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Peters Lebensart

Lizenz zum Schlemmen – Grünkohlb(r)äuche

Peters Lebensart - Lizenz zum Schlemmen – Grünkohlb(r)äuche
© Jessine Hein/Illustratoren

Die harte Landarbeit vergangener Tage erforderte deftige Kost. Heute ist Grünkohl zu einem Prestige-Essen gehobener Kreise avanciert, längst nicht nur im Norden.

Peter Peter01.01.2023

Kulinarische Überfremdung? Nein, die Rede ist hier nicht von Pizza und Sushi, von Döner und Zaziki. Sondern von riesigen kräuseligen Gemüsestauden, die immer häufiger auf dem Viktualienmarkt auftauchen. Grünkohl, eigentlich eine plattdeutsche Domäne, ist zu einem Prestige-Essen der Münchner Schickeria geworden. Das angebliche Viehfutter (tatsächlich wurden harte Teile des Langen Braunkohls früher an Tiere verfüttert) verdrängt Angestammtes wie Wirsinggemüse oder Sauerkraut. Auch die Traditionsläden der Metzgerzeile machen mit und haben sich mit Grützwurst für Neugierige südlich des Grünkohläquators eingedeckt. Ein gastronomischer Beleg dafür, dass das Bayernherz, wenn es sich ausnahmsweise einmal nach anderen deutschen Landstrichen sehnt, den hanseatischen Norden bevorzugt.

Das heißt noch lange nicht, dass man im Süden an das Original herankommt. Denn die wahren Hochburgen dieser üppigen Sättigung in kalten Wintertagen sind Bremen und das flache niedersächische Umland, vor allem Oldenburg in Oldenburg. Das könnte damit zu tun haben, dass die Winter etwas milder und nicht ganz so verschneit sind. Ideale Bedingungen für Brassica-Sorten, die bis zu 2,30 Meter Höhe erreichen können und apart auch als Lippische Palme bezeichnet werden. Auf jeden Fall erfüllt Grünkohl das Postulat regionales und saisonales Produkt. Die winterharte Pflanze entwickelt durch die ersehnten ersten Nachtfröste süßliche Noten und versorgt ihre Liebhaber vom Buß- und Bettag bis zum Gründonnerstag mit Vitaminen. Jedenfalls theoretisch. Denn das lange Schmoren in Speck oder Schmalz, Beilagen wie karamellisierte Kartoffeln, Kastanien, Pinkel, Kassler, fette schweinerne Brägenwurst oder Leberknipp entführen die Teilnehmer solcher archaischer Festmähler in eine Epoche harter Landarbeit, die schwere Kost brauchte. Kein Wunder, dass eine stilechte Kohlfahrt mit einer ausgelassenen Winterwanderung zu einem Dorfkrug beginnt, wobei vorsorglich in einem Bollerwagen ein Vorrat an Kornflaschen mitgeführt wird. Meist haben die Teilnehmer Bändchen mit Schnapsgläschen um den Hals hängen.

Es geht auch leichter als bei diesen tendenziell männlichen Schlemmerriten. Der Blick über die Landesgrenzen hat Grünkohl zu einer begehrten Hipsterspeise gemacht. Webseiten schwärmen vom hohen Eiweiß- und Vitamingehalt roher Salate oder Smoothies aus dem amerikanisch als „kale“ bezeichneten Kreuzblütengewächs. Toskanische Ribollita-Suppe mit der Variante Schwarzkohl zeigt vegetarische Alternativen auf, portugiesischer mit „grelos“ überbackener Bacalhau fischige.

Zurück zur heimatlichen Interpretation. Soziologisch amüsiert mich die Sitte, den ausdauerndsten Esser zum Kohlkönig zu wählen. Die Bremer, die wie Hamburger Hanseaten seit Kaisers Zeiten voll Kaufmannsstolz keinen Orden annehmen, persiflieren hier höfisches Gepränge mit Kohlperücken und einer Schweinekinnlade als Ordenskette. Grünkohl schmeckt trotzdem der Spitzenpolitik. Nicht nur bei der Bremer Schaffermahlzeit, die den selten gewordenen Braunkohl serviert, sondern vor allem beim Defftig Ollnborger Gröönkohl-Äten, das 1956 in Bonn begründet wurde und seit 1998 in der Niedersächsischen Landesvertretung in Berlin stattfindet. Seither wurden alle Bundeskanzler einschließlich Frau Merkel zur Kohlmajestät gekrönt. Nur der Hamburger Hanseat Olaf Scholz war noch nicht dran. Dafür hat ein Lübecker, der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, schon 2019/2020 die Oldenburger Grünkohlesserinnen und Kohlesser regiert.

Peter Peter

Peter Peter ist deutscher Journalist und Autor für die Themen Kulinarik und Reise. Er lehrt Gastrosophie an der Universität Salzburg und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Kulinaristik. Außerdem schreibt er als Restaurantkritiker der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und ist Autor einiger ausgezeichneter Kulturgeschichten der europäischen Küche. Im Rotary Magazin thematisiert er jeden Monat Trends rund um gutes Essen und feine Küche.

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