Peters Lebensart
Lieber platt als hohl? Eine kleine Austernkunde
Mit Weißwein, Champagner oder Guinness: über ein archaisches Vergnügen
Schlürfen und die leeren Schalen einfach an den Strand werfen, wo die Austernhalden von der Atlantikbrandung stets aufs Neue aufgewühlt werden. Was für ein archaisches Vergnügen! So dürften schon die Urfranzosen in der Steinzeit ihre „huîtres“ genossen haben. So macht man es heute noch hinter dem Dutzend windschief gezimmerter Austernbuden am Ende der Corniche von Cancale und holt sich dazu ein Glas Weißwein aus einem der nahen Fischbistrots. Der bretonische Küstenort zwischen Saint-Malo und der Bucht von Mont-Saint-Michel ist gerade wegen seiner rauen Ursprünglichkeit das Mekka in Sachen Austern. Hier lässt sich im Stehen direkt beim Muschelfischer die gesamte Bandbreite dieser Schalentiere verkosten – von der platten, faustgroßen 30-jährigen Pferdefußauster „pied de cheval“ bis zum Dutzend Mini-Austern Nr. 6 – authentischer geht’s nicht.
Natürlich kann man Austern auch zelebrieren, beim Markthallenfrühstück zwischen Biarritz, Berlin und Boulogne, gereicht mit Zitronenscheibchen oder Bordelaiser Schalottenvinaigrette. Oder in ein Pariser Restaurant gehen, wo sie vom Écailler mit spitzem Messer geöffnet und auf einem „plateau de fruits de mer“ serviert werden. Dazu trinkt man kanonisch frischen, leichten Muscadet oder Champagner, der durch seine zarte Perlage das ebenfalls zarte Aroma des iodierten Muschelfleischs nicht beeinträchtigt, sondern umschmeichelt.
Die Nobilitierung der Auster setzt im 18. Jahrhundert ein – das berühmte Gemälde „Austernfrühstück“ von Jean-François de Troy im Schloss Chantilly zeigt elegante Adlige, die Unmengen roher Austern mit Schaumwein schlürfen. Die fast durchsichtigen Mollusken galten nicht nur als Aphrodisiakum, sondern trafen auch perfekt den Zeitgeist der Aufklärung, der leichteste Genüsse propagierte. Da es nicht ungewöhnlich war, 100 Austern auf einmal zu vertilgen, waren die französischen Bänke bald dermaßen überfischt, dass eine königliche Ordre 1759 die Monate Mai bis Oktober zu Schonzeiten erklärte. Also geht unsere Volksweisheit, auf den Genuss von Austern in Monaten mit R zu verzichten, auf staatlichen Umweltschutz zurück.
Es ist schwierig geworden, dem Originalgeschmack der Sorten, die kulinarische Influencer wie Ludwig XIV. oder Balzac hinunterschlangen, nachzuspüren. Denn die nussige, aber empfindliche Europäische Auster wurde schon im 19. Jahrhundert dezimiert und ist spätestens seit den 1970ern durch Krankheiten und Wasserverschmutzung weitgehend ausgestorben.
Ob Sylter Royal, die mit der Initiale G lasergravierten Gillardeaux oder die luxuriösen fetten Tsarskaya, die in Cancale veredelt werden – sie alle gehören zu den „huîtres creuses“. Mit diesem Begriff werden die in der europäischen Austernzucht mittlerweile zu 99 Prozent verwendeten resistenteren Pazifischen Felsaustern bezeichnet. Denn ihre Schale ist „hohler“ und birgt damit mehr Muschelfleisch als die flacheren kleineren europäischen „huîtres plates“.
Nur eine Handvoll Rückzugsgebiete dieser langsam wachsenden Varietät gibt es noch: Die Bucht von Bélon ist auch bei uns durch die Bretagne-Krimis von JeanLuc Bannalec bekannt geworden – im Restaurant Chez Jacky mitten zwischen von grünen Algen überwucherten Austernkörben Muscheln und Meeresfrüchte zu speisen gehört zu den kulinarischen Schlüsselerlebnissen, die Frankreich zu bieten hat. Da kann als atmosphärisches Kontrastprogramm nur noch ein Pint Guinness mithalten, das man an einem nebligen Spätvormittag an der irischen Westküste zu wilden Galway Oysters, Sodabrot und Salzbutter kippt.
Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.
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