den kleinen, älteren Japaner, der ihm soeben einen Scheck überreicht hätte. Bestürzt, aber mehr noch beeindruckt und voller Empathie für den wissenden Kunden verließ ich den Laden in Richtung Covent Garden. Der Mann hatte für 120.000 Pfund erstanden, was eigentlich unbezahlbar ist: ein (analoges) Paradies.

Martin Hoffmeister

Martin Hoffmeister publiziert regelmäßig in nationalen und internationalen Magazinen und Zeitungen. Als Redakteur im Kulturressort des MDR-Hörfunk beobachtet er die Musik- und Literaturszene seit mittlerweile drei Jahrzehnten. Im Rotary Magazin empfiehlt er Neuerscheinungen aus dem Kulturleben und Fundstücke von seinen Reisen.

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